Sonntag, 29. August 2010

Refeudalisierung

Der Begriff „Refeudalisierung“ wird auf Jürgen Habermas' Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas [1962]1990) zurückgeführt.

In seiner gesellschaftstheoretischen Zwischenbilanz zur Krise des Finanzmarktkapitalismus greift Sighard Neckel (2010, S. 7.) den Begriff auf, um Prozesse der Refeudalisierung auf dreierlei Ebenen zu analysieren:

1) in normativer Hinsicht, d. h. in Bezug auf die Rechtfertigungsordnung des Finanzmarktkapitalismus;

2) in Hinsicht auf die Organisation wirtschaftlicher Prozesse und den Status der auf den Finanzmärkten vorherrschenden ökonomischen Führungsgruppen;

3) in Bezug auf die Sozialstruktur, d. h. einer Verwandlung sozialer Ungleichheit, welche deutliche Anzeichen von Feudalisierung erkennen lässt.

1) In normativer Hinsicht, d. h. in Bezug auf die Rechtfertigungsordnung des Finanzmarktkapitalismus: Die Refeudalisierung der Werte – von Leistung zu Erfolg
Der „Geist des Kapitalismus“ bzw. die protestantische Ethik (Max Weber), verbunden mit Bedürfnisaufschub und langfristiger Orientierung (Sparkapitalismus) wurde im Finanzkapitalismus ersetzt durch die Kultur des Erfolgs um jeden Preis, verbunden mit persönlichem Status und demonstrativem Konsum. Der Begriff der Leistungsgesellschaft wird ad acta gelegt. Man spricht lieber von „Selbstverantwortung“ und „Eigeninitiative“ und meint damit den persönlichen Leistungen nicht zurechenbaren unmittelbaren direkten Erfolg. Gehälter und Boni seien Preise, die durch Knappheit bestimmt seien, nicht durch Leistungsgerechtigkeit (also wie bei einem Popstar). Damit sind Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft Gegensätze geworden; sie bedingen sich nicht mehr gegenseitig. In der Bewunderung des demonstrativ zur Schau gestellten Luxuskonsums treffen sich hingegen die Wertvorstellungen der untersten und der obersten Schichten.

2) In Hinblick auf die Organisation wirtschaftlicher Prozesse und den Status der auf den Finanzmärkten vorherrschenden ökonomischen Führungsgruppen: Refeudalisierung der Wirtschaftsorganisation – die Millionenfürsten
Die moderne Gesellschaft kennt ihrem Selbstverständnis nach keine Standesprivilegien. Statusunterschiede seien ausschließlich durch Leistungsunterschiede legitimiert. Die neue Managerklasse, die für den Shareholder Value die notwendigen Dienstleistungen erbringt, wird dafür mit „fiskalischen Pfründen“ entgolten; die Bonuszahlungen kommen faktisch dem Bezug von Renten gleich. Ganz anders als der schumpetersche Unternehmer, der „Pionier sozialer und politischer Revolutionen“, agiert der moderne Manager als ein „Eigentümer ohne Risiko“, der keine Schranken in der Verfolgung seiner eigennützigen Ziele kennt und erbarmungslos die Moral Hazards ausnutzt. Wie die Abfolge der Börsencrashs zeigt, kann die Finanzwirtschaft fast reibungslos ihre eigenen Risiken externalisieren, denn die Bankenrettungen bezahlen ja die Steuerbürger – der Neoliberalismus lebt auf Kosten staatlich garantierter Sicherheit.

3) In Bezug auf die Sozialstruktur, d. h. einer Verwandlung sozialer Ungleichheit, welche deutliche Anzeichen von Feudalisierung erkennen lässt.
Die geläufige Annahme, dass dem Kapitalismus die bürgerliche Lebensform entspricht, wird durch die Globalisierung der Märkte zunehmend widerlegt. Der refeudalisierte Kapitalismus der Gegenwart ist am besten als eine Paradoxie kapitalistischer Modernisierung zu begreifen. Denn derselbe Prozess wirtschaftlicher Entwicklung, der den Reichtum immens anwachsen lässt, schließt immer größere Teile der Bevölkerung von diesem aus. Damit werden soziale Formen der Verteilung von Einkommen, Macht und Anerkennung etabliert, die den ursprünglich vormodernen Mustern der sozialen Ordnung ähneln. Dies zeigt sich in der Privatisierung vormals öffentlicher Güter, in der Vermarktlichung von ökonomischen Beziehungen und der oligopolistischen Vermachtung von Unternehmensstrukturen. Wie in Habermas‘ Analyse der bürgerlichen Öffentlichkeit ist ein Zusammenbruch der Trennung der Sphären von Staat und bürgerlicher Gesellschaft festzustellen. In der Krise zeigt sich die Verstaatlichung der Ökonomie, der die Ökonomisierung des Staates im Gleichschritt begleitet.

Die Refeudalisierung der Sozialstruktur zeigt sich in der Wiederkehr der sozialen Dichotomien. Charakteristisch hierfür ist die Polarisierung und Verfestigung der Unterschiede zwischen entrückten Eliten und dem Prekariat der untersten Schichten. Der Zunahme des Armutsrisikos entspricht die Abnahme sozialer Aufstiegsmobilität. In der obersten Schicht herrscht Abschottung durch Selbstrekrutierung, insbesondere durch die soziale Chancenungleichheit im Bildungswesen. Soziale Ungleichheit bedeutet heutzutage nicht mehr ein System nach Status und Leistung differenzierter sozialer Schichtung, sondern eine Dichotomie von Inklusion und Exklusion, das zu einem stationären Modell mutiert ist. Wenig verwunderlich ist dann, dass der aristokratische Lebensstil in den Medien wieder als zeitgemäß hingestellt wird.

Quelle:

Sighard Neckel: Refeudalisierung der Ökonomie: Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft. MPIfG Working Paper 10 /6. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln. Juli 2010. ISSN 1864-4341 (Print); ISSN 1864-4333 (Internet).
http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp10-6.pdf

Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990 [1962].

Mittwoch, 25. August 2010

Wer nichts hat, dem wird genommen, ...

Laut einer Analyse durch das Institute for Fiscal Studies (IFS) werden die Ärmsten der Armen, insbesondere Familien mit Kindern, die größten Verlierer der von der britischen Regierung angekündigten Austeritätspolitik sein.

"The IFS said the poorest 10% of families would lose over 5% of their income as a result of the budget compared with a loss of less than 1% for non-pensioner households without children in the richest 10% of households. It added that the budget contrasted with the "progressive" plans for 2010-14 inherited from Labour, under which the richest 10% of households bore the brunt of the cuts."


Regierungssprecher bestreiten dieses Analyseergebnis und beantworten die Untersuchungsergebnisse mit Wunschdenken, frei nach dem Motto: Wo es den Reichen gut geht, fallen immer ein paar Brosamen mehr für die Armen ab.

Es wird angenommen, dass das equalities impact assessment, wie durch den Equalities Act von 2010 gefordert, von der Regierung nicht durchgeführt wurde. Es stehen demzufolge Klagen gegen das verkündete Staatsbudget zu erwarten.

Larry Elliott, Vikram Dodd:
Poor families bear brunt of coalition's austerity drive.
George Osborne's budget described as 'clearly regressive' by respected fiscal thinktank.
The Guardian, Wednesday 25 August 2010.

Dienstag, 24. August 2010

Moody’s: Blues in Muddy Waters

Die europäische Austeritätspolitik ist eine Gefahr für das Wirtschaftswachstum. Die Gefahren der Deflation werden dadurch nicht gebannt, noch werden die strukturellen Probleme der Vergreisung der Bevölkerung gelöst.

Moody's met en garde contre les politiques de rigueur. Le Monde, 23.08.2010

Anstatt eine Politik der wirtschaftlichen Vernunft zu verfolgen, erliegt die deutsche Regierung der Versuchung, auf billige Demagogie zu machen. Gefordert ist, defizitären EU-Mitgliedsländern aus ihrer strukturellen Falle herauszuhelfen und ihre Wirtschaft anzukurbeln. Stattdessen wird auf Wählerfang gesetzt und diesen Staaten die Pistole der Austeritätspolitik auf die Brust gesetzt, was das Elend nur weiter verschlimmern kann. Indiz für diese politische Demagogie ist der Ausdruck „PIGS“. Die Abkürzung, wen wundert es, hat es bereits zu einem Wikipedia-Stichwortartikel gebracht, obwohl dieser Ausdruck aus dem Börsianerslang nichts weiter als eine Länderliste mit der negativen Konnotation „Staatsverschuldung“ darstellt und eher in ein Slang-Wörterbuch als eine Enzyklopädie gehört. „Kasino-Kapitalismus“ hingegen, über welchen Begriff es wissenschaftliche Werke von Susan Strange, Michel Albert und zuletzt auch Hans-Werner Sinn gibt und der auf einen Vergleich von J. M. Keynes zurückgeht, hat es erst in einer formidablen Löschdebatte geschafft, vorerst noch in der Enzyklopädie drinzubleiben. Wiederum ein Indiz für die politische Schlagseite dieser ach so neutralen Allerwelts-Enzyklopädie.

Das aktuelle Politikversagen erinnert an den Versailler Friedensvertrag, wo gegen alle wirtschaftliche Vernunft Deutschland von den Siegermächten, ebenfalls aus rein demagogisch-wahlpolitischen Erwägungen gezwungen wurde, überhöhte Reparationsforderungen zu akzeptieren. Gleichzeitig hatte man, ohne die wirtschaftlichen Verflechtungen der deutschen Volkswirtschaft mit denjenigen des übrigen Europas in Rechnung zu stellen, es politisch unmöglich gemacht, dass Deutschland diese Wirtschaftsleistungen überhaupt erbringen konnte. J. M. Keynes war einer der ersten, der öffentlich in seinem Buch diesen politischen Schwachsinn angeprangert hatte. – Wo stehen wir heute mit Europa?!

John Maynard Keynes: Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles. Aus dem Englischen von M. J. Bonn und C. Brinkmann. Hrg. und mit einer Einleitung von Dorothea Hauser. Berenberg, Berlin 1. Aufl. Sept. 2006. ISBN 3-937834-12-5. 13-978-3-937834-12-2.

The boom, not the slump, is the right time for austerity at the Treasury.

- John Maynard Keynes (1937) Collected Writings

Sonntag, 22. August 2010

Holzwege, die Arbeitswerttheorie loszuwerden, ohne sie wissenschaftlich prüfen zu müssen

„Marx hatte seine Krisentheorie aus Grundannahmen der Arbeitswerttheorie abgeleitet. Ich kenne keine empirischen Untersuchungen des gegenwärtigen Wirtschaftssystems, die auf einer Anwendung der Arbeitswerttheorie beruht. Deren Geltung müssen wir dahingestellt sein lassen.“

So Jürgen Habermas in: Die Linke antwortet Jürgen Habermas (Frankfurt am Main 1968, S. 9f.).

Voilà! Eine derart eingeforderte empirische Untersuchung liegt vor:

Nils Fröhlich: Die Aktualität der Arbeitswerttheorie. Theoretische und empirische Aspekte. Metropolis Verlag Marburg 2009. ISBN 978-3-89518-756-8.

Bezeichnend für Kritiker der AWT, die mit der Empirie kommen, ist deren naiv-positivistisch verkürzte Auffassung von empirischer Forschung und Prüfung einer Theorie. Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Kritiker, die dieses Argument verwenden, mit solch einem Geschäft noch wenig am Hut hatten und deswegen teilweise ganz verwegene Ansichten darüber hegen.

Das Fehlen empirischer Überprüfung wird dazu meist in Zusammenhang mit konkreten Fragen der sozio-ökonomischen Forschung eingewendet, so Habermas in Zusammenhang mit der Erklärung des Auftretens von Krisen im Kapitalismus. Im Hintergrund mag oft eine instrumentale Auffassung von Theorie stehen, die mit einer pragmatistischen Wahrheitstheorie zwanglos kombiniert werden könnte. Auf diese Weise ist auch der häufige Gebrauch des Adjektivs „aktuell“ zu verstehen, nämlich dass bei gegebenem Anlass (einer Krise oder eines Regierungswechsels, … o. ä. ) die ökonomische Theorie danach ausgesucht werden sollte, ob sie zur jeweiligen Gelegenheit passe. „Aktuell“ heißt hier so viel wie „brauchbar“, zumindest so viel wie „theoretisch interessant“ oder gar „politisch verwendbar“, sei es zur Legitimation, sei es zur Ableitung von Handlungsanweisungen.

