Dienstag, 26. April 2011

Dialektik bei Marx



Bekannt ist, dass Marx seine eigene Metatheorie mit den Begriffen „dialektisch“, „materialistisch“ und „historisch“ beschrieben hat. Nicht bekannt ist, was er damit genau gemeint hat.

Eine ausführliche Exposition dessen, was er als „Dialektik“ praktiziert hat, wurde von Marx selbst nicht mehr geliefert. Wir haben also dazu nur seine verstreuten kursorischen Anmerkungen zu seiner Methode sowie seine Methode, wie er sie als „Logik in Aktion“, etwa im „Kapital“, angewandt hat.

Man mag von Georg Lukács halten, was man will; zweifellos zählt es aber zu seinem Verdienst, die Frage nach der Marxschen Methode der Wissenschaft seinerzeit als Problem wieder neu gestellt zu haben. So sagt Lukács in seinem Vorwort zu ‚Geschichte und Klassenbewußtsein‘ aus dem Jahre 1922:
„Es ist allgemein bekannt, daß sich Marx selbst mit dem Gedanken trug, eine Dialektik zu schreiben. ‚Die rechten Gesetze der Dialektik,‘ schrieb er an Dietzgen, ‚sind schon im Hegel enthalten; allerdings in mystischer Form. Es gilt, diese Form abzustreifen.‘ Diese Blätter – dies muß hoffentlich nicht eigenst betont werden – erheben keinen Augenblick den Anspruch, selbst die Skizze zu einer solchen Dialektik zu bieten. Wohl aber ist es ihre Absicht, eine Diskussion in dieser Richtung anzuregen; diese Frage – methodisch – wieder auf die Tagesordnung zu stellen. Darum wurde jede Gelegenheit benutzt, auf diese methodischen Zusammenhänge hinzuweisen, um sowohl die Punkte, wo Kategorien der Hegelschen Methode für den historischen Materialismus ausschlaggebend geworden sind, wie jene, wo die Wege von Hegel und Marx sich scharf scheiden, möglichst konkret aufzeigen zu können, um damit Material und – wenn möglich – Richtung für die sehr notwendige Diskussion dieser Frage zu liefern. Diese Absicht hat teilweise die ausführliche Behandlung der klassischen Philosophie im zweiten Abschnitt des Aufsatzes über die Verdinglichung bestimmt.“ (1)
Es wird damit also nicht nur das Verhältnis von Marx zu Hegel (und zu Feuerbach und anderen deutschen und französischen Philosophen), sondern auch zur klassischen Nationalökonomie, etwa eines David Ricardo, sowie zu den französischen Materialisten und Historikern als Problem neu aufgeworfen.

Diese Aufgabe ist aber nicht einfach im herkömmlichen Sinn von Textexegese zu verstehen, also dass man bestimmte Texte kennenlernen muss, um die darin von den betreffenden Autoren gebrauchten und von Marx in einer bestimmten Weise entlehnten Begriffe und deren Bedeutungen zu erlernen. Es ist vielmehr so, dass die von Marx kritisierten Texte von Marx so zu einer Synthese verarbeitet worden sind, dass diese als Bestandteil dieser Synthese mit zum Resultat der Marxschen Theorie gehören.

Damit ist nämlich auch das wesentliche Merkmal des dialektischen Verfahrens gekennzeichnet, das vielen Hegel- und Marxkritikern entgangen ist, obwohl es so klar und deutlich vor ihren Augen praktiziert worden ist. Es entzieht sich ihren Blicken, weil es kontra-intuitiv zur gewohnten analytischen Denkweise ist, wie sie von den meisten Marxkritikern auf die eine oder andere Weise selber verwendet wird. So hat zum Beispiel Karl Popper die Eigenart des dialektischen Denkens nicht deutlich genug erfasst, obwohl er sich selber mit fast ähnlichen Argumenten gegen fixe Definitionen in den Wissenschaften ausgesprochen hat.

