Sonntag, 29. August 2010

Refeudalisierung

Der Begriff „Refeudalisierung“ wird auf Jürgen Habermas' Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas [1962]1990) zurückgeführt.

In seiner gesellschaftstheoretischen Zwischenbilanz zur Krise des Finanzmarktkapitalismus greift Sighard Neckel (2010, S. 7.) den Begriff auf, um Prozesse der Refeudalisierung auf dreierlei Ebenen zu analysieren:

1) in normativer Hinsicht, d. h. in Bezug auf die Rechtfertigungsordnung des Finanzmarktkapitalismus;

2) in Hinsicht auf die Organisation wirtschaftlicher Prozesse und den Status der auf den Finanzmärkten vorherrschenden ökonomischen Führungsgruppen;

3) in Bezug auf die Sozialstruktur, d. h. einer Verwandlung sozialer Ungleichheit, welche deutliche Anzeichen von Feudalisierung erkennen lässt.

1) In normativer Hinsicht, d. h. in Bezug auf die Rechtfertigungsordnung des Finanzmarktkapitalismus: Die Refeudalisierung der Werte – von Leistung zu Erfolg
Der „Geist des Kapitalismus“ bzw. die protestantische Ethik (Max Weber), verbunden mit Bedürfnisaufschub und langfristiger Orientierung (Sparkapitalismus) wurde im Finanzkapitalismus ersetzt durch die Kultur des Erfolgs um jeden Preis, verbunden mit persönlichem Status und demonstrativem Konsum. Der Begriff der Leistungsgesellschaft wird ad acta gelegt. Man spricht lieber von „Selbstverantwortung“ und „Eigeninitiative“ und meint damit den persönlichen Leistungen nicht zurechenbaren unmittelbaren direkten Erfolg. Gehälter und Boni seien Preise, die durch Knappheit bestimmt seien, nicht durch Leistungsgerechtigkeit (also wie bei einem Popstar). Damit sind Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft Gegensätze geworden; sie bedingen sich nicht mehr gegenseitig. In der Bewunderung des demonstrativ zur Schau gestellten Luxuskonsums treffen sich hingegen die Wertvorstellungen der untersten und der obersten Schichten.

2) In Hinblick auf die Organisation wirtschaftlicher Prozesse und den Status der auf den Finanzmärkten vorherrschenden ökonomischen Führungsgruppen: Refeudalisierung der Wirtschaftsorganisation – die Millionenfürsten
Die moderne Gesellschaft kennt ihrem Selbstverständnis nach keine Standesprivilegien. Statusunterschiede seien ausschließlich durch Leistungsunterschiede legitimiert. Die neue Managerklasse, die für den Shareholder Value die notwendigen Dienstleistungen erbringt, wird dafür mit „fiskalischen Pfründen“ entgolten; die Bonuszahlungen kommen faktisch dem Bezug von Renten gleich. Ganz anders als der schumpetersche Unternehmer, der „Pionier sozialer und politischer Revolutionen“, agiert der moderne Manager als ein „Eigentümer ohne Risiko“, der keine Schranken in der Verfolgung seiner eigennützigen Ziele kennt und erbarmungslos die Moral Hazards ausnutzt. Wie die Abfolge der Börsencrashs zeigt, kann die Finanzwirtschaft fast reibungslos ihre eigenen Risiken externalisieren, denn die Bankenrettungen bezahlen ja die Steuerbürger – der Neoliberalismus lebt auf Kosten staatlich garantierter Sicherheit.

3) In Bezug auf die Sozialstruktur, d. h. einer Verwandlung sozialer Ungleichheit, welche deutliche Anzeichen von Feudalisierung erkennen lässt.
Die geläufige Annahme, dass dem Kapitalismus die bürgerliche Lebensform entspricht, wird durch die Globalisierung der Märkte zunehmend widerlegt. Der refeudalisierte Kapitalismus der Gegenwart ist am besten als eine Paradoxie kapitalistischer Modernisierung zu begreifen. Denn derselbe Prozess wirtschaftlicher Entwicklung, der den Reichtum immens anwachsen lässt, schließt immer größere Teile der Bevölkerung von diesem aus. Damit werden soziale Formen der Verteilung von Einkommen, Macht und Anerkennung etabliert, die den ursprünglich vormodernen Mustern der sozialen Ordnung ähneln. Dies zeigt sich in der Privatisierung vormals öffentlicher Güter, in der Vermarktlichung von ökonomischen Beziehungen und der oligopolistischen Vermachtung von Unternehmensstrukturen. Wie in Habermas‘ Analyse der bürgerlichen Öffentlichkeit ist ein Zusammenbruch der Trennung der Sphären von Staat und bürgerlicher Gesellschaft festzustellen. In der Krise zeigt sich die Verstaatlichung der Ökonomie, der die Ökonomisierung des Staates im Gleichschritt begleitet.

Die Refeudalisierung der Sozialstruktur zeigt sich in der Wiederkehr der sozialen Dichotomien. Charakteristisch hierfür ist die Polarisierung und Verfestigung der Unterschiede zwischen entrückten Eliten und dem Prekariat der untersten Schichten. Der Zunahme des Armutsrisikos entspricht die Abnahme sozialer Aufstiegsmobilität. In der obersten Schicht herrscht Abschottung durch Selbstrekrutierung, insbesondere durch die soziale Chancenungleichheit im Bildungswesen. Soziale Ungleichheit bedeutet heutzutage nicht mehr ein System nach Status und Leistung differenzierter sozialer Schichtung, sondern eine Dichotomie von Inklusion und Exklusion, das zu einem stationären Modell mutiert ist. Wenig verwunderlich ist dann, dass der aristokratische Lebensstil in den Medien wieder als zeitgemäß hingestellt wird.

Quelle:

Sighard Neckel: Refeudalisierung der Ökonomie: Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft. MPIfG Working Paper 10 /6. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln. Juli 2010. ISSN 1864-4341 (Print); ISSN 1864-4333 (Internet).
http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp10-6.pdf

Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990 [1962].

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