Im gleichen Zusammenhang taucht dann aber noch ein ganz anderes Argument auf, nicht das der empirischen Prüfung (wobei empirische Prüfbarkeit stillschweigend vorausgesetzt wird), sondern die zum Argument erhobene Frage, ob Marx zu seiner Erkenntnisabsicht bzw. zu seinen politischen Absichten (etwa der Kapitalismuskritik) die AWT unbedingt benötigt hätte. So hatte Joan Robinson 1942 die Früchte ihres ersten „Kapital“-Studiums so resümiert:
„As I see it, the conflict between Volume I and Volume III is a conflict between mysticism and common sense. In volume III common sense triumphs but must still pay lip-service to mysticism in its verbal formulations.” – “I hope that it will become clear, in the following pages, that no point of substance in Marx’ argument depends upon the labour theory of value. Voltaire remarked that it is possible to kill a flock of sheep by witchcraft if you give them plenty of arsenic at the same time. The sheep, in this figure, may well stand for the complacent apologists of capitalism; Marx’s penetrating insight and bitter hatred of oppression supply the arsenic, while the labour theory of value provide the incantations.”

(Joan Robinson: An Essay on Marxian Economics. London, Basingstoke 2. Aufl. 1966 (zuerst 1942).
Hiermit geht Robinson sogar soweit, dass sie den Gehalt der AWT ganz auf das politisch wertende Element bzw. die Sozialkritik reduziert.

Nicht ganz so weit ist Karl Popper gegangen; er verfolgte indes dieselbe Tendenz, die Funktion des theoretischen Kerns der AWT möglichst herunterzuspielen oder zu schmälern zu suchen:
„Ich halte die Werttheorie Marxens, die gewöhnlich bei den Marxisten sowie bei den Gegnern des Marxismus als ein Eckstein des marxistischen Gebäudes gilt, für einen ziemlich unwichtigen Bestandteil (…) … würde sich die Position des Marxismus nur verbessern, wenn man zeigen könnte, daß sich seine entscheidenden historisch-politischen Lehren völlig unabhängig von einer so umstrittenen Theorie entwickeln lassen.“

(Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II: Falsche Propheten – Hegel, Marx und die Folgen. 6. Aufl. München 1980 (zuerst 1944). S. 209)

Ein naiver Positivismus Poppers zeigt sich bei dieser Gelegenheit schon darin, dass er „Umstrittenheit“ einer Theorie implizit für einen Makel hält. Ist nicht eine Theorie, je mehr sie bestritten wird, umso stärker geprüft, hat sie also mehr Gehalt als andere und mehr Prüfversuchen standgehalten?!

Alle die oben genannten Kritiker äußern sich dabei gar nicht zum Kernproblem einer jeden Werttheorie, nämlich dem Begriff des ökonomischen Wertes, so wie in klassischer Weise David Ricardo bei seiner Adam-Smith-Kritik zu seinem Leidweisen feststellen musste. Anscheinend halten all diese Kritiker eine ökonomische Theorie für denkbar, die jene dornige Frage gänzlich ausklammere. Die Auslassungen, die etwa Robinson in ihrer o.g. Schrift von sich gab, machen deutlich, dass sie in den so „dogmatischen“ Fragen wie etwa dem theoretischen Verhältnis von Tauschwert und Gebrauchswert völlig daneben herumtappt (Habermas in ihrem Gefolge), so wenn sie etwa Wissenschaft als eine Quelle von Wert bezeichnet, nur weil diese die physische Produktivität zu erhöhen mag (ganz ähnlich wie etwa eine Erhöhung der Fruchtbarkeit von Böden in der Landwirtschaft). Kann es vielleicht sein, dass es manchen Kritikern von heute (wie vielen Ökonomen nach der sog. "marginalistischen Revolution") völlig am "theoretischen Sinn" für derlei abstrakte Fragen abgeht?!

Offenbar gründet die ablehnende Haltung der Kritiker der AWT schlicht darauf, dass sie nicht nur die von Marx angebotene Lösung nicht mochten, sondern schon die dadurch aufgeworfene Problemstellung.

So ergeht es hier den meisten theoriegeschichtlich unbedarften Ökonomen wie manchen Laien gegenüber der Philosophie:

Hinz. bist auch für die philosophei?
Kunz. was ist sie denn? so sags dabei.
Hinz. sie ist die lehr, dasz Hinz nicht Kunz und Kunz nicht Hinze sei.
Kunz. bin nicht für die philosophei.

(CLAUDIUS (1775) 1, 207), zit. aus Grimms Wörterbuch)

“Die Aktualität der Arbeitswerttheorie”

Nils Fröhlich: Die Aktualität der Arbeitswerttheorie. Theoretische und empirische Aspekte. Metropolis Verlag Marburg 2009. ISBN 978-3-89518-756-8.

Mit diesem Titel wird die Frage gestellt, ob die AWT (Arbeitswerttheorie) noch oder wieder aktuell sei. Aber schon die Frage ist falsch gestellt. Innerhalb einer Wissenschaft geht es grundlegend nicht darum, ob eine Theorie aktuell oder veraltet, lebendig oder tot sei, sondern ob sie wahre Erkenntnis darstellt.

Die irreführende Art, das Problem so zu stellen, kann mindest bis auf Joseph A. Schumpeter zurückverfolgt werden.

“Es sollte deshalb klar sein, nicht nur daß es von den Marxisten vollkommen unsinnig war, die Gültigkeit der Grenznutzentheorie des Wertes (die ihnen entgegentrat) in Frage zu stellen, wie sie es am Anfang taten, sondern auch daß es auch unrichtig ist, die Arbeitswerttheorie ‘falsch’ zu nennen. Jedenfalls ist sie tot und begraben.”

(Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. A. Franke : Tübingen 6. Aufl. 1987 (UTB 172; zuerst: 1942). ISBN 3-7720-1298-1. S. 48f.)

Schumpeters Streben, die Grenznutzentheorie als die allgemeinere Theorie gegenüber der AWT hinzustellen und damit “die wertvolleren Teile” derselben zu integrieren (ähnlich wie später der offizielle "Keynesianismus" bestimmte Ideen von Keynes in die neoklassische Theorie einverleibt und damit unschädlich gemacht hat), ist die eine Seite des Schumpeter-Versuchs, die AWT zu bewältigen. Die andere Seite besteht in seiner schlicht polemischen Wendung, sie einfach für tot zu erklären. Die AWT sei “out”, wie man heute so schön sagt. Ist dies nun gedacht bloß als Feststellung einer wissenschaftshistorischen Tatsache? Oder ein erkenntnislogisches Argument? Oder gar “Beweis”?! Man darf hier unterstellen, dass es alles in einem sein und entsprechend dem Gesamtzweck dienen soll, eine ungeliebte Theorie vergessen zu machen.

“Ökonomische Theorien sterben nicht, sie werden nur vergessen.”

(Jürgen Niehans: Thünenvorlesung. Klassik als nationalökonomischer Mythos. Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 109, 1989, S. 1-17.)

Damit wiederholt Niehans nur Einsichten, wie sie zuvor schon Keynes und James Kenneth Galbraith im Hinblick auf den mehr wissenschaftssoziologischen als erkenntnislogischen Charakter des Paradigmenwechsels in Ökonomie und Wirtschaftspolitik ausgesprochen hatten.

"But, at best, change in economics has been reluctant and reluctantly accepted. Those who benefit from the status quo resist change, as do economists who have a vested interest in what has always been taught and believed."

(John Kenneth Galbraith: Economics in Perspective. A Critical History. Houghton Mifflin Company Boston 1987. ISBN 0-395-35572-9. S. 2.)

So treffend die Niehans-These eine wissenschaftssoziologische Tatsache beschreiben mag, so fehlgeleitet ist sie als ein metatheoretisches Urteil über die Erkenntnisqualität von wissenschaftlichen Theorien. Sofern die Wirtschaftswissenschaft als eine empirische Wissenschaft bzw. als eine Erfahrungs- oder Wirklichkeitswissenschaft angesprochen werden kann, legt zumindest der naive Laie und Abnehmer ökonomischer Expertenurteile gemeinhin die Korrespondenztheorie der Wahrheit zugrunde; d.h. eine Aussage wird als wahr gehalten, inwieweit sie mit der Wirklichkeit, bzw. den fraglichen Tatsachen übereinstimmt. Schließlich will ein Zeitungsleser ja erfahren, was in seiner Welt, in der er weiter zu leben gedenkt, ökonomisch vor sich geht. Bei Ökonomen hat jedoch die Tendenz gesiegt, eine Aussage dann als wahr zu beurteilen, wenn sie mit der unter ihnen vorherrschenden Meinung, also dem Mainstreamdenken, entspricht. Praktisch hat dies zur Folge, dass sie von einer Konsenstheorie der Wahrheit ausgehen: Als wahr gilt, was die Autoritäten der Wissenschaft als "wahr" anerkennen bzw. was logisch darauf zurückgeführt werden kann. Damit geht einher, dass die Untersuchung gesetzmäßiger Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen ersetzt wird durch scholastische Übungen an mathematischen Funktionsmodellen, wobei empirische Wahrheit als Kriterium ersetzt wird durch das ästhetische Kriterium der formalen Eleganz. Hans Albert nannte dies treffend "Modellplatonismus".

Es blieb Joachim Weimann vorbehalten, die in der akademischen Wirtschaftswissenschaft dominierende schlechte Praxis zu einem explizit wissenschaftsmethodologischen Modellvorbild zu erheben.

“Gegeben die Voraussetzung, daß es eine wissenschaftliche Gemeinschaft neoklassischer Ökonomen gibt und daß diese mit der allgemeinen Gleichgewichtstheorie über eine paradigmatische Theorie T verfügt, bedarf es als letztes der Unterstellung eines bestimmten Erkenntnisinteresses, bezüglich dessen die in T fixierten Annahmen über Motive rationalen Handelns funktional sind. Ein solches Erkenntnisinteresse könnte darin bestehen, die grundsätzliche Funktionsfähigkeit und die Optimalität dezentraler Allokationssysteme nachzuweisen.” (S. 260)

(Joachim Weimann: Überlegungen zum Theoriebegriff der Wirtschaftswissenschaften. Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschafen, 109(2), 1989, S. 233-264.)

Wissenschaft ist jedoch nicht wie Popmusik, die gerade lebt oder stirbt, je nach dem, ob sich hierfür jeweils ein Fanclub findet. Und wissenschaftliche Erkenntnis ist nicht eine neue Weise, deren empirische Wahrheit gemäß Vereinssatzung zu beschließen sei

Wie Heiner Flassbeck beklagt hatte, es herrrscht gerade unter Ökonomen das jeweils obsiegende Zitierkartell.

“Da der Wissenschaftsrat selbstverständlich von der herrschenden Meinung in der Wissenschaft dominiert wird, misst man die verlangte "Wissenschaftlichkeit" in erster Linie an den Veröffentlichungen der Mitarbeiter der Institute in renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschriften, die ganz überwiegend Mainstream drucken, weil sie ihn definieren.”

(Heiner Flassbeck: Glasperlenspiel oder Ökonomie – Der Niedergang der Wirtschaftswissenschaften. Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 9/2004, S.1071–1079.)

Mit welch konservativ-autoritären Resultaten so etwas praktisch funktioniert, kann man herrlich bei Wikipedia studieren, die sich ja als Enzyklopädie nichts weiter vorgenommen hat, als die herrschende Meinung jeweils getreulich als die maßgebliche abzubilden. Die Frage nach der empirischen Wahrheit wird ersetzt durch die Frage nach der größeren Autorität einer Quelle. So als ob Fallibilisten wie Hans Albert niemals die dogmatische “Lösung” des Münchhausen-Trilemmas kritisiert hätten.

(Michael Schmidt-Salomon: Das "Münchhausentrilemma" oder: Ist es möglich, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen?)

Man muss jedoch dem Autor Nils Fröhlich zugestehen, dass er vielleicht mit dem Buchtitel den Aufhänger schlecht gewählt hat. Dass er aber in Gegensatz zu Mainstream-Vertretern nicht nur eine ökonomische Theorie expliziert, sondern zudem auch empirisch überprüft hat. Allein das ist aber wichtig. Denn:

"Wer zwingt uns eigentlich, das pseudo-kausale Denken der Neoklassik als die einzig mögliche Form theoretischer Analyse zu deklarieren?"

(Hans Albert: Der logische Charakter der theoretischen Nationalökonomie. Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, 171, 1959. S. 32.)

Samstag, 14. August 2010

Wertfreiheit

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"Wertfreiheit" oder "Werturteilsfreiheit" ist in der Wissenschaftstheorie die Anforderung an eine Aussage, frei von einer positiven oder negativen Stellungnahme, einer Aufforderung oder Vorschrift zu sein.

Dies Postulat geht auf eine These zurück(1), die Max Weber im Werturteilsstreit vertreten hatte:

"Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er ''soll'', sondern nur, was er ''kann'' und – unter Umständen – was er ''will''."(2)


Das Ideal der Wertneutralität

Das Prinzip der Wertneutralität wird in den empirischen Wissenschaften häufig als Forderung aufgestellt oder zumindest implizit als ideale Norm unterstellt, indem man für die Akzeptanz oder Ablehnung einer Tatsache, Hypothese oder Theorie alleine die relevanten Fakten oder empirischen Daten, nicht hingegen die Werturteile der Wissenschaftler oder anderer Personen für ausschlaggebend hält.