Lukács schließt sein Vorwort mit dem Hinweis auf das Mangelhafte seines eigenen Lösungsversuchs bzw. seiner Problemdarstellung. Was er allerdings als die grundlegende „Schwierigkeit“ beim Verständnis der Dialektik angibt, läuft indes auf die Wesensbestimmung der Dialektik hinaus (was er wohl nicht deutlich genug herausstellt):
„Bei der Erwähnung solcher Mängel sei der – dialektisch unbewanderte – Leser nur noch auf eine, allerdings unvermeidliche, im Wesen der dialektischen Methode liegende Schwierigkeit hingewiesen. Auf die Frage der Begriffsbestimmungen und der Terminologie. Es gehört zum Wesen der dialektischen Methode, daß in ihr die – in ihrer abstrakten Einseitigkeit – falschen Begriffe zur Aufhebung gelangen. Dieser Prozeß des Aufhebens macht aber zugleich notwendig, daß dennoch ununterbrochen mit diesen – einseitigen, abstrakten und falschen – Begriffen operiert wird; daß die Begriffe weniger durch eine Definition, als durch die methodische Funktion, die sie als aufgehobene Momente in der Totalität erhalten, zu ihrer richtigen Bedeutung gebracht werden. Dieser Bedeutungswandel ist aber in der von Marx korrigierten Dialektik noch weniger terminologisch fixierbar als in der Hegelschen selbst. Denn wenn die Begriffe nur gedankliche Gestalten geschichtlicher Wirklichkeiten sind, so gehört ihre – einseitige, abstrakte und falsche – Gestalt als Moment der wahren Einheit eben mit zu dieser wahren Einheit selbst. Die Ausführungen Hegels über diese terminologische Schwierigkeiten in der Vorrede zur ‚Phänomenologie‘ sind also noch richtiger, als es Hegel dort selbst meint, wenn er sagt: ‚So wie der Ausdruck der Einheit des Subjekts und Objekts, des Endlichen und Unendlichen, des Seins und Denkens usf. das bedeuten, was sie außer ihrer Einheit sind, in der Einheit also nicht als das gemeint sind, was ihr Ausdruck sagt: ebenso ist das Falsche nicht mehr als Falsches ein Moment der Wahrheit.‘ In dem rein Geschichtlichwerden der Dialektik wird diese Feststellung noch einmal dialektisch: das ‚Falsche‘ ist zugleich als ‚Falsches‘ und als ‚Nicht-Falsches‘ ein Moment des ‚Wahren‘.“ (2)
Es ist also die Eigenart von Marx und des von ihm von Hegel übernommenen Verfahrens, zur Kritik einer Theorie deren Begriffe zu verwenden, aber auf eine solche Weise, dass deren Falschheit bzw. Nichtangemessenheit deutlich zu Bewusstsein gebracht wird. Wer diese Verfahrensweise nicht durchschaut, sondern ständig nach festen Begriffsbestimmungen bei Hegel oder Marx äugt, wird sich ständig verladen vorkommen (Popper: „Scharlatanerie“). Denn er kommt sich vor wie der Hase beim Wettlauf mit dem Igel. Dabei tun sowohl Hegel wie Marx nichts anderes, als was Popper immer wieder gefordert hat: sie kritisieren Begriffe und Theorien.

Dabei inspiriert Hegels Dialektik aber nicht nur Marxens Metatheorie. Über Marxens Menschenbild (was heutzutage in der soziologischen Theorie als das „Akteursmodell“ firmiert) bis zu den Fragen der Entfremdung und Verdinglichung, den ideologischen Formen der Alltagstheorien der Handelnden wird dialektisches Denken von Marx dazu benutzt, um theoretische Aussagen und empirische Aussagen über die gesellschaftliche Wirklichkeit und deren geschichtlichen Abläufe zu gewinnen. Lukács verstrickt sich bei der Erörterung dieser Fragen in die Schwierigkeiten, die sich bei der Exposition einer empirischen Theorie ergeben, wenn dieselbe mit zweierlei Metatheorien konfrontiert wird (objektiver Idealismus bei Hegel; historischer Materialismus bei Marx). Eine weitere metatheoretische Alternative zu Hegel und Marx bieten Max Weber oder Georg Simmel an.(3) Diese Konfrontation von Metatheorien ist gewiss mühselig und oft unerquicklich. Wer aber Fallibilismus und Theorienpluralismus ernst nimmt, kommt um diese Mühsal nicht herum. Die Alternative hierzu wäre nämlich Dogmatismus und Theoriemon(opol)ismus.

Die Dialektik ist aber nicht damit zu erledigen, dass man sie dogmatisch oder irrational schimpft. Dazu braucht es etwas mehr, nämlich Argumente, die auf deren Problemstellung und vorgeschlagene Lösungsansätze eingehen.

(1) Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand. November 1970. (Neuwied Berlin 1968). S. 55.
(2) Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand. November 1970. (Neuwied Berlin 1968). S. 56.
(3) Georg Simmel: Philosophie des Geldes. (hrg. Von David P. Frisby, Klaus Christian Köhnke). Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1. Aufl. 2000. ISBN 3-51858298-4.

Donnerstag, 21. April 2011

Asylum ignorantiae

“Die Scholastiker haben ein Axiom: Ein Philosoph darf sich nicht auf Gott berufen, ‘Non est philosophi recurrere ad Deum’; sie nennen einen solchen Rückgriff ‘das Asyl der Unwissenheit’. In der Tat, was kann absurder sein, als in einem naturwissenschaftlichen Werk zu sagen, ‘Die Steine sind hart, das Feuer heiß, die Kälte läßt die Flüsse zufrieren, weil Gott es so gewollt hat.’”

Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Zweiter Teil der Auswahl. Übersetzt und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Felix Meiner Verlag Hamburg 2006. ISBN 13-978-3-7873-1786-8. S. 98.

Die Situationslogik ist ähnlich wie im Theater, wo schlechten Schauspieldichtern nichts Besseres einfällt, als die dramatischen Verwirrungen durch die Erscheinungen eines Gottes von hoch dadroben (deus ex machina) zu einem Happy End aufzulösen. Dieses Faible für einen Deus ex machina gibt es auch bei obrigkeitsgläubigen Wählern.

Methodologisch gesehen handelt es sich beim asylum ignorantiae um eine Pseudo-Erklärung. Abstrakt genommen wird hier zu Erklärungszwecken ein undefiniertes Konzept eingesetzt ("Gott"), und zwar "ad hoc". Wir bekommen also in diesem untauglichen Erklärungsversuch nichts weiter geliefert als ein bloßes Wort (das man genauso gut durch ein anderes Wort ersetzen könnte, zum Beispiel: "Teufel", "die Welt", "Wallstreet", die "Juden", die Bolschewisten", das "Finanzkapital", "der "Weltmarkt", ...). Der Hauptfehler besteht darin, dass mit diesem Wort eher eine erklärende Theorie angedeutet wird, die aber nicht ausgeführt wird, so dass man den Wahrheitsgehalt von deren Behauptungen unabhängig vom fraglichen Anwendungsfall auch in anderen Fällen nachprüfen könnte. Der Begriff des "asylum ignorantiae" beweist, dass die Kritik an Wortemacherei nicht erst seit logischem Positivismus und Popper in der Welt ist, sondern dass auch Scholastiker kritisch genug waren. Freilich durffte man nicht offen die religiöse Hegemonie der Kirche in Frage stellen, wenn man nicht seine Bücher oder sich selbst verbrannt sehen wollte.(1)

Dieser allgemein wissenschaftstheoretische Hintergrund ist allerdings nicht das ganze Spiel. Mit dem Begriff "asylum ignorantiae" wurde geistesgeschichtlich gesehen als Kritikargument die Trennung zwischen Philosophie und Theologie ins Spiel gebracht. Gemäß Hans Alberts Kritik am Territorialverhalten von Wissenschaftlern geht es beim wissenschaftlichen Erklären aber um die betreffenden Problemstellungen, nicht jedoch um die Fachgrenzen, die sich wissenschaftsgeschichtlich gesehen herausgebildet haben, oder die angebliche Autonomie von Fachwissenschaften. Disziplingrenzen sollten per se nicht als Gegenargument zuzulassen sein; es sei denn, es handele sich dabei um einen Nachweisversuch, dass es sich in der jeweils vorliegenden Frage um Unterschiede in der Problemauffassung selbst handele, d.h. mit anderen Worten, um sachlich verschiedene Probleme (Etwa in der Theologie und in der Naturwissenschaft. Offensichtlich differieren diese beiden "Wissenszweige" zumindest in den von ihnen üblicherweise angewandten Methoden. Während die Naturwissenschaften stark auf Experimente vertrauen, so setzen die Theologen, wenn sie nicht ausgesprochene Magier sind, die Geister beschwören, eher auf die geheiligte Routine von Ritualen.).

(1) „Was die gelegentlich recht weit getriebenen philosophischen Reflexionen betrifft, so glaube ich nicht, daß eine Entschuldigung für sie erforderlich ist. Denn da sie nur die Absicht haben, den Menschen davon zu überzeugen, daß der beste Gebrauch, den er von seiner Vernunft machen kann, darin besteht, seinen Verstand unter den Gehorsam des Glaubens gefangen zu nehmen, dürften sie eine Danksagung der theologischen Fakultäten verdienen.“ (Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Zweiter Teil der Auswahl. Übersetzt und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Felix Meiner Verlag Hamburg 2006. ISBN 13-978-3-7873-1786-8. S. 45.)

Bayles Formulierungen liefern insofern auch interessante Belege für die Sklavensprache, der sich zu allen Zeiten auch kritische Geister befleißigen mussten, um nicht unter die Räder der Zensur zu kommen. (Nur) die Gedanken (des Lesers) sind frei!

Heute ist das die "öffentliche Meinung" in Form von Gatekeepern und Verlegern, die insbesondere unter der Aufsicht der Werbeindustrie agieren. Die scheinbare Freiheit im Internet hängt ökonomisch stark von den Einnahmen aus Werbung ab. Eine Gegenkultur wurde kommerzialisiert.

Montag, 18. April 2011

Die offene Gesellschaft und ihre falschen Propheten

1. Die offene Gesellschaft und ihre falschen Propheten (Download)
2. Von Fallibilisten und Popperizisten
3. Ist Poppers Sozialphilosophieren fallibilistisch?
4. Das Elend des Popperizismus
5. Fallibilismus vs. Fundamentalismus
6. Theorienpluralismus
7. Theorienvergleich
8. Wissenschaft und Methodologie
9. Abgrenzung von Wissenschaft ist Pseudowissenschaft
10. Pseudo-Erklärung
11. Dogmatismus
12. Vom Wert der Klassiker
13. Zur Epidemiologie der Hegel-Phobie
14. ad hominem
15. Die aristotelischen Wurzeln des Hegelianismus
16. Bei Definitionen kämpft Popper gegen Orakeln
17. Essentialismus
18. Was ist Wirklichkeit wirklich?
19. Scholastizismus
20. Romantizismus
21. Vulgarisierung
22. Dialektik für Popper
23. Versuch und Irrtum
24. Problem
25. Poppers Logizismus
26. Dialektik bei Marx
27. Arbeitswerttheorie
28. Marxismus
29. Sankt Popper
30. Historizismus
31. Wir wissen nicht, was wir noch wissen werden
32. Prognose
33. Utopismus
34. piecemeal engineering
35. Vorsehungsglaube und Teleologie
36. Self-fulfilling prophecy
37. Ergodizität
38. Revolutionsprognosen
39. Katastrophenökonomie
40. Globalismus
41. Saysches Theorem
42. Kasino-Kapitalismus
43. Offene Gesellschaft
44. Rassismus
45. Totalitarismus
46. Finanzsoziologie

Heritage Foundation

Die Heritage Foundation ist eine neo-konservative Denkfabrik, die Reaganomics fabriziert.