Historisch geprägt wurde diese Auffassung im britischen Empirismus, insbesondere durch David Humes Verbot eines Fehlschlusses vom Sein aufs Sollen.(3) Danach ist es prinzipiell unmöglich, von beschreibenden Aussagen logisch auf Werturteile zu schließen. Wissenschaftliche Theorien sollen Fakten in der Welt beschreiben und erklären; hierfür sind auch nach Webers Auffassung Werturteile irrelevant. Für die Beantwortung der Frage „Was ist in der Welt der Fall?“ ist eine Beantwortung der Frage „Was sollte in der Welt der Fall sein?“ unerheblich.

Auch Webers Wertfreiheits-Prinzip wendet sich grundsätzlich gegen die Vermischung von Seins- und Sollensbehauptungen.(4) Denn eine solche stellt eine Art von Täuschung dar, die gerne dazu eingesetzt wird, andere zu überreden.(5)

Werturteil und Sachbehauptung voneinander sprachlich unterscheidbar?

Sprachlogische Analysen wie die von Theodor Geiger oder Hans Albert setzen wie Max Weber voraus, dass es mit sprachlichen Mitteln durchzuführen sei, Tatsachenbehauptungen und Stellungnahmen darüber, was für wünschens- oder ablehnenswert gehalten wird, strikt zu scheiden.

Um dem Ideal der Wertneutralität praktisch zu folgen, ist allerdings lediglich gefordert, dass sich Sein und Sollen in Sprache und Denken trennen lassen:

"Es muß möglich sein, Tatsachenbehauptungen und wertende Stellungnahmen ''sprachlich zu unterscheiden''. Sonst ist die Forderung prinzipiell unerfüllbar und erledigt sich damit, falls man das Prinzip 'Sollen impliziert Können' akzeptiert." (6)


Für die Gegner der Weberschen These indes erfüllt die These der sprachlichen und logischen Ununterscheidbarbarkeit von Werturteil und Sachbehauptung die Rolle eines Hilfsarguments.(7) So etwa wird von John Searle (8) die Unterscheidbarkeit bestritten oder wenigstens für irrelevant gehalten.

Die These der Wertfreiheit ist in der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts außerdem noch von anderen Positionen aus kritisiert worden. So wird unter Bezugnahme auf Erfahrungen aus der Wissenschaftsgeschichte und Wissenssoziologie häufig argumentiert, dass die Wissenschaften nicht nur ''de facto'' von Werturteilen durchzogen seien, sondern dass sich Wissenschaften gar nicht anders als wertgeladen denken lassen.(9) Die Standards wissenschaftlicher Bewertung und die wissenschaftlichen Methoden seien immer von einem kulturellen Kontext geformt, der selbst wiederum Werturteile enthalte.

Andere Argumentationen gegen die Wertfreiheitsthese sind eher sprachphilosophisch motiviert. So vertritt Hilary Putnam die These, dass viele unverzichtbare Begriffe der Wissenschaften gleichermaßen beschreibend und bewertend seien.(10)

Die Begründbarkeit von Werturteilen

Hinter Max Webers These steht letztlich seine Überzeugung, dass Werturteile wissenschaftlich nicht endgültig begründet bzw. bewiesen werden können. Empirische Wissenschaft könne keine „ethischen Wahrheiten“ verkünden bzw. wissenschaftlich begründen, was ethisch oder moralisch richtig sei.

Diese Frage, obwohl sie in Webers Konzeption mit seinem Wertfreiheitspostulat eng zusammenhängt, ist jedoch logisch gesehen und an und für sich betrachtet eine eigenständige Problematik. Sie darf nicht mit der Entscheidung darüber konfundiert werden, ob die Forderung der Wertfreiheit in der empirischen Wissenschaft eingehalten werden könne oder solle.

Anmerkungen:

(1) Herbert Keuth: ''Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.'' Mohr Siebeck, 1989, ISBN 3-16-345452-6. S. 16, mit Hinweis auf Hans Albert und Gerard Radnitzky, die sich ebenfalls schon auf dies klassische Weber-Zitat bezogen hatten.

(2) Max Weber: ''Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis.'' In: ''Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre'', hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1988. ISBN 3-8252-1492-3. S151; sowie in: ''Schriften zur Wissenschaftslehre'', Reclam, Stuttgart 1991. ISBN 3-15-008748-1.<

(3) David Hume: ''Ein Traktat über die menschliche Natur'' (engl. ''A Treatise of Human Nature.''), Meiner, Hamburg 1989. ISBN 978-3-7873-0921-4. (Buch III, Teil I, Kap. I.).

(4) Herbert Keuth: ''Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.'' J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) : Tübingen 1989. ISBN 3-16-345453-4. S. 18f.

(5) Herbert Keuth: ''Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.'' J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) : Tübingen 1989. ISBN 3-16-345453-4. S. 10.

(6) Herbert Keuth: ''Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.'' Mohr Siebeck : Tübingen 1989. ISBN 3-16-345452-6. S. 19.

(7) Herbert Keuth: ''Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.'' J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) : Tübingen 1989. ISBN 3-16-345453-4. S. 4.

(8) "Werturteil", in: Wolfgang J. Koschnik, ''Standardwörterbuch für die Sozialwissenschaften'', Bd. 2, München London New York Paris 1993, ISBN 3-598-11080-4.

(9) so etwa von Paul Feyerabend: ''Wider den Methodenzwang.'' Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1975, ISBN 3-518-28197-6, S.84ff.

(10) Hilary Putnam]]: ''The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays''. Harvard University Press, Harvard 2004. ISBN 0674013808.

==Literatur==

* Max Weber: ''Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis'', in: ''Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre'', hrsg. v. [[Johannes Winckelmann]], Tübingen 1988. ISBN 3-8252-1492-3; sowie in: ''Schriften zur Wissenschaftslehre'', Reclam, Stuttgart 1991. ISBN 3-15-008748-1

* Max Weber: ''Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften'' (1917), in: ders.: ''Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre.'' Tübingen 1988 (zuerst 1922), 489–540.

* Hans Albert/Ernst Topitsch, (Hrsg.): ''Werturteilsstreit.'' Darmstadt 1971.

* Ulrich Beck: ''Objektivität und Normativität. Die Theorie-Praxis-Debatte in der modernen deutschen und amerikanischen Soziologie.'' Reinbek 1974.

*Hilary Putnam: ''The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays''. Harvard University Press, Harvard 2004 ISBN 0674013808.
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Freitag, 13. August 2010

5.) Nach welcher Methode soll verglichen werden?

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Nachdem wir bei der Beantwortung der Frage (3) bezüglich der Kriterien der Theorienbewertung für je nach gewähltem metatheoretischen Paradigma unterschiedliche Bewertungskriterien ausgewählt haben, werden wir demzufolge entsprechend der gewählten Metatheorie eine eigentümliche Methode anwenden, wie wir den Theorienvergleich effektiv organisieren und durchführen

Genauso wie es nichtsdestoweniger legitim ist, Paradigma übergreifende Bewertungskriterien zu entwerfen, so kann man den Versuch wagen, eine möglichst universelle Methode zu entwickeln.

Hierzu sollen nachfolgend ein paar Anhaltspunkte genannt werden:

1.) Die multiparadigmatische Struktur der Metatheorien und der Theorien innerhalb der Sozialwissenschaften in unserer zeit sollte herausgearbeitet werden als eine entsprechend große Vielfalt metatheoretisch und theoretisch verfügbarer Optionen, die sich als Bezugspunkte der Selbstvergewisserung und wechselseitiger Kritik anbieten.

2.) Damit verbunden ist die Auswahl, Identifizierung und Ausarbeitung einer bestimmten Metatheorie und zweier bestimmter Theorien bzw. theoretischer Ansätze auf der Grundlage derselben.

3.) Die Ausarbeitung der gewählten Metatheorie muss auch die Explikation der Kriterien der Theorienbewertung sowie

4.) des Verfahrens beinhalten, in welchem über die Akzeptierung einer Theorie entschieden werden soll.

5.) T und T' müssen so rekonstruiert werden, dass den Theorienelementen gemäß dem Linderberg/Wippler-Modell mit ihren unterschiedlichen logischen Funktionen Rechnung getragen wird.

6.) Es müssen Übersetzungsregeln für T' nach T und umgekehrt entwickelt werden. In eine angeblich "ansatzunabhängige" Sprache zu übersetzen, wie Matthes (1978, S. 15) vorgeschlagen hat, erscheint jedoch aussichtslos. Denn ein solches Medium existiert nicht. Die "asymmetrische" Übersetzbarkeit ist der einzige offene Weg, der weiterführt.

7.) Nach Herstellung der "Kommensurabilität" zwischen T und T' gemäß der gelieferten Übersetzung können auf beide gleichermaßen die Kriterien gemäß (3) und

8.) das Entscheidungsverfahren gemäß (4) angewandt werden.

9.) Schließlich sind heuristische Verfahren einsetzbar, wie die Abwandlung der unabhängigen und der abhängigen Variablen von T und T' (vgl. Opp 1978, S. 216 ff.), um als Quintessenz von Schritt (7) und (8) T progressiv umzuformen.

Matthes (1978, S. 16) kritisiert sicherlich zurecht, dass häufig Hypothesen und Konzepte, welche sich nicht von T' in T übersetzen und assimilieren ließen, leichtfertig als unbrauchbar verworfen werden.

Eine progressive Strategie würde beinhalten, T insoweit abzuändern, dass eine Übersetzung möglichst aller Elemente von T' statthaben kann.

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Literatur

Giesen/Schmid 1978: Bernard Giesen, Michael Schmid, Methodologische Modelle und soziologische Theorien, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 232-254.

Hondrich/Matthes 1978: Karl Otto Hondrich, Joachim Matthes (Hrg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt Neuwied 1978.

Lindenberg/Wippler 1978: Siegwart Lindenberg, Reinhard Wippler, Theorienvergleich: Elemente der Rekonstruktion, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 219-231.

Matthes 1978: Joachim Matthes, Die Diskussion um den Theorienvergleich seit dem Kasseler Soziologentag 1974, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 7-20.

Opp 1978: Karl-Dieter Opp, Probleme und Strategien des Theorienvergleichs, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 213-218.

Spinner 1972: Helmut F. Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell, Frankfurt/M. 1974.

Wippler 1978: Reinhard Wippler, Die Ausarbeitung theoretischer Ansätze zu erklärungskräftigen Theorien, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 196-212.

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4. Was soll verglichen werden?

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Wir kommen damit zu zwei völlig unterschiedlichen Fragen:

4.1 Welche Theorien bzw. theoretischen Ansätze sollen in den Kreis der Betrachtung gerückt werden?

4.2 Welche Bestandteile von Theorien bzw. eines theoretischen Ansatzes sollen miteinander verglichen werden?

4.1 Welche Theorien bzw. theoretischen Ansätze sollen in den Kreis der Betrachtung gerückt werden?

Es geht also um die Frage, wie sich eine Theorie dazu qualifiziert, von uns Ernst genommen zu werden, d.h. dass ihr die Gnade widerfährt, innerhalb unserer Debatte beachtet und zumindest vorerst einmal als möglicherweise seriöse Argumentation akzeptiert zu werden.

Opp (1978, S. 215) schlägt als methodologische Maxime vor, diejenigen Theorieansätze für einen Vergleich auszuwählen, die für die Lösung eines bestimmten Erkenntnisproblems als am fruchtbarsten beurteilt werden. Dies setzt allerdings schon die Auswahl einer bestimmten Problemstellung als vorrangig relevant voraus.

Problemstellungen ihrerseits sind allerdings schon in theoretischen Begriffen abgefasst, also dass die Relevanz von Theorien durch die Auswahl einer bestimmten Problemformulierung mehr oder minder schon präjudiziert sein wird.

Man muss hier klar sehen, dass es letzten Endes um die politische Frage der Festsetzung von Forschungsprioritäten geht. Dabei können sowohl wissenschaftsinterne wie wissenschaftsexterne Ziele und Erwägungen eine Rolle spielen.

In diesem Sinne "intern" sind Prioritätsentscheidungen, die auf Basis der Zielsetzung von Wahrheitsfindung getroffen werden. Es wird gewählt nach dem Kriterium, welche Probleme im Hinblick auf die Wahrheits- bzw. Informationsgewinnung strategisch von besonderer Bedeutung sind und daher vordringlich zu lösen sind. Gewisse Fragen sind wichtiger als andere zu beantworten, weil ihre Beantwortung den Zugang zu einer noch größeren Menge an Erkenntnissen eröffnet als vergleichsweise andere. Dieses Argument ist weit verbreitet, wenn es etwa um die Förderung von Grundlagenforschung geht.

Externe Prioritäten für Problemstellungen werden in die Wissenschaft eingeführt, wenn Wissenschaft nicht um ihrer selbst willen betrieben wird. Hier gilt es dann erst einmal die vorgeordnete Frage zu klären:

Wer verfügt über die Arbeitskraft des Forschers?

Er selbst? Die Gesellschaft? Wer ist "die Gesellschaft" indes in dem jeweils vorliegenden konkreten Fall?

Gefordert ist hier im Grunde eine politische Theorie der Demokratie, welche Wertkriterien und Relevanzgesichtspunkte zu liefern vermag, um daran die augenblickliche Situation des gesellschaftlichen Subsystems Wissenschaft messen zu können. Eingeschlossen werden müsste eine Einschätzung der jeweils gegebenen sowie der gewünschten Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Welche Mitglieder der Gesellschaft und Vertreter welcher gesellschaftlichen Gruppen an den betreffenden Entscheidungsverfahren zu beteiligen wären, ist eine der zentralen Fragen, welche eine derartige politisch-normative Theorie beantworten müsste. Die Verwendung explizit formulierter Werturteile wäre in dieser forschungspolitischen Diskussion schlechterdings nicht zu umgehen und zur Verwirklichung von möglichst großer Transparenz auch sehr wichtig. Denn ein rationaler Umgang mit Werturteilen wird dadurch am ehesten angemessen ermöglicht, dass man ihren normativen Charakter durch explizite Formulierung unmissverständlich erkennbar macht und sogar herauskehrt – eine starke Medizin gegen jeglichen Ideologieverdacht! Eine Gesellschaft, die sich als eine Demokratie versteht, sollte die Diskussion über die Prioritäten der nationalen und internationalen Forschungspolitik in breitester Öffentlichkeit führen, was vor allem heißt: in den Massenmedien sowie in den intermediären Gruppen wie Parteien und Gewerkschaften). Dabei ist zuerst einmal von einer Informations- und Rechenschaftspflicht derjenigen auszugehen, welche die Entscheidungsvollmachten über die nationalen Forschungsressourcen inne haben. In dieser öffentlichen Diskussion wären dann die Relevanzkriterien der verantwortlichen Entscheider klar und deutlich zu benennen. In diesem Rahmen muss es des Weiteren auch dem einzelnen Wissenschaftler möglich sein, um dessen persönliche Arbeitskraft und Anspruch auf Selbstverwirklichung es ja schließlich ebenso geht, seine Interessen zu artikulieren und ein Recht auf Mitbestimmung an der Forschungspolitik seines Landes wahrzunehmen.

Diese hier vertretene Meinung ist nur eine unter vielerlei denkbaren politischen Positionen. Worauf es hier ankommt: Auch die Wissenschaftstheorie muss davon ausgehen, dass bei der Entscheidung über die Auswahl von Forschungsproblemen derartige Positionen unvermeidbar zum Tragen kommen werden. Man kann deswegen nicht umhin, Verfahren zu definieren, wie dies mit einem Höchstmaß an rationaler Argumentation vonstatten gehen kann. Die reale Möglichkeit einer solche Verfahrenslösung zu leugnen hieße die Augen zu verschließen vor der normativen Kraft des Faktischen, nämlich vor der real vorfindbaren Inanspruchnahme der Wissenschaft durch die Inhaber gesellschaftlicher Machtpositionen einerseits und der mindestens impliziten Inanspruchnahme politischer Werturteile durch nur vorgeblich unpolitische Nur-Wissenschaftler.

4.2 Welche Bestandteile einer Theorie bzw. theoretischen Ansatzes sollen miteinander verglichen werden?

Zuerst einmal soll der gemeinte Unterschied zwischen "Theorie" und "theoretischem Ansatz" verdeutlicht werden. "Theoretischer Ansatz" ist als eine Vorstufe der ausgearbeiteten und ausgebildeten Form einer Theorie zu verstehen.

"Als 'theoretische Ansätze' sollen die Perspektiven bezeichnet werden, von denen aus in der empirisch-theoretischen Soziologie gearbeitet wird; sie richten die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Klasse von Objekten und Merkmalen, die im Zuge der Theoriebildung als zu erklärende Probleme oder als erklärende Annahmen eingesetzt werden." (Wippler 1978, S. 197)

Einen Kernbestandteil solcher theoretischen Ansätze stellen die sog. Orientierungshypothesen dar.

Bei diesen wird eine universelle Komponente mit einer existentiellen Komponente verbunden (Watkinsche All-Some-Statements). Sie sind damit weder im strikten Sinne verifizierbar noch falsifizierbar, mithin also metaphysisch (S. 199 f). Sie sind dennoch realitätsbezogen, wobei sie die Forschung darauf orientieren, welche empirischen Objekte erklärungsbedürftig sind oder zum Ausgangspunkt von Erklärungen benutzt werden können.

Es ist umstritten, ob ihre heuristische Funktion auf das Anfangsstadium von Theoriebildung beschränkt bleiben muss. Oder ob sie in ihrer Konzept und Hypothesen generierenden Funktion den fundamentalen Hintergrund einer bestimmt gefassten Theorie abzugeben vermögen. Einem Hintergrund, zu dem, ihn auszuschöpfen, die theoretische Hypothesenbildung und –prüfung ständig zurückkehren muss.

Theorien wie theoretische Ansätze bilden ein erkenntnislogisches Ganzes, das aus vielfältigen mehr oder minder qualifizierten Teilerkenntnissen besteht, welche in den einzelnen Bestandteilen inkorporiert sind. Daher sollten alle zur Erklärung erhobener Tatbestände über soziales Handeln und Prozessdaten in sozialen Kollektiven benötigten Theoriebestandteile bei einem Theorienvergleich mitberücksichtigt werden (Lindenberg/Wippler 1979, S. 227).

Es wurde die Mannigfaltigkeit unterschiedlich möglicher Theorieteile an einem kombinierten Deduktionsmodell demonstriert. Dieses Schema ist nur als Grundmuster der Exposition der einzelnen Elemente einer Erklärung von individuellen und kollektiven Effekten sozialen Handelns aufzufassen. Es ist nicht als forschungsstrategische Direktive misszuverstehen, nur diese eine Erklärungsrichtung vom Individuellen zum Kollektiven zu gehen. Damit ist also keinesfalls ein Präjudiz für den psychologischen Reduktionalismus vorgegeben, auch wenn auf den ersten Blick dies leicht so aufgefasst werden könnte.

Aus dem Lindenberg/Wippler-Modell ergeben sich folgende Bestandteile von theoretischer Erklärung sozialer Prozesse:

a) Propositionen über Individuen;

b) Anfangsbedingungen;

c) Korrespondenzregeln;

d) idealtypische oder konkrete Beschreibungen sozialer Situationen;

e) Transformationsregeln;

f) Randbedingungen;

g) individuelle Effekte;

h) kollektive Tatbestände und Prozesse.

Zur genaueren Erläuterung:

Mittels Korrespondenzregeln werden Situationsbeschreibungen in die theoretische Sprache der Propositionen über Individuen übersetzt.

Transformationsregeln geben an, wie individuelle in kollektive Propositionen überführt werden können. Sie können partielle Definitionen darstellen ("partiell", weil das Definiendum nicht durchgängig durch das Definiens ersetzt werden kann), Implikationsaussagen oder mathematische Modelle (S. 222 ff.).

Auch sollte die Unterscheidung zwischen Anfangsbedingungen und Randbedingungen beachtet werden; Anfangsbedingungen sind in der Beobachtungssprache, Randbedingungen in der Theoriesprache formuliert; erstere üben ihre Funktion bei der Ableitung individueller, letztere bei der Ableitung kollektiver Effekte aus (S. 230).

Auf Grundlage dieses Modells lassen sich die spezifischen Defizite und Vorzüge der verschiedenen theoretischen Paradigmata identifizieren und näher beleuchten. Zudem ergeben sich aus ihm heraus heuristische Variationsmöglichkeiten, um im fruchtbaren Eklektizismus die positiven Elemente unterschiedlicher theoretischer Ansätze herauszuschälen und miteinander zu kombinieren.

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Hondrich/Matthes 1978: Karl Otto Hondrich, Joachim Matthes (Hrg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt Neuwied 1978.

Opp 1978: Karl-Dieter Opp, Probleme und Strategien des Theorienvergleichs, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 213-218.

Wippler 1978: Reinhard Wippler, Die Ausarbeitung theoretischer Ansätze zu erklärungskräftigen Theorien, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 196-212.

Lindenberg/Wippler 1978: Siegwart Lindenberg, Reinhard Wippler, Theorienvergleich: Elemente der Rekonstruktion, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 219-231.

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3.) In Bezug auf welche Kriterien sollen Theorien bewertet und wie über ihre relative Leistungsfähigkeit entschieden werden?

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Die Unzulänglichkeit vorliegender Theorienvergleiche ist dadurch begründet, dass in der Regel bereits die eingesetzten Metatheorien divergieren bzw. kontrovers sind. Das hat zur direkten Konsequenz, dass auch die Kriterien und das methodische Vorgehen beim Theorienvergleich nicht dieselben und damit heftig umstritten sind.

Die methodologische Situation wird andererseits auch nicht viel günstiger, wenn die bislang eingesetzten Metatheorien nichts oder zu wenig zur Methodologie eines Theorienvergleichs von sich aus anbieten oder überhaupt hergeben.

Typischer Weise verlief bislang Theorienvergleich in dieser asymmetrischen Weise (Matthes 1978, S. 16):

Der Kritiker nimmt stets den eigenen metatheoretischen Standpunkt fraglos als wahren Ausgangspunkt an.

T' wird dann in die Sprache von T übersetzt. Dabei werden Defizite, seltener Vorzüge von T' gegenüber T dingfest gemacht.

Soweit T' eine von M unterschiedene Metatheorie M' unterliegt, wird auch T' an den von M gelieferten Erfolgskriterien und Problemmaßstäben gemessen.

Dies asymmetrische Verfahren von Theoriekritik ist offensichtlich ohne Weiteres mit vertauschten Rollen umkehrbar.

Der so kritisierte Theoretiker von T' kann dasselbe mittels M' der Theorie T antun.

Am Schluss einer solchen Veranstaltung stellt sich natürlich die Frage:

* Wer ist der Gewinner oder Verlierer?
* Welche Theorie hat mehr Leistungen verzeichnet, welche mehr Mängel?

Da die Bewertungskriterien in diesem Leistungsvergleich zugegebenermaßen differieren, scheint die Frage ohne Weiteres so nicht beantwortbar.

Angemessene Beurteilungskriterien können aber nirgends anders als aus einer Metatheorie her kommen! Es muss dabei ebenfalls eingesehen und anerkannt werden, dass das Prinzip der Konkurrenz von Theorien sowie die Methodologie des Theorienpluralismus in analoger Weise auf der Ebene der metatheoretischen Paradigmata angewandt werden muss.

Es sind somit dreierlei Situationen vorstellbar:

1. T und T' haben dieselbe Metatheorie M zur gemeinsamen Voraussetzung.

2. T und T' setzen untereinander konkurrierende Metatheorien M und M' voraus, wobei über den Vorzug von M oder M' nicht entschieden ist.

3. T und T' setzen untereinander konkurrierende Metatheorien M und M' voraus, wobei wir zum gegebenem Zeitpunkt X glauben, genug Gründe vorliegen haben, über den alternativen Vorzug von M oder M' entscheiden zu können.

Der Fall (1) ist hier insoweit trivial, als die Explikation von der Kriterien intertheoretischer Prüfung konsistent aus einundderselben Metatheorie heraus unternommen werden kann. Die Kriterien für die Adäquanz der Problemlösung sind mit dieser Metatheorie gegeben und hängen nur noch von deren Entwicklungsstand und Ausarbeitungsniveau ab.

Fall (3) ist nach Erarbeitung des geforderten Entscheidungsverfahrens und unter dessen Voraussetzung auf Fall (1) rückführbar.

Der schwierigste und realiter wohl am häufigste vorkommende Fall dürfte Nr. (2) sein.

Nun wäre es gewiss falsch, zu meinen, die Zielsetzung der Kritikmaximierung in der Theorienkonkurrenz mache es unabdingbar, sich der Wahrheit durch ein K.O.-Verfahren der totalen Eliminierung der einmal falsifizierten Theorien (so Opp 1978, S. 213) anzunähern.

Da nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Falschheit einer empirischen Theorie (und noch viel weniger die eines fragmentarischen Theorieansatzes) niemals absolut und ein für allemal bewiesen werden kann, bedeutet totale Elimination einer als falsch erachteten Theorie nichts anderes als eine bestimmte möglicherweise kritische Instanz für immer und ewig aus dem Spiel auszuschließen.