US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman nennt die haushaltspolitische Expertise der Neokonservativen eine Schande für die Wissenschaft. Die Republikaner lebten in einer anderen Welt. Insbesondere glaubten sie noch immer an das Axiom der Reaganomics, dass Steuersenkungen für Milliardäre das inländische Wirtschaftswachstum beflügeln könne und so die Steuerausfälle ausgleichen könnten. Krugman ruft den US-Präsidenten dazu auf, mit derlei Parteiideologie sachgemäß und unversöhnlich zu verfahren und keine faulen Kompromisse zu schließen.

"When the proposal was released, it was praised as a “wonk-approved” plan that had been run by the experts. But the “experts” in question, it turned out, were at the Heritage Foundation, and few people outside the hard right found their conclusions credible. In the words of the consulting firm Macroeconomic Advisers — which makes its living telling businesses what they need to know, not telling politicians what they want to hear — the Heritage analysis was “both flawed and contrived.” Basically, Heritage went all in on the much-refuted claim that cutting taxes on the wealthy produces miraculous economic results, including a surge in revenue that actually reduces the deficit.

By the way, Heritage is always like this. Whenever there’s something the G.O.P. doesn’t like — say, environmental protection — Heritage can be counted on to produce a report, based on no economic model anyone else recognizes, claiming that this policy would cause huge job losses. Correspondingly, whenever there’s something Republicans want, like tax cuts for the wealthy or for corporations, Heritage can be counted on to claim that this policy would yield immense economic benefits."
Paul Krugman: Let’s Not Be Civil. The New York Times, 17. April 2011.

Instruktiv diese politische Ortsbestimmung von "neo-konservativ" in einem US-Wörterbuch:

"NEO-CONSERVATIVE. The exact opposite of a conservative. Neo-conservative are the Bolsheviks of the Right. Like the Bolsheviks, they appear in restrainend groups driven by a simple ideology. They seek practical ways to achieve real power in order to make revolutionary changes. These 'practical ways' usually involve creating a misunderstanding over the 'revolutionary changes' to follow.

The first step in the advancement of a Bolshevik movement is the establishment of intellectual respectability. (...)

It is not unreasonable to place thema among the last true MARXISTS, since they believe in the inevitability of class warfare, which they are certain they can win by provoking it while they have power."

John Ralston Saul: The Doubter's Companion. A Dictionary of Aggressive Common Sense. The Free Press New York, London, Toronto, Sydney, Tokyo, Singapore. 1994. ISBN 0-7432-3660-2.

Samstag, 16. April 2011

Freitag, 8. April 2011

Die aristotelischen Wurzeln des Hegelianismus



Ich werde Popper im Folgenden nur insoweit behandeln, als seine Fassung des Historizismus seine Hegel-Legende vorführt und insoweit den Popperizismus um ein weiteres Thema bereichert hat. Wenn wir uns darauf beschränken, hier nur seine „Die aristotelischen Wurzeln des Hegelianismus“ zu behandeln, so bedeutet das keinen so großen Verlust, wie das auf den ersten Blick scheinen könnte. Denn Popper war trotz seiner erstaunlichen Gelehrsamkeit und seines überraschend weiten Gesichtskreises kein besonders origineller Denker. Was er der politischen Philosophie hinzufügte, war hauptsächlich eine mehr oder minder zusammengeraffte Darstellung und ein brennendes Interesse an der Widerlegung des Marxismus. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß er der Autor der „Logik der Forschung“ ist; und dafür, wie auch für seine anderen Errungenschaften, verdient er voll und ganz, was Aristoteles zu erlangen hoffte: unseren Dank und unsere Nachsicht mit seinen Unzulänglichkeiten. Aber für Leser und Bewunderer Hegels sind diese Unzulänglichkeiten leider schwer zu übersehen. (Meine Paraphrasierung von Popper (1) mit einigen kleinen Änderungen; so wurde zum Beispiel aus „Aristoteles“ = „Popper“ und „Platon“ = „Hegel“.)

Aristoteles war kein Historizist, aber ein Essentialist. (2) Hegel gebührt das Verdienst, aus dem aristotelischen Essentialismus den neuzeitlichen Historizismus geschaffen zu haben. (3)