Die methodologisch korrekte Alternative kann nur lauten, zu versuchen, die "falsifizierte" Theorie versuchen zu verstärken, also danach zu streben, sie fruchtbar weiterzuentwickeln. (Im Allgemeinen wird dies nicht ein Kritiker als seine persönliche Aufgabe betrachten, sondern vielmehr der Verteidiger der kritisierten Position. Aber es geht uns hier nicht darum, eine Methodologie auf bestimmte Personen oder Rollenkategorien zuzuschendien, sondern um eine Methodologie für Wissenschaft schlechthin.).

Damit sind wir jedoch wieder bei der Frage der Kriterien der Theorienbewertung und des Entscheidungsverfahrens über die Zulassung von Theorien zum Wettbewerb angelangt.

Da wir jedoch, wie wir soeben gemerkt haben, gar nicht auf das Ziel der Elimination irgendeiner Theorie T, T', ... bzw. irgendeines Bewerbers aus dieser Serie verpflichtet sind (es sei denn, aus praktischen Gründen oder Zwängen), sind wir auch gar nicht gezwungen, zwischen M oder M' uns ein für allemal zu entscheiden.

Wir können somit ein Verfahren von Theorienprüfung konzipieren, wobei sukzessive T und T' untereinander, M mit M' sowie T mit M' und T' mit M konfrontiert werden müssen.

Schematisch kann man unser Modell so darstellen:

M0, M1, M2, ...
T0, T1, T2, ...

M'0, M'1, M'2, ...
T'0, T'1, T'2, ...


Durch die gegenseitige Konfrontation der Metatheorien und ihre kritische Überprüfung aneinander und an anderen Prüfinstanzen wird aus M0 die neue Version M1 sowie aus ihrem Widerpart M'0 deren neue Version M'1.

Der Prozess der wechselseitigen Theorienkritik durch Einbeziehung der jeweiligen Metatheorien kann zum Beispiel nach folgendem Muster ablaufen:

T0 wird mit T'0 gemäß M0 bzw. M1 konfrontiert.

Aus diesem Prozess erhält man als vorläufige Resultate sowohl T1 als auch T'1.

Bei diesem Verfahren tritt an die Stelle eliminativer Konkurrenz ein permanenter Revisionismus alternativ ausgerichteter und gehandhabter Theorien bzw. theoretischer Paradigmata. Außerdem werden in diesen Revisionismus stets auch die relevanten metatheoretischen Grundlagen miteinbezogen und ggf. mitrevidiert. Das geht auch kaum anders; denn Theoriendiskussion ohne metatheoretische Überlegung ist so gut wie unmöglich. Nur zeitweilig lassen sich solche Erwägungen in gewissen Grenzen bei einer Debatte ausklammern.

Man kann eben die Wahrheit von Theorien nicht per Konsens oder etwa durch Mehrheitsbeschluss der Diskursteilnehmer feststellen. Der Weg zu einer besseren Theorie führt nicht über die Vermeidung wissenschaftstheoretischer Kontroversen (Matthes 1978, S. 17), sondern über deren Austragung in einem expliziten und transparenten Verfahren. Und das will die Methodologie des Theorienvergleich in Verbindung mit dem Programm des Theorienpluralismus gerade bezwecken.

Die "geläufige konfrontatorische Diskussion etablierter Theorien" (S. 13) stellt meist deshalb keine fruchtbare, echte Konfrontation von Theorien dar, weil sie unter den angewandten Selbstdarstellungs-, Abgrenzungs- und Verdunkelungsstrategien der jeweiligen Vertreter leidet, welche instinktiv zur Selbstverteidigung, damit aber auch zur Immunisierung gegen die Kritik durch Alternativen so häufig mobilisiert werden.

Man könnte jetzt freilich gegen das vorstehend exponierte Schema des permanenten Revisionismus einzuwenden versuchen, es verfehle das selbst gesetzte Ziel, eine Methodologie der Kritikmaximierung zu formulieren, insofern es nichts weiter als den empirisch beschreibbaren typischen Ablauf intertheoretischer Beeinflussungsmuster nachzeichne. Somit gebe es außer Mittel der Deskription nichts darüber hinaus an die Hand, um Kriterien der Optimierung dieses Ablaufs von Erkenntnisprozessen aufstellen zu können. Oder um den Erkenntnisfortschritt tatsächlich messbar zu machen.

Selbst wenn die Hauptleistung dieses Modells lediglich in systematischer Beschreibbarkeit und Orientierung läge, so ist dies keineswegs gering zu veranschlagen, insbesondere in Anbetracht der ziemlich verfahrenen Diskussionssituation um das Thema Theorienvergleich, die man wohl als von Ambiguität beherrscht kennzeichnen könnte. Darüber hinaus ergeben sich aber bereits durch die Anlage dieses Modells fast von selbst relativ eindeutig umrissene Lücken bzw. Aufgabenfelder zur Ausfüllung bzw. Bearbeitung. Das ist vermutlich nicht mehr, als was man von einem Schema erwarten sollte.

Theorienvergleich wird dabei nicht bloß als ein Mittel zur Theorienprüfung gefasst (S. 7f), sondern als das Verfahren der Theorienprüfung selbst. Dass die Diskussion beim Übergang vom Theorienvergleich zur Theorienprüfung schon endet, beweist, dass die bisherige Diskussion noch nicht mehr als ein unverbindliches Vorgeplänkel war.

Ein methodologisch unscharfes Bild vom Theorienvergleich als solchem verstellt den Blick auf den weiteren Weg und beeinträchtigt, das jeweils Erreichte angemessen zu beurteilen.

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Hondrich/Matthes 1978: Karl Otto Hondrich, Joachim Matthes (Hrg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt Neuwied 1978.

Matthes 1978: Joachim Matthes, Die Diskussion um den Theorienvergleich seit dem Kasseler Soziologentag 1974, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 7-20.

Opp 1978: Karl-Dieter Opp, Probleme und Strategien des Theorienvergleichs, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 213-218.

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2.) Ist Theorienvergleich überhaupt möglich?

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Die Diskussion des Theorienvergleichs droht jedoch zu scheitern, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Es wird nämlich angezweifelt, ob Theorien überhaupt in jedem Falle miteinander verglichen werden können.

Die Inkommensurabilitäts-These lautet in der Explikation von Giesen/Schmid (1978, S. 234) wie folgt:

"1. Ein theoretischer Begriff (oder die Menge aller theoretischern Begriffe) S in einer Theorie T kann nur dann verstanden werden, wenn die zentralen Behauptungen von T bekannt sind:
Die Bedeutung von S ergibt sich aus der Verwendung von S in T.

2. Wenn T durch eine andere Theorie T' modifiziert oder ersetzt wird, ändert sich folglich die Bedeutung von S auch dann, wenn S sowohl in T wie in T' Verwendung findet."

Gegen These 1 lässt sich einwenden, dass sie überzogen erscheint. In der Regel ist bei den meisten Begriffen einer Theorie bereits ein gewisses Vorverständnis vorhanden (S. 235), so dass sich ihre Bedeutung nicht erst aus dem Gebrauch innerhalb der bestimmten Theorie ergibt (es sei denn, man wendet hierbei mit Absicht eine entsprechende Immunisierungsstrategie an!).

Des Weiteren wird die Zusatzthese vertreten, dass jede Theorie T durch ihre Begrifflichkeit S ihren eigenen empirischen Geltungsbereich bestimmte.

Dies ist jedoch ein Fehlschluss aus der (völlig richtigen These), dass die schon die Konstatierung eines singulären Sachverhalts zumindest eine minimale Theorie zur Voraussetzung hat, auf die falsche These, dass allein eine bestimmte Theorie T diese Voraussetzung erfüllen könne. Vielmehr können diese Theoriefunktion auch sog. "Hintergrundstheorien" (wie etwa Mess- oder Beobachtungstheorien) hinreichend erfüllen (S. 235).

Gegen These 2 ist einzuwenden, dass auch sie den Bedeutungswechsel von S in T nach T' in übertriebener Weise dramatisiert. Zum einen kann es sehr wohl vorkommen, dass die Bedeutung eines Begriffs innerhalb einer anderen Theorie T' gegenüber derjenigen in T völlig oder nahezu identisch bleibt.

Zum anderen reicht es für Zwecke vergleichender Kritik meist durchaus aus, wenn die Begriffe S und S' vielleicht nicht in ihrer Intension, jedoch in ihrer Extension übereinstimmen (S. 236).

Die vorgebrachten Argumente sind so schlagend, dass die Inkommensurabilitäts-These zumindest in ihrer radikalen Form nicht aufrechterhalten werden kann. Plausibel werden die Gegenargumente auch durch den Hinweis auf den wissenschaftsgeschichtlich erhärtbaren Fakt, dass intertheoretische Kritik und auf Grundlage derselben eine Abänderung von Theorien immer schon stattgefunden haben. Es scheint recht unwahrscheinlich, dass sich all diese Vorgänge außerhalb oder gar gegen jedwede Logik abgespielt haben sollten.

Sehr viel wichtiger als die Frage, ob es eine absolute Inkommensurabilität gibt oder nicht gibt, ist die Feststellung, dass durch die Beschäftigung mit dieser vordergründigen Frage der Blick auf diese methodologische Entscheidungssituation verstellt wird:

* Wollen wir Kritisierbarkeit von Theorien herstellen?

* Oder wollen wir das Bedeutungs- und Anwendungsgebiet einer Theorie so abschotten, dass sie mit nichts und niemandem kollidieren kann?

Was würde letzteres nutzen, außer dem Theoretiker ein trügerisches Gefühl der Sicherheit zu verschaffen. Und ein kommunikationsloses Hoheitsgebiet, womit man höchstens anderen armen Geistern (scholastische Gelehrte und ihre Dogmatik gläubigen Schüler) imponieren könnte.

Herstellung von Kritisierbarkeit heißt Exposition der eigenen Theorie in einer für intertheoretische Kritik offenen Sprache. In Gegensatz zum Verschanzen hinter einer eigenen, selbst gestrickten esoterischen Sprache.

Letztere Tendenz zu bekämpfen, kann Kommensurabilität und damit Kritikfähigkeit immer durch die Erfindung geeigneter Übersetzungsregeln hergestellt werden.

Selbstverständlich muss eingeräumt werden, dass es durchaus der Fall sein kann, dass in bestimmten Einzelfällen T und T' tatsächlich inkommensurabel sein können. T und T' können insofern aneinander vorbei sprechen, als sie über völlig heterogene Sachgebiete sprechen. Dann ist ein Vergleich sinnvoll kaum möglich. Allenfalls kann man dann versuchen, eine Theorie T'' zu konstruieren, welche sowohl T als auch T' bzw. deren Anwendungsfälle in sich aufzunehmen erlaubte.

Letztlich ist auch noch zuzugeben, dass eine Vergleichbarkeit zweier Theorien T und T' meist nicht ohne weiteres gegeben ist. Die theoretischen Ansätze oder Theorien müssen in der Regel erst sorgfältig rekonstruiert und dabei sprachlich so präzisiert werden, dass eine fruchtbare Diskussion über beide zusammen erst durchführbar erscheint. Dabei entsteht häufig ein Problem der Identifizierbarkeit bzw. des authentischen harten Kerns einer bestimmten Theorie.

Zum Beispiel der Historische Materialismus: Was sagt dieser denn über das Klassenbewusstsein? Was ist überhaupt seine zentrale Aussage, womit er seine Identität verlöre, wenn man sie aufgäbe?

Häufig mag der Fall sein, das sich die Anwendungsbereiche zweier Theorie abstrakt gesehen überschneiden mögen. Es liegen jedoch die betreffenden Theorien formal in unterschiedlich gut ausgearbeiteter Form vor. Wenn man beide geziemend vergleichen möchte, muss man erst beide auf dasselbe Niveau der Formalisierung heben. Das ist keine prinzipielle Schwierigkeit; wohl aber kann die praktische Umsetzung umständlich sein sowie Zeit und Mühe erfordern.

Die Inkommensurabilitäts-These weist ferner auch eine wissenssoziologische Dimension auf. Unterschiedliche Theorien sind aus unterschiedlichen Lebens- und Sinnzusammenhängen heraus entstanden; allein schon daraus erwachsen in sprachlich-pragmatischer Hinsicht Kommunikationsschranken.

"Wenn wir ein Paradigma verstehen wollen, müssen wir in ihm sein, d.h. wir müssen es 'praktisch' übernehmen: mittun beim Handeln derer, die es besitzen, miterleben, was für sie problematisch ist, wie sie Probleme lösen usw.; es bedarf in der Tat eines Übergangs in eine fremde Wirklichkeit. Ohne diesen lässt sich der Sinn der aus ihr geborenen Theorien nicht angemessen erfassen." (Klinkmann, zit. bei Matthes 1978, S. 20)

Auch hier gilt, dass hier unzulässiger Weise eine praktische Schwierigkeit zu einer prinzipiellen Unmöglichkeit überhöht wird.

Klinkmann deutet diese Einsicht selber an, wenn er sagt, dass "gegenwärtig" keine Gruppe von Wissenschaftlern existiere, die in mehreren Paradigmata zu Hause sei. Was "gegenwärtig" nicht existiert, kann gestern existiert haben bzw. morgen existieren!

Wenn dies Argument wahr wäre, dürft es auch völlig unmöglich sein, aus einer lebendigen Sprache in eine andere zu übersetzen. Oder überhaupt eine Fremdsprache als Fremdsprache zu lernen. Denn auch hier gilt das Argument vom unterschiedlichen Sinn- und Lebenszusammenhang, etwa der Deutschen und der Chinesen.

Dass eine solche Übersetzbarkeit praktisch immer nur bis zu einer bestimmten Grenze zu bewältigen sein wird, das kann zugestanden werden. Der mit praktisch vertretbarem Aufwand erzielbare Grad an Verständigung dürfte aber in der Regel stets hinreichen, um eine fruchtbare wechselseitige Kritik zwischen beiden Welten austauschen zu können.

Unterschiedliche Erkenntnisinteressen können zu unterschiedlichen Problemstellungen für die wissenschaftliche Forschung führen. Wissenschaftliche Probleme unterscheiden sich meistens dadurch, dass sie in unterschiedlichen Intentionszusammenhängen stehen. Damit ist jedoch nicht notwendiger Weise eine "Partikularisierung" (S. 14) des Geltungsbereiches der einzelnen Theorien verknüpft. Die Beziehung auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse sowie die relevante Problemstellung sollte in jedem Fall aber expliziert werden. Damit ist dann aber nicht die Geltungsproblematik einer Theorie angesprochen, sondern die Relevanz von Forschung und Forschungspolitik für die Wissenschaft in deren jeweiliger Gesellschaft.

Man kann aus unterschiedlichen, ja sogar aus gegensätzlichen Interessen auf dasselbe Forschungsproblem stoßen. Schwerwiegende Probleme für eine intertheoretische Kritik entstehen hieraus grundsätzlich nicht. Wenn auch gegenläufige Interessen zum Ansteigen des Rauschens im Kommunikationskanal wegen sachfremder Polemiken oder Vertauschen von Sachargumenten mit Werturteilen führen mögen.

Es ist auch die Möglichkeit einer fruchtbare Kritik zwischen T und T' vorstellbar, welche zwar aufgrund unterschiedlicher Problemstellungen P bzw. P' gebildet wurden, nichtsdestoweniger eine Schnittmenge eines gemeinsamen Objektbereich aufweisen können. Hierbei dreht es sich also darum, die Meinungsdifferenzen auf dem Felde auszutragen, wo sie effektiv vorhanden sind. Und nicht sogleich das Kind des Theorienvergleichs mit dem Badewasser der divergierenden Erkenntnisinteressen auszuschütten.

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Giesen/Schmid 1978: Bernard Giesen, Michael Schmid, Methodologische Modelle und soziologische Theorien, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 232-254.

Hondrich/Matthes 1978: Karl Otto Hondrich, Joachim Matthes (Hrg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt Neuwied 1978.

Matthes 1978: Joachim Matthes, Die Diskussion um den Theorienvergleich seit dem Kasseler Soziologentag 1974, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 7-20.

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1.) Wozu Theorienvergleich?



Verschiedene Theorien miteinander zu vergleichen kann unterschiedliche Zwecke verfolgen:

a) die radikale Zielsetzung

a1) Theorienvergleich als Theorienprüfung:
die eine wahre Theorie auszusieben durch eliminative Konkurrenz (K.O.-Prinzip) und/oder Integration in eine allgemeinere Theorie

a2) Theorienvergleich als Theorienprüfung
im Sinne des Theoretischen Pluralismus (Spinner 1972) als einer Methodologie des Erkenntnisfortschritts, um durch wechselseitige Kritik konkurrierender Theorien zu höherer wissenschaftlicher Erkenntnis fortzuschreiten

b) die moderate Zielsetzung

b1) Theorienvergleich als heuristisches Verfahren,
um den eigenen theoretischen Ansatz zu verbessern und auszubauen, d.h. die Übereinstimmung derselben Theorie mit ihrer empirischen Basis zu erhöhen

b2) Theorienvergleich als Entscheidungshilfe,
um nämlich Kriterien zu gewinnen für die Auswahl und/oder die Kombination theoretischer Ansätze oder Theorien,
um nämlich gemeinsame Problemfelder zu identifizieren und die wissenschaftliche Kommunikation zu verbessern

b3) Theorienvergleich als kooperatives Unternehmen

c) auf der Ebene der Wissenschaftsdisziplin oder von Wissenschaft schlechthin,
um nämlich gemeinsame Problemfelder zu identifizieren und die wissenschaftliche Kommunikation zu verbessern.

Die Zielsetzung a2) erhebt den weitestgehenden Anspruch im Hinblick auf Kritikmaximierung und Erkenntnisfortschritt. Andererseits versteht sich ihr methodischer Zugriff als dermaßen umfassend, dass sie auch die übrigen genannten Zielsetzungen als Unterziele in sich einzuordnen weiß.

Es bietet sich daher an, von der Zielsetzung b2) auszugehen. Auch auf die Gefahr hin, dass viele diese Zielsetzung als praktisch nicht einlösbar, sprich utopisch halten werden, und/oder als mit ihrer eigenen Metatheorie (Theoretischer Monismus und/oder rechtfertigungsorientierter Fundamentalismus) für unvereinbar erachten.

Da jedoch auf Grundlage des Theoretischen Pluralismus jedwede Theorie und/oder Metatheorie in ihrem jeweiligen Erkenntnisgehalt voll ausgeschöpft werden kann, erweist er somit eine höhere Integrationsfähigkeit als jede andere bislang bekannte Metatheorie: Das metatheoretische Paradigma des Theorienpluralismus soll daher auch die Grundlage der hier folgenden Problemexplikation bilden.

Spinner 1972: Helmut F. Spinner: Pluralismus als Erkenntnismodell. Frankfurt/M. 1974.

Schumpeter ein Marxist?

Bezeichnend für die ideologische Qualität auf wikipedia.de ist der Mecker-Beitrag von Polentario, der den Artikel Kathedersozialismus für einseitig marxistisch hält, weil er sich zu einem größeren Teil auf Schumpeters Geschichte der ökonomischen Analyse stützt.

Dazu lässt sich Heinz D. Kurz zitieren:

“Die in der Literatur gelegentlich anzutreffende Meinung, Schumpeter sei Sozialist oder Marxist gewesen, läßt sich nicht halten. Er hat, wie wir noch sehen werden, von Marx, dem Sozialtheoretiker, in vielfacher Hinsicht profitiert, aber seine konservativ-aristokratische und zuletzt kulturpessimistische Grundhaltung war mit der sozialrevolutionären eines Marx nicht verträglich.” (1)


Was sich hierbei jedoch auf Wikipedia kundtut, ist eine Einstellung, wonach eine theorien- und methodenpluralistisch offene sowie wertneutrale Darstellung (auch gegenüber Marx!) schlechthin gleichgesetzt wird mit “marxistisch”. Ganz nach dem Motto: Wer Marx zitiert (oder sogar ernsthaft diskutiert), der kann nur ein Marxist sein.

Man kann nicht sagen, dass Schumpeter selber stets Wertneutralität praktiziert habe, insbesondere auch nicht gegenüber seinen beiden Bezugspunkten Marx und Walras. Immerhin ging er jedoch in der Grundsatzfrage der Werturteilsfreiheit von ökonomischer Analyse einig mit Max Weber. Und ebenso ging er von der These aus, dass die Wahrheit einer Aussage nicht davon abhängig sei, wer diese Aussage formuliert habe.

Genau gegen diese Binsenwahrheit wird aber auf Wikipedia ständig verstoßen. Denn es wird nicht gefragt, ob eine Aussage mit der Wirklichkeit übereinstimmt, sondern welche Autoritätsperson dazu zitiert werden kann, und inwieweit diese Aussage dem Mainstreamdenken entspricht. Eine solche Vorgehensweise ist jedoch keineswegs wissenschaftlich (jedenfalls nicht im Sinne des Kritischen Rationalismus), sondern autoritär-dogmatisch (obwohl de facto auch unter vielen Wissenschaftlern stark verbreitet).

(1): Heinz D. Kurz: Joseph A. Schumpeter. Ein Sozialökonom zwischen Marx und Walras. Metropolis Verlag Marburg 2005.ISBN 3-89518-508-6. S. 11f, Anm. 1.

"Schumpeter ist Sozialist. Aber kein Sozialist, gehörte er zu den Marxisten oder zu den Fabiern, wird seinen Sozialismus bei Schumpeter finden. Nirgendwo sonst in der wissenschaftlichen Literatur sind daher auch die Grenzen der theoretischen Leistung von Marx mit solcher Schärfe abgesteckt wie von diesem Sozialisten; aber vielleicht ist auch nirgendwo sonst die außerordentliche Größe der Marxschen Leistung so unvoreingenommen und bleibend gewürdigt wie von diesem Nicht-Marxisten."

Edgar Salin. Einleitung. Zu: Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. A. Francke : Tübingen 6. Aufl. 1987 (New York 1942). ISBN 3-7720-1298-1. S. 8. (Basel, Okt. 1945).

US-Zentralbank: Anstatt politisch gezielt zu steuern, ideologisches Palaver

“Far from being powerless, the Bank of Japan could achieve a great deal if it were willing to abandon its excessive caution and its defensive response to criticism.” He rebuked officials hiding “behind minor institutional or technical difficulties in order to avoid taking action.”


Ben Bernanke: “Japanese Monetary Policy: A Case of Self-Induced Paralysis?” in bezug auf Japan in 1999-2000.

Derselbe Autor ist nun an der Spitze der US-Zentralbank. Die US-Wirtschaft ist in einer ähnlichen Situation, mit Deflation als der größeren Gefahr als Inflation. Bernanke tut aber nichts dergleichen, was die guten Ratschläge betrifft, die er damals für Japans Zentralbank so gratis feil hielt.

Die US-Zentralbank wartet unentschlossen ab, in selbst verschuldeter Lähmung, diagnostiziert Paul Krugman. Sie torpediert damit die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.

Paul Krugman: Paralysis at the Fed New York Times, 21. August 2010.

Donnerstag, 12. August 2010

Rheinischer Kapitalismus kontra Kasino-Kapitalismus

Michel Albert: Capitalisme contre capitalisme. Éd. du Seuil Paris VIe 1991. ISBN 2-02-013207-9.

Michel Albert war Commisaire général au Plan und Präsident der Assurances générales de France (AGF) und vergleicht in seinem Buch den rheinischen Kapitalismus mit dem neo-amerikanischen Kasino-Kapitalismus [l’économie-casino].

Die Konkurrenz dieser beiden Kapitalismusmodelle sei historisch gesehen die Ablösung der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Der Kasino-Kapitalismus sei dabei, den rheinischen Kapitalismus weltweit zu überrunden, obwohl der rheinische Kapitalismus der ökonomisch effizientere und sozial verträglichere sei.

Wikipedia.de spricht anstatt von “Kasino-Kapitalismus” bzw. "l’économie-casino" von einem “neo-liberalen Modell”. Diese Wortwahl ist bei Albert nicht zu finden und daher nicht authentisch.

Auch unter dem Stichwort “Rheinischer Kapitalismus” ist auf Wikipedia.de eine ideologische Herleitung herausgestellt:

"dem „neo-amerikanischen“ Modell der kapitalistischen Marktwirtschaft gegenüber, das von den Regierungen Ronald Reagans und Margaret Thatchers umgesetzt wurde. Während diese mehr vom Gedankengut Friedrich von Hayeks und Milton Friedmans geprägt sei, besitze laut Albert der Rheinische Kapitalismus, insbesondere in seiner deutschen Version der Sozialen Marktwirtschaft, sozialstaatliche Einrichtungen."


Bei Albert lassen sich zwar gewiss auch Anspielungen auf die betreffenden Ideologien finden. Die historische Entstehung der Kapitalismusmodelle selbst wird von ihm jedoch nicht durch regierungsseitig planmäßig umgesetzte Ideologien erklärt. Die Erklärung von gesellschaftlichem Wandel durch den Wandel von Ideen bzw. Ideologien blieb deutschem Idealismus vorbehalten und wäre etwa gemäß Pareto als Ein-Faktor-Theorie zu verdammen.

"Depuis cette époque, on a de plus en plus sacrifié l’avenir au présent, le long terme au court terme. Il est plaisant de voir que même un homme comme Carl Icahn est forcé d’en convenir. Carl Icahn, le pionnier des raiders qui a racheté TWA, condamne en effet l’atmosphère de casino de l`économie américaine qui vit au-dessus de ses moyens. “L’infrastructure tombe en ruine, dit-il, on ne construit plus, on n’entretient plus.” Et Icahn de comparer les États-Unis à une ferme où la première génération a planté, la deuxième a récolté et la troisième voit arriver l’huissier qui vient saisir la ferme. Ce qui commence se passer pour l’Amérique avec les Japonais. La qualité de production et du savoir-faire, elle aussi, est en régression relative." (S. 65f)


Der Kasino-Kapitalismus setzt auf kurzfristige Profite und opfert dafür die Zukunft auf, d.h. er ist nicht nachhaltig, was die Infrastruktur, ... usw. angeht.