„Wir können drei historizistische Lehren unterscheiden, die direkt aus dem Essentialismus des Aristoteles folgen.
(1) … Prinzip, daß wir nur durch die Anwendung der historischen Methode, durch das Studium sozialer Veränderungen, eine Kenntnis von sozialen Wesenheiten oder Essenzen erlangen können.
(2) (…) Diese Lehre führt zur historizistischen Idee eines geschichtlichen Fatums oder eines unentrinnbaren wesenhaften Geschicks; denn Hegel zeigte später, „daß das, was wir Prinzip, Endzweck, Bestimmung … genannt haben“ nichts anderes ist als „das nicht vollständig wirkliche Innere“. (…)
(3) Um real oder aktual zu werden, muß sich die Essenz in der Veränderung entfalten. Diese Lehre nimmt später bei Hegel die folgende Form an: „Was an sich ist, ist eine Möglichkeit, ein Vermögen, aber noch nicht aus seinem Inneren zur Existenz gekommen. Es muß ein zweites Moment für die Wirklichkeit hinzukommen, und das ist Betätigung.“ Wenn ich als ‚zur Existenz‘ kommen will (…), dann muß ich ‚etwas zur Tat und zum Dasein bringen‘. Diese noch immer sehr populäre Theorie führt, wie Hegel klar sieht, zu einer neuen Rechtfertigung der Theorie der Sklaverei. Denn Selbstbehauptung bedeutet in bezug auf andere Menschen den Versuch, sie zu beherrschen. Und Hegel zeigt wirklich, daß sich auf diese Weise alle persönlichen Beziehungen auf die Grundbeziehung Herr – Sklave, Beherrschung – Unterwerfung reduzieren können. Jedermann muß danach streben, sich selbst zu behaupten und zu beweisen, und wer nicht die Natur, den Mut, die allgemeine Fähigkeit besitzt, seine Unabhängigkeit zu erhalten, der muß zur Knechtschaft gezwungen werden. Diese bezaubernde Theorie persönlicher Beziehungen hat natürlich ihr Gegenstück in Hegels Theorie der internationalen Beziehungen. Nationen müssen sich auf der Bühne der Geschichte behaupten; es ist ihre Pflicht, die Weltherrschaft anzustreben.
Alle diese weitreichenden historizistischen Konsequenzen, die wir im nächsten Kapitel von einer anderen Seite aus erreichen werden, schlummerten für mehr als zwanzig Jahrhunderte ‚verborgen und unentwickelt‘ in der Wesenslehre des Aristoteles.“ (4)
Aus dem Essentialismus entschlüpft nicht nur der Historizismus, sondern auch eine theoretische Rechtfertigung der Sklaverei. Ob dieser Kaninchentrick Hegel oder Popper (oder beiden) wie gelungen ist, versuche aufgrund der Popperschen Zitate nachzuvollziehen, wer kann. Wer aber Popper hier eine wissenschaftlich kompetente Hegel-Exegese zutraut, ist selber schuld:
„Ich muß daher den Leser daran erinnern, daß das, was ich hier zu geben versuche, nicht mehr ist als einige verstreute Bemerkungen, die den geschichtlichen Hintergrund der modernen Formen dieser Idee beleuchten sollen.“ (5)

„Die Historiker sehen oft keine andere Interpretation, die so gut auf die Tatsachen paßt, wie ihre eigene; …“ (6) – „Das bedeutet aber nicht, daß alle Interpretationen oder Geschichtsauffassungen gleich verdienstvoll sind.“ (7)

In der Welt 3 gibt es nach Poppers Vorstellung ein objektives Wesen namens „Essentialismus“, das Jahrhunderte lang geschlafen hat, um dann den modernen „Historizismus“ zu gebären. Das ist Schicksal, beziehungsweise objektive Logik gemäß Popper. Wieso er aber dies „Geschichte“ nennt?! Da könnte Popper wohl nur Hegel helfen; zumindest hatte dieser eine Theorie, wie aus Ideen Wirklichkeit wird. Popper weiß das nicht; er nimmt lediglich an, dass zwischen seinen Welten irgendwelche Beziehungen herrschen. (8)

Daher seufzende Bemerkung gleich zu Beginn:
„Eine Geschichte der Idee des Historizismus und seines Einflusses auf die totalitäre Staatstheorie zu schreiben ist eine Aufgabe, die hier nicht einmal begonnen werden kann.“ (9)
Tollkühn daher aber dieser Marx mit seinem Verlangen, von „wirklichen Individuen“ in einer historischen Situation auszugehen. (10) Das hätte ja bedeutet, dass Popper tatsächlich eine empirische Untersuchung hätte starten müssen, um herauszufinden, inwieweit Stalin und Hitler wirklich Hegel gelesen und wie verstanden haben und wie sich das praktisch in der Weltgeschichte ausgewirkt hat. Solche feine Rücksichten darf man von einem Philosophen wie Popper gewiss nicht erwarten.

Aber schon, dass er Zitate genau belegt und so interpretiert, was ihr Wortlaut genau hergibt. (11) Was Popper aber von Hegel zitiert, ergibt im Kopf des gemeinen Lesers schlechthin nicht das, was Hegel angeblich nach Popper meint. Nun weiß man jedoch spätestens seit Popper, dass Tatsachen auch nicht das sind, was der gemeine Menschenverstand meint, dass sie es sind. Sie sind immer das, was wir aufgrund unserer theoriegetränkten Erwartungshaltung in ihnen zu sehen glauben. So wollen wir Popper hier auch nicht abstreiten, dass er in den von ihm beigebrachten Zitaten das liest, was er darin zu lesen glaubt. Aber wie er selbst einräumt, kann man ja auch andere Interpretatonstheorien haben. Leider erspart uns Popper das heikle Vergnügen, seine eigene Interpretation gegen Alternativen systematisch zu testen. Es geht ihm hier ja auch nur darum, seine persönlichen Eindrücke von Hegel zu schildern. Und wer möchte jemand deswegen persönlich verdammen, dass er dazu Hegel nicht zu Ende gelesen oder nicht viel davon verstanden und profitiert hat?

Herbert Keuth, mehr in formaler Logik und in Popper als in Philosophiegeschichte beschlagen, meint gegenüber Kaufmanns Kritik an Poppers Exegese-Künsten, ob Hegels Vorstellung von einem vorherbestimmten Plan der Weltgeschichte nicht schon zu Hegels Lebzeiten falsch gewesen sei.
„Und könnte ihre Verbreitung nicht, wie Popper vermutet, politisches Unheil angerichtet haben? Von Hegels Einfluß auf deutsche Intellektuelle hat ja noch die Geschichtsphilosophie der hegelmarxistischen ‚Frankfurter Schule‘ profitiert.“ (12)
Man beachte: Für Keuth sind also die Erfinder von Theorien für deren Verwendung durch andere Personen verantwortlich, sogar dafür, was andere aus diesen Ideen gemacht haben. Und dass am Ende so etwas wie eine Frankfurter Schule dabei herausgekommen ist, wirft freilich ein ganz schlimmes Licht auf Platon und Aristoteles. Übrigens haben auch die Kirchenväter daraus ganz eigenartige Ideen geschöpft, und man weiß ja, wie Kirchenleute sich bis heute aufführen! – Was ist eigentlich aus Poppers Ideen geworden? George Soros?! Helmut Kohl?!

Keuths Kritikversuch entpuppt sich ganz schnell als eine ganz sonderbare Geschichtsphilosophie, mit einer eigenen Art von Essentialismus: An ihren Enkelkindern werdet ihr sie erkennen!

Keuth vermeldet auch unter Bezugnahme auf Agassi, dass Poppers Bestseller die Auszeichnung der American Political Science Association erhielt als ein Buch, das mehr als zwei Jahrzehnte im Druck war. (13) Aber was soll’s, Aristoteles war viel länger im Druck, und war nach Poppers Bekunden auch kein besonders origineller Kopf. Popper wusste wohl selbst am besten, was er von seinem eigenen Bestseller zu halten hatte; hat er ihn denn nicht selbst als „unwissenschaftlich“ bezeichnet und ihn dennoch ständig, dem Publikum zuliebe, zu verbessern gesucht.

Eine Tradition ist erst einmal eine Quelle mannigfaltiger Vorurteile. So sprach schon mal ein Aufklärer, der früh aufgestanden war.

„Ist also dieses Zeugnis von keiner Erheblichkeit, wie ich es gezeigt habe und im Folgenden noch deutlicher zeigen will, so wird man die Menge der Stimmen, die darauf gegründet ist, nicht mehr zählen dürfen.“ (14)
Über die Wahrheit einer Theorie kann also nicht durch Abstimmung entschieden werden, schon deshalb nicht, weil bei solchen Abstimmungen die meisten gar nicht selbst prüfen, sondern bei ihrem Urteil sich von dem Urteil angeblicher Experten leiten lassen.
„Warum können wir doch das nicht sehen, was in dem Verstand der Menschen vorgeht, wenn sie eine Meinung erwählen? Ich bin überzeugt, wenn das geschehen könnte, so würde man gewahr werden, wie der Beifall so vieler tausend Leute sich nur auf das Ansehen zweier oder dreier Personen bezieht, welche einen Lehrsatz bekanntmachen. Man glaubt, daß sie denselben genau und gründlich geprüft haben. Durch das Vorurteil von ihrer Geschicklichkeit werden andere davon überredet. Diese überreden wiederum andere, die ihrer natürlichen Trägheit halber geneigter sind, alles, was man ihnen vorsagt, zu glauben, als mühsam zu untersuchen. (…) Endlich treibt uns die Not, daß man das glaubt, was alle Welt für wahr hält, weil man sonst befürchten müßte, man möchte für einen Störenfried gehalten werden, der für sich allein mehr wissen wollte als alle anderen und kein Bedenken trüge, dem ehrwürdigen Altertum ins Angesicht zu widersprechen. Und dieses geht so weit, daß man sich endlich eine Ehre daraus macht, daß man nichts mehr untersucht, sondern alles auf die gemeine Sage ankommen lassen habe.“ (15)
So ist in dürren Worten erklärt, wie der Popperizismus zu hohen Auflagen und die Hegel-Legende zu ihrer Zählebigkeit kommt. Und wer diese Geschichte nicht glaubt, der studiere einfach hierzu die Welt-3 am leicht zugänglichen Objekt der Wikipedia.

(1) Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 7. Aufl. 1992 (zuerst: 1944). S. 6.
(2) „Aristoteles, der ein Historiker eines enzyklopädischen Typus war, leistete keinen direkten Beitrag zum Historizismus“. (Popper, II, S. 13)
(3) „Hegel, die Quelle des Historizismus unserer Zeit, war ein direkter Nachfolger von Heraklit, Platon und Aristoteles.“ (Popper, II, S. 35)
(4) Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 7. Aufl. 1992 (zuerst: 1944). S. 13f.
(5) Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 7. Aufl. 1992 (zuerst: 1944). S. 6.
(6) Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 7. Aufl. 1992 (zuerst: 1944). S. 312.
(7) Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 7. Aufl. 1992 (zuerst: 1944). S. 313.
(8) William Berkson, John Wettersten, Lernen aus dem Irrtum. Die Bedeutung von Karl Poppers Lerntheorie für die Psychologie und die Philosophie der Wissenschaft. Mit einem Vorwort von Hans Albert, Hamburg 1982.
(9) Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 7. Aufl. 1992 (zuerst: 1944). S. 6.
(10) „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.“ (MEW 3:20)
(11) Walter Kaufmann: The Hegel Myth and Its Method. In: From Shakespeare to Existentialism. Princeton University Press, Princeton N. J. 1980. ISBN 0-691-01367-5.
Dt. Übersetzung: Walter Kaufmann: Hegel: Legende und Wirklichkeit. In: Zeitschrift für philosophische Forschung Band X, 1956, 191–226.
(12) Herbert Keuth: Die Philosophie Karl Poppers. UTB 2156. Mohr Siebeck Tübingen 2000. S. 273.
(13) Herbert Keuth: Die Philosophie Karl Poppers. UTB 2156. Mohr Siebeck Tübingen 2000. S. 244.
(14) Pierre Bayle [Johann Christoph Gottsched (Übers.), Johann Christoph Faber (Hrsg.)]: Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist (= Reclams Universal-Bibliothek, Band 592). Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1975. S. 43.
(15) Pierre Bayle [Johann Christoph Gottsched (Übers.), Johann Christoph Faber (Hrsg.)]: Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist (= Reclams Universal-Bibliothek, Band 592). Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1975. S. 44.

Donnerstag, 7. April 2011

Poppers Utopismus-Kritik

Download (letzter Bearbeitungsstand)

Unter „Utopismus“ verstand Popper den Versuch:
1. eine Tabula rasa herzustellen, d.h. alles auszuwischen, insbesondere was man von Tradition und Geschichte weiß oder sonst wie vorhanden ist und so hernach
2. eine Utopie zu konstruieren, d. h. völlig losgelöst von historischen Erfahrungen oder praktischen Erwägungen eine neue Gesellschaftsordnung zu entwerfen. (1)

Die damit angesprochene Verfahrensweise des Utopismus entspricht völlig der des klassischen Rationalismus, insbesondere dem Kantschen Apriorismus; nicht aber der Methode Hegels, die eine kritische Alternative zu Kant entwickelt hat, und keinesfalls dem Ansatz Marxens, der Hegels Dialektik zu einer materialistischen Praxis wendet, die von in einer historischen Situation „wirklichen“ Individuen“ ausgeht. (2)

Dies zu konstatieren ist gewiss nicht ohne Ironie; denn Popper selbst folgt (trotz des von ihm verkündeten Fallibilismus) hierbei grundsätzlich der nämlichen Methode Kants. Im Grunde geht jede Modellmethode diesen Weg; insbesondere aber jede vertragstheoretische Argumentation, wie sie bis heute noch beliebt und im Schwange ist. (3) Wenn auch Marx im „Kapital“ streckenweise der Modellmethode Ricardos folgt, so nicht, ohne dies soziologisch und historisch mit „Anfangsbedingungen“ zu unterfüttern und dialektisch in seine Konstruktion der Totalität einzubinden, womit er den Gefahren des Ricardian vice zu entgehen sucht.

Doch wenn Popper zum Beispiel seine Methode der Stückwerks-Technik der utopistischen Sozialtechnik gegenüberstellt, so tut auch er das völlig im luftleeren Raum, also auf einer tabula rasa, die explizit von allen historischen, empirischen oder Situationsinformationen und Erwägungen gereinigt und hygienisch keimfrei ist. Die einzige dominante Überlegung, der Popper dabei nachgeht, ist hierbei die, dass kleine Schritte (immer und überall!) ungefährlicher seien als große. Die Wahrheit einer solchen Trivialität kann man indessen bestreiten, und das hat so manch einer wirklich getan und tatsächlich auf sich genommen. (4)

Übrigens ist Poppers Alternativradikalismus (5), den er in seiner dualistischen Kategorienbildung (ebenso wie Talcott Parsons' pattern variables!) Kants Kategoriendualismus verpflichtet. Man führt diese Darstellungsweise oft auf den Manichäismus zurück. Die Problematik ist somit längstens und hinlänglich bekannt, spätestens seit Hegel. So ist hierzu die Parodie des Junghegelianers Bruno Bauer köstlich zu lesen. (6)

In der Utopiekritik hat Popper selbstverständlich auch schon Vorgänger, nämlich in Marxens und Engels' Kritik des utopischen Sozialismus. Es wird wohl schwer fallen, herauszufinden, was Popper hier Neues erfunden hat, außer dass er diese Kritik an Marx selber gerichtet hat und seinen Namen darunter gesetzt.(7)

Es ist bei diesem Problem jedoch wie bei so vielen anderen: Marx konstruiert hierbei nicht im luftleeren Raum, sondern setzt mit seiner theoretischen Arbeit bei einem Text eines anderen Autors an, den er manchmal sogar erst einmal exzerpiert, um dann am konkreten Fall argumentativ Gegenpositionen zu entwickeln. Dies altbewährte Verfahren wird von kritischen Rationalisten indes noch viel zu wenig angewandt. Daran ist vermutlich der schlimme Einfluss Poppers schuld, der sich zum Kampf der Ideen und Theorien lieber selber aprioristische Pappkameraden fabriziert. So wird von ihm fast frei von jeglichen Belegstellen in der Literatur ein Pappkamerad „Historizismus“ erfunden, der dann genau so belegfrei mit Marxismus oder anderem identifiziert zu werden pflegt. Dieses treffliche Verfahren wird dann auch noch dreist dazu verwendet, Marx unwissenschaftliches Vorgehen zu attestieren.

Es ist schließlich eine besondere popperizistische Unsitte, bei der Darstellung Popperscher Lehrstücke kritiklos und unbesehen der Popperschen Selbstdarstellung zu folgen, oder deren Trivialität, wo es stellenweise möglich erscheint, noch zu übertreffen. So hält man gewöhnlich, Popper nachplappernd, das piecemeal engineering für eine Übertragung des Falsifikationismus auf das Gebiet strategischen Handelns. Wenn man aber wirklich über Poppers Axiome nachdenkt, so müsste man aus der Lerntheorie des Versuchs und Irrtums (8) und dem Fallibilismus (9) eigentlich folgern, nicht dass man utopisches Denken verdammte, sondern fördern sollte. Wie beim Brainstorming müssen Alternativen erst erfunden werden, bevor man sie per Kritik massakrieren kann. Poppers Utopismuskritik ist daher eher unter die Fälle zu rubrizieren, wo ein Philosoph seine eigene Methode (bzw. Position) nicht versteht (bzw. nicht handzuhaben weiß). Übrigens hält Popper in seiner Darstellung und bei seiner Evaluation die Frage der Wahrheit von Theorien von der Frage ihrer praktischen Umsetzbarkeit nicht gebührend auseinander.

1) Hans-Joachim Niemann: Die Utopiekritik bei Karl Popper und Hans Albert. Aufklärung und Kritik, Nr. 1, S. 1-13 (1994).
2) Alan Swingewood: Marx and Modern Social Theory. Titree, Essex 1975. / John McMurtry: The Structure of Marx’s World-View. Princeton University Press, Princeton, N.J. 1978.
3) Hartmut Esser, Klaus G. Troitzsch: Modellierung sozialer Prozesse. Informationszentrum Sozialwissenschaften, Bonn 1991. ISBN 3-8206-0075-2. ISSN 0934-5469.
4) Gorol Irzik: Popper's Piecemeal Engineering: What is Good for Science is not always Good for Society, The British Journal for the Philosophy of Science, vol. 26, 1985: 1-10. (Reprinted in Karl Popper: Critical Assessments of Leading Philosophers (ed). A. O’Hear, vol. IV, Routledge, 2004.)
5) Ausdruck von Hans Albert
6) Bruno Bauer: Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen. Ein Ultimatum. Leipzig 1841 (Neudruck: Aalen 1969)
7) „Die moderne Socialdemokratie setzt ihren Stolz darin, den socialistischen Utopismus theoretisch überwunden zu haben, und soweit die Zukunftsstaatsmodelei in Betracht kommt, unzweifelhaft auch mit Recht. Kein zurechnungsfähiger Socialist schreibt heute Zukunftsbilder in dem Sinne, dass durch sie der Menschheit gesagt werden soll, so und nicht anders darf es sein, wenn vollkommenes Glück auf Erden herrschen soll, hier das Recept, das am schnellsten und sichersten zum gewünschten Ziele führen wird. Was socialistischerseits an Zukunftsspeculationen heute noch vorgebracht wird, sind entweder Versuche, den wahrscheinlichen Gang der Entwicklung zur socialistischen Gesellschaftsordnung in allgemeinen Umrissen zu skizzieren, oder mit mehr oder weniger Talent entworfene Gemälde eines socialistischen Gesellschaftszustandes, die nichts als Phantasiebilder zu sein beanspruchen. Auch da kann noch mancher utopistische Gedanke mit unterlaufen, aber die eigentliche Utopie, die mit dem Anspruch auftritt, „Recept für die Garküche der Zukunft zu sein“, kann als ausgestorben betrachtet werden.
Es giebt indes noch eine andere Art Utopismus, der leider nicht ausgestorben ist. Dieser besteht in dem entgegengesetzten Extrem des alten Utopismus. Man vermeidet ängstlich alles Eingehen auf die zukünftige Gesellschaftsorganisation, unterstellt aber dafür einen jähen Sprung von der capitalistischen in die socialistische Gesellschaft. Was in der ersteren geschieht, ist alles nur Flickerei, Palliativ und „capitalistisch“, die Lösungen bringt die socialistische Gesellschaft, wenn nicht in einem Tage, so doch in kürzester Zeit. Ohne an Wunder zu glauben, unterstellt man Wunder. Es wird ein grosser Strich gemacht: hier die capitalistische, dort die socialistische Gesellschaft.“
Eduard Bernstein: Utopismus und Eklekticismus. (1896).
8) William Berkson, John Wettersten: Lernen aus dem Irrtum. Die Bedeutung von Karl Poppers Lerntheorie für die Psychologie und die Philosophie der Wissenschaft. Mit einem Vorwort von Hans Albert, Hamburg 1982 / John R. Wettersten: The Roots of Critical Rationalism. Amsterdam Atlanta, GA 1992.
9) W. W. Bartley, III: Flucht ins Engagement, Tübingen 1987 (zuerst: La Salle, Ill. 1962).

Mittwoch, 6. April 2011

Samstag, 2. April 2011

Sankt Popper



humanitas

"If we study the classical works of Greek ethics, for instance Aristotle’s ‘Nicomachean Ethics’, we find a clear and systematic analysis of the different virtues, of magnanimity, temperance, justice, courage, and liberality, we do not find the general virtue called ‘humanity’ (humanitas). Even the term seems to be missing from the Greek language and literature. The ideal of humanitas was first formed in Rome; and it was especially the aristocratic circle of the younger Scipio that gave it its firm place in Roman culture. Humanitas was no vague concept. It had a definite meaning, and it became a formative power in private and public life in Rome. It meant not only a moral but also an esthetic ideal; it was the demand for a certain type of life that had to prove its influence in