"D’une facon générale, la fascination pour la Bourse, l’économié spéculative et les profits miracles qui a marqué les années quatre-vingt a donc joué contre l’industrie. Il est vrai qu’à l’époque des jeunes golden boys multimillionaires, à l’heure de l’économie-casino, les jeunes diplomés américains arrivant sur le marché de travail n’étaient guère incités à choisir la voie rude, fatigante et austère de la production industrielle. La caricature boursière de capitalisme s'est donc bel et bien retourné contre le capitalisme lui-même. Et, pendant que la finance occupait tous les esprits, l’industrie périclait."
(S. 68)

Die Börse hat die Industrie abgelöst. Der Kasino-Kapitalismus ist somit gegen den Industrie-Kapitalismus der alten Sorte gerichtet, richtet ihn geradezu zugrunde.

"En économie comme ailleurs, les caricatures se retiennent mieux que les portraits fouillés; les outrances forcent mieux l’attention que les nuances. En un mot, les paillettes et les empoignades boursières de l’économie-casino sont plus célèbres à travers le monde que le subtils équilibres de la Sozialmarktwirtschaft (économie sociale de marché) allemande." (S. 117)"


Da sich Karikaturen mit ihren idealtypischen Verzerrungen stets besser einprägen, bestimmen weltweit die Auswüchse des Kasino-Kapitalismus das Bild des zeitgenössischen Kapitalismus. Der Rheinische Kapitalismus hingegen steht kaum im Rampenlicht oder gilt dabei gar eher als Abweichung vom mustergültigen Modell des Kapitalismus.

"Ich kann auch Michel Albert nur empfehlen, weil es der Ständige Sekretär der französischen Akademie der Moral- und Politikwissenschaften ist. Die hat insofern Bedeutung als ich da Mitglied bin und der Papst auch."


Jean-Claude Juncker, Discours à l'occasion de la Petersberger Convention, Bonn. 12.03.2010.

'nudge theory'

"Behavioral Economics" gewinnt in den USA und in Großbritannien gegenüber der Mainstream Economics stärker an politischem Einfluss, d. h. Zugang zur Regierungsebene.

So der Bericht von
Guy Adams: First Obama, now Cameron embraces 'nudge theory'. Andy McSmith reports on the doctrine sweeping Downing Street. The Independent, 12. August 2010.

Die Nudge Theorie wird zurückgeführt auf dieses Buch:

Richard H. Thaler, Cass R. Sunstein: Nudge: improving decisions about health, wealth, and happiness. Yale University Press, 2008.

Montag, 9. August 2010

Selbstzensur

Wo eine "gut funktionierende" kulturelle Hegemonie der Herrschenden besteht, ist Zensur durch die Herrschenden nicht mehr nötig. In der Regel kann man sich auf den vorauseilenden Gehorsam der "Kritiker" verlassen.

Nach 30 Jahren hat der Westdeutsche Rundfunk (WDR) die Sperre für einen 30 Jahre alten Film des Journalisten Günter Wallraff (67) über die "Bild"-Zeitung aufgehoben.

Der "Springer"-Verlag beteuert, er habe zu keiner Zeit rechtliche Schritte gegen die Veröffentlichung des Films erwogen.

WDR gibt Wallraff-Film über "Bild" frei. newsroom.de, 09.08.2010.

Sonntag, 8. August 2010

Konjunkturprognose

DIW-Zimmermann hat seinen Prognoseverzicht zu Beginn der aktuellen Wirtschaftskrise erneut verteidigt.

"Wir ordnen uns den Medien unter" Er wollte auf Konjunkturprognosen verzichten. Jetzt sagt Klaus Zimmermann uns wieder die Zukunft voraus. Warum? Von Marc Brost, Mark Schieritz DIE ZEIT, 5. August 2010.

Insofern zu recht, als eine Prognose in ihrer Qualität immer abhängig ist von dem zugrunde gelegten Prognose-Modell. Und Konjunkturforscher im Allgemeinen wie das DIW im Besonderen sind nicht bekannt dafür, in ihren Modellen Krisen-Szenarien vorzusehen. So häufig solche auch in der Wirklichkeit sich ereignen mögen. Insofern zieht der Ökonom vor, Philosoph zu bleiben und zu schweigen.

Er bleibt dadurch auch Politiker. Denn Zimmermann beruft sich auch noch auf die krisenverschärfende Wirkung einer Prognose, die der Wirklichkeit zu nahe komme. Vielleicht könnte hinterher jemand behaupten, dass die Krise erst durch die DIW-Prognose hervorgerufen worden sei.

Das weist auf die grundlegende Krux der herrschenden Ökonomie hin: Erklärungen werden post factum gemacht. Die Modellannahmen liegen a priori fest. Nachdem der Fakt passiert ist, wird hinterher die passende Erklärung zurecht geschustert, gerade wie sie zu den festliegenden Hintergrunds-Annahmen passend erscheint. Insofern ist Paretos Theorie der Residuen und der ihnen entsprechenden Rationalisierungen zwar sehr vage, aber immer noch wirklichkeitsadäquater als jedweder ökonomisch-mathematische Formalismus.

Die wahre wissenschaftliche Methode bestünde aber darin, Modellannahmen zuvor unabhängig von ihren Deduktionen an der Wirklichkeit zu überprüfen. Und insbesondere unterschiedliche Modellierungen miteinander zu konfrontieren, inwieweit sie den wirklichen Tatsachen entsprechen.

Und dann ist natürlich auch der sozialstrukturelle und institutionelle Datenkranz eines ökonomischen Modells explizit anzugeben. Nur so kann man nicht nur konjunkturelle Extrapolationen, die auf einer historischen Fortschreibung einer als dauerhaft unterstellten Struktur beruhen, ersetzen durch Modelle des sozio-ökonomischen Wandels, die auch Strukturbrüche ("Transformationen" ?!) vorsehen.

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Samstag, 7. August 2010

Basarökonomie

Droht Deutschland die Deindustrialisierung?

"Basarökonomie" soll heißen, dass
"deutsche Industrieunternehmen zu Handelsvertretungen verkämen. Der in Deutschland erstellte Mehrwert würde sich auf das Aufkleben der Markenschilder beschränken, während die eigentliche Produktion außerhalb der Landesgrenzen stattfände. Die Exporte blieben zwar hoch, die Importe aber würden steigen." (Gornig/Kritikos)


Das Schlagwort "Basarökonomie" geht auf Hans-Werner Sinn zurück.

Gornig/Kritikos halten diese These aufgrund der aktuell beobachtbaren Entwicklung widerlegt. Denn:

"Vielmehr war die Entscheidung gefragt, entweder die Produktion in einem Industriezweig in Deutschland ganz aufzugeben oder sie hier mit allen wesentlichen Komponenten fortzuführen. Die Folge war ein intensiver sektoraler Strukturwandel."


Martin Gornig, Alexander Kritikos: Totgesagte leben länger: Zu den Perspektiven des Industriestandortes Deutschland. DIW-Wochenbericht Nr. 31/2010 vom 4. August 2010.

Wie dem auch sei: Der Industriestandort wie auch die Wissensgesellschaft Deutschland bzw. Europa hängen ab von ihrer Infrastruktur sowie der Qualifikation der Menschen. Wer aufgrund angeblicher Sparzwänge in der politischen Rhetorik einen Austeritäts-Diskurs forciert und realpolitisch Investitionen im eigenen Lande zurückfährt oder gar ganz zum Versiegen bringt, wie das in den letzten Jahrzehnten in Europa zu beobachten ist, sägt auf kurz oder lang den eigenen Ast ab, auf dem man noch sicher zu sitzen glaubt.

Donnerstag, 5. August 2010

Krugman über Steuerschwindelpolitiker

Paul Krugman befasst sich in seiner Kolumne vom 5. August 2010 mit dem republikanischen Abgeordneten Paul Ryan und seinem “Roadmap for America’s Future”, der derzeit von den US-Medien hochgejubelt worden ist.

The Flimflam Man, The New York Times, 05.08.2010

Er stellt fest, dass die von Ryan hinausposaunten Einsparungen am Staatshaushalt auf einer Milchmädchenrechnung beruhen, auf heroischen Annahmen und Außerachtlassen von realistischen Prognosen. Im Grunde wird von Ryan trotz widriger Wirtschaftssituation wiederholt, was Republikaner in den letzten Jahrzehnten immer wieder versucht haben: Steuerermäßigungen für die obersten Zehntausend durchzudrücken und Kürzungen an Leistungen samt Steuererhöhungen für die mittleren und unteren Einkommensgruppen.

Das aktuelle Medienspektakel zeigt lediglich, nicht dass die US-Republikaner politisch weiser geworden seien, sondern dass sie die US-Medien noch immer fest im Griff haben.

Die funktionalistische Schichtungstheorie

(1) Talcott Parsons (1940): Ansatz zu einer analytischen Theorie der sozialen Schichtung

„soziale Schichtung“: die differentielle Rangordnung, nach welcher Individuen in einem gegebenen sozialen System eingestuft werden und die es bedingt, dass sie in bestimmten, sozial bedeutsamen Zusammenhängen als einander über- und untergeordnet behandelt werden

Dieses Rangordnungssystem beruht also auf den in dem jeweiligen sozialen System vorherrschenden Maßstäben moralischer Wertung („Schichtungsskala“), bei Parsons ein Hauptaspekt der „normativen Orientierung“ des sozialen Handelns (diese stellt eine analytische Kategorie dar aus seiner „Theorie des Handelns“ [action theory]).

(2) Kingsley Davis (1942)

„Schichtung“: die ungleiche Bewertung verschiedener Positionen

„Position“: ein Platz in einer jeweils gegebenen Sozialstruktur

„Wert“: die Einstellung, welche ein Objekt als wünschenswert oder nicht wünschenswert definiert und somit die Auswahl zwischen verschiedenen Zielen erklärt

Die allgemeinen Werte bestimmen das Prestige-System einer Gesellschaft und dienen als Basis für Bewertungen und Solidaritätsgefühle innerhalb der gleichen Schicht.
Wenn das Wertesystem und dessen Erhaltung bereits ein notwendiges Ziel darstellt, so beinhaltet es außerdem ein besonderes System von Zielen, die ihrerseits spezifische Bedürfnisse hervorrufen, welche zu erfüllen die sozialen Positionen geschaffen sind. Die Rangordnung der Werte einer Gesellschaft führt demnach zu einer Rangordnung der Bedürfnisse, und diese wiederum strukturiert eine dementsprechende Rangfolge der sozialen Positionen.

Eine Position wird desto höher bewertet, je bedeutender und wichtiger das gesellschaftliche Bedürfnis ist, dem sie dient, gemessen an der jeweiligen allgemeinen gesellschaftlichen Rangordnung der Werte. Es wird also nichts anderes bewertet als der „funktionale“ Beitrag, den eine soziale Position für das gesamte System leistet: „die Bedeutung seiner Funktion“.

Daneben gibt es noch zwei weitere Faktoren, die modifizierend in die Bewertung eingreifen, nämlich die „Seltenheit der Mittel“ zur Erfüllung einer bestimmten Funktion, sowie die Anzahl der Personen, die vom Inhaber einer bestimmten sozialen Position kontrolliert werden müssen, sowie das Ausmaß dieser Kontrolle.

(3) Davis/Moore (1945)
Ausgehend von der These, dass keine Gesellschaft klassenlos oder ungeschichtet sei, wird der Versuch unternommen, mit funktionalistischen Kategorien die universelle (d. h. für alle Gesellschaften wirksame!) Notwendigkeit zu erklären, die in allen Gesellschaftssystemen Schichtung hervorrufe.

Die Problemstellung wird in zweierlei Aspekte aufgegliedert:
a) Warum erlangen verschiedene soziale Positionen unterschiedliche Grade an Prestige?
b) Wie gelangen die verschiedenen Individuen in diese unterschiedlichen sozialen Positionen?

Um als soziales System funktionieren zu können, muss eine Gesellschaft ihre menschlichen Glieder 1. mit irgendeinem wirksamen Mechanismus auf die erforderlichen und entsprechend vorhandenen Positionen verteilen und 2. jene dazu bringen, diese Positionen mit deren spezifischen Handlungserwartungen pflichtgemäß auszufüllen.
Wenn die mit den verschiedenen Positionen verknüpften Pflichten alle gleichermaßen angenehm wären für die betreffenden Menschen sowie in gleichem Maße wichtig für das Überleben der betreffenden Gesellschaft und sämtlich dieselben Fähigkeiten und Talente beanspruchten, machte es keinen Unterschied, wer welche Positionen besetzt. Die Frage der sozialen Schichtung wäre dann von geringer Bedeutung, da das Problem der sozialen Platzierung für die Gesellschaft irrelevant wäre. Tatsächlich besteht jedoch ein großer Unterschied in dem Ausmaß, in dem bestimmte Positionen angenehmer zu erfüllen sind als andere, einige besondere Ausbildung oder Talente erfordern sowie für die Gesellschaft insgesamt funktional wichtiger sind.

Die Konsequenz hieraus ist folgende: Notwendigerweise muss eine Gesellschaft 1. über irgendeine eine Art von Belohnung verfügen, die sie als Anreiz einsetzt, und 2. ein Verfahren, um diese Belohnungen entsprechend den Positionen unterschiedlich zu verteilen. Die Belohnungen und ihre Verteilung werden zu einem Teil der sozialen Ordnung und lassen in dieser Weise ein System sozialer Schichtung entstehen.
Soziale Ungleichheit ist demzufolge ein unbewusst entworfener Plan, durch den Gesellschaften gewährleisten, dass die wichtigsten Positionen gewissenhaft von den qualifiziertesten Personen ausgefüllt werden.

Daher heimsen im Allgemeinen solche Positionen die besten Belohnungen ein und erhalten den höchsten Rang zuerkannt, die
a) die größte Bedeutung für die Gesellschaft haben,
b) die meiste Ausbildung oder das größte Talent erfordern.

Einschränkend kann man jedoch hinzufügen, dass eine Gesellschaft die sozialen Positionen nicht im genauen Verhältnis zu ihrer funktionalen Bedeutung belohnen muss. Es reicht in der Regel völlig aus, dass die Belohnungen genügend reichlich sind, dass dabei gesichert wird, dass die sozialen Positionen mit angemessener Kompetenz ausgeübt werden.

(4) M. J. Levy (1950; 1952)
In jeder Gesellschaft gibt es eine Anzahl von Aktivitäten, die regelmäßig ausgeführt werden müssen, damit die Gesellschaft dauerhaft bestehen kann. Diese Aktivitäten müssen unterteilt und entsprechend ausgebildeten und motivierten Individuen zugeordnet werden. Die universellen Probleme des Mangels und der Ordnung sind unlösbar ohne legitimierte Zuordnung von Eigentumsrechten sowie Autorität. Und diese wiederum sind unerreichbar ohne eine vernünftig integrierte Rollendifferenzierung.
„Schichtung“: der besondere Typ von Rollendifferenzierung, welcher unterscheidet zwischen höheren und tieferen Standorten vermöge eines oder mehrerer Kriterien
Insofern die Universalität des Mangels gegeben ist, ist wesentlich ein System differentieller Zuordnung der seltenen Werte der Gesellschaft (Reichtum, Macht, Magie, Frauen, zeremonieller Vorrang, usw.). Sanktionen und Initiative müssen an bestimmte Statuspositionen in unterschiedlichem Maße vergeben werden.

(5) Tumin (1953)
Tumin liefert eine Kritik an Davis/Moore.
Dabei gesteht er Davis/Moore Folgendes zu: Es seien zwei Arten von Ungleichheiten universell gegeben, d. h. in jeder Gesellschaft existent:
a) die Ungleichheit zwischen den Normkonformen und den Abweichlern von sozial vorgegebenen Normen;
b) die Ungleichheit zwischen voll sozialisierten und den nicht oder unvollständig sozialisierten Mitgliedern einer Gesellschaft.

Er bestreitet jedoch sodann, dass soziale Schichtung aus der notwendig unterschiedlichen Belohnung erklärt werden könne. Dabei stellen für ihn die spezifische Verantwortung und damit einhergehenden Vorrechte einer bestimmten sozialen Position nur Mittel zum Funktionieren des sozialen Systems dar, nicht jedoch eine unterschiedliche gesellschaftliche Wertung von Positionen.
Entgegen Davis/Moore sieht Tumin ganz andere Funktionen, besser gesagt: soziale Wirkungen von sozialer Schichtung.

a) Soziale Schichtung schränkt die Möglichkeiten zur Entdeckung von verfügbaren Talenten in der Gesellschaft ein. Dies resultiert aus der Tatsache des ungleichen Zugangs zu angemessener Motivation, zu Rekrutierungskanälen und Ausbildungszentren.

b) System sozialer Schichtung versorgen Eliten mit der politischen Macht, die sie benötigen, um die Akzeptanz und Dominanz ihrer konservativen Ideologien zu erlangen, die den Status quo als „natürlich“ und „moralisch gerechtfertigt“ legitimieren.

c) Soziale Schichtung verteilt günstige Selbstbilder (von der eigenen Person) bzw. das Selbstwertgefühl ungleich unter der Bevölkerung.

d) Insofern die Ungleichheiten im Hinblick auf die sozialen Belohnungen für die weniger Privilegierten in der Gesellschaft nicht voll akzeptabel gemacht werden kann, erzeugt soziale Schichtung Feindseligkeit, Argwohn und Misstrauen zwischen den unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft und schränkt daher die Möglichkeiten einer höheren sozialen Integration ein.

e) Insofern Sinn und Bedeutung signifikanter Mitgliedschaft vom Platz eines Individuums auf der Prestige-Leiter einer Gesellschaft abhängen, bewirkt soziale Schichtung, dass signifikante Mitgliedschaften in der Gesellschaft ungleich verteilt werden. Daraus folgen Ungleichheit in der Loyalität zum Gesamtsystem sowie in Motivation bzw. Apathie.

An weiteren Kritikpunkten führt Tumin an:

Daraus, dass ein soziales Element überall anzutreffen sei, kann logisch nicht zwingend geschlussfolgert werden, dass es eine positive Funktionalität aufweise oder seine Existenz unvermeidlich sei.

Die Gewissenhaftigkeit, mit der eine soziale Position ausgefüllt werde, hängt nicht allein von der Höhe der Belohnung ab, sondern auch
a) wie gut verfügbare Talente identifiziert werden,
b) wie gut sie ausgebildet werden,
c) wie angemessen sie platziert werden, und
d) wie stark die Handelnden motiviert sind, gewissenhaft zu sein.
Maximale Ausschöpfung von Talent erfordert somit die Chancengleichheit im Wettbewerb um die vorhandenen Stellen.

Zudem besteht in jedem hierarchischen System mit formal differenzierten und unterschiedlich bewerteten Positionen (Bürokratie) ein beständiger Druck zur Neudefinition bestehender Belohnungen und Bewertungen durch die davon Betroffenen (relative Deprivation, soziale Vergleichsprozesse mit relevant gehaltenen Bezugsgruppen). Es steht zu vermuten, dass Ungleichheiten der Belohnung für einen ähnlichen Grad an Gewissenhaftigkeit oder Leistung eher eine Abnahme als eine Zunahme derselben bewirken.


Kingsley Davis, Wilbert E. Moore: Some Principles of Stratification. ASR 1945, S. 243-249. Dt.: Einige Prinzipien der Sozialen Schichtung (1945). In: Hans Hartmann, Hrsg.: Moderne amerikanische Soziologie. Stuttgart 1973, S. 396-410.

Melvin M. Tumin: Some Principles of Stratification. A Critical Analysis. ASR 1953, 18, S. 387-394.

Kingsley Davis: Reply. ASR 1953, S. 394-397.

George A. Huaco: A Logical Analysis of the Davis-Moore Theory of Stratification. ASR, 1963, 28, S. 801-804.

Arthur L. Stinchcombe: Some Empirical Consequences of the Davis-Moore Theory of Stratification. ASR, 1963, 28, S. 805-808.

Renate Mayntz: Kritische Bemerkungen zur funktionalistischen Schichtungstheorie. In: D. W. Glass, René König, Hrg.: Soziale Schichtung und soziale Mobilität. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 5. Köln 1965, S. 10-28.

Ralf Dahrendorf: Die gegenwärtige Lage der Theorie sozialer Schichtung. Sowie ders.: Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. In: ders.: Pfade aus Utopia. München 1967.

Erhard Wiehn: Theorien der sozialen Schichtung. München 1968.

Dienstag, 3. August 2010

Enzyklosklerose

Johannes Heinrichs nannte es "Historismus".

"Der Historismus besteht in der resignativ 'aufgeklärten Einsicht', daß Sammeln und Sortieren des geistesgeschichtlichen Materials der eigentlich angemessene Umgang mit Gedanken sei."
Johannes Heinrichs: Die Logik der Vernunftkritik. Kants Kategorienlehre in ihrer aktuellen Bedeutung. Eine Einführung. UTB 1412. Francke Verlag : Tübingen 1986. ISBN 3-7720-1726-6. S. 4.

Lexikokraten, die Herrscher über die toten Gedanken, sie schalten und walten auf wikipedia.de.

Mit der so pauschal abwertenden wie scheinbaren Begründung "unrettbar, wie schon früher gesagt" hatte Ca$e am 13. Juli 2010 ein "Überarbeiten"-Baustein über das Stichwort "Pseudo-Erklärung" gesetzt. "Denn" am 6. April 2009 hatte derselbe ehrenwerte Wikipedianer bereits schon (vermutlich in weiser Voraussicht der darauffolgenden Überarbeitungen) kritisch angemerkt: "(WP:NPOV, WP:TF, WP:Q. einzelnachweise via references bitte nur für seitenbelege, nicht für inhaltliche feinabstimmungen)".

Autor Meffo hat jedoch den Überarbeiten-Baustein entfernt, weil dieser trotz des expliziten Hinweises auf die entsprechende Diskussionsseite keinerlei Begründung (weder pauschal, noch konkret) auf derselben mitbrachte. Dieselbe wurde von Ca$e erst dann nachgeliefert, nachdem Meffo aufgrund der Vandalismusmeldung von Ca$e durch den Administrator NebMaatRe mit Entzug der Sichterrechte und der Auflage, verschiedene Stichworte wunschgemäß zu überarbeiten, belegt worden war. Nach kurzer Zeit der Überlegung hat Meffo daraufhin sein Wikipedia-Benutzerkonto sperren lassen. Denn er findet es letztendlich zu dumm, dass man für mühevolle Mitarbeit nicht nur kein Lob, sondern dazu ausschließlich böse Stimmungsmache einstecken darf. Nicht jeder ist zum Masochisten geboren.

„... ein Grund, warum Wikipedia so erfolgreich ist, besteht darin, dass ich von Anfang an einen gewissen Ton gesetzt habe: Intelligente Leute arbeiten nicht freiwillig in einer Atmosphäre von Missachtung und Beschimpfungen.“ - Spiegel-Online-Interview mit Jimmy Wales, 7.1.2005
(zitiert aus der Sammlung von Orakelsprüchen auf Benutzer:Ca$e)

Was zeigt uns dieser kaum untypische Vorgang indes? Trotz des gegenteiligen Anscheins und gewisser naiver Vorstellungen über liberale und kritische Öffentlichkeit, die einem vielleicht anerzogen sind: die meisten Formen sozialer Kooperation im Internet stellen nichts anderes dar als Möglichkeiten, dass Autoren sich freiwillig selbst ausbeuten dürfen. Was gesagt werden darf, steht nicht nur unter dem wirtschaftlichen Verwertungszwang, sondern auch unter der selbstherrlichen Zensur einer Clique oder Oligarchie, die die Regeln stets nach ihrem eigenen Gutdünken auslegt. Wer sich gutgläubig auf das ominös aufgezeigte Regelwerk beruft, kommt sich dann vor wie der Hase, der mit dem Igel wettläuft.

So ist typisch für das Verhalten des Administrators, dass er ob der Vandalismusmeldung sich nicht mit Meffos Entfernung des unbegründeten Bausteins beschäftigt hat, sondern mit den erst später nachgeschobenen Vorwürfen gegenüber Meffos Arbeitsweise, die zu dem betreffenden Zeitpunkt von dem Beschwerdeführer noch gar nicht formuliert und demzufolge überhaupt diskutierbar waren. Denn letzterer versteifte sich schon immer auf die Position, nach der eine beiderseitige Diskussion von konkreten Argumenten stets für unmöglich deklariert worden ist (siehe Werturteil/Diskussion).

Sichtbar wird hierdurch ein Mechanismus der Stigmatisierung, wodurch ein Bild eines Benutzers konstruiert wird, wobei er aufgrund bestimmter Anhaltspunkte aus der Historie durch andere Benutzer in seinem Lexikographen-Dasein diskreditiert wird. Der Administrator sanktioniert dann nicht mehr äußerlich beobachtbare Verhaltensweisen, sondern die (von ihm unterstellten) Gesinnungen.

"Gesetze, die nicht die Handlung als solche, sondern die Gesinnung des Handelnden zu ihren Hauptkriterien machen, sind nichts als positive Sanktionen der Gesetzlosigkeit."
So geschrieben von Karl Marx 1842 in seinen "Bemerkungen über die preußische Zensurinstruktion". (MEW 1,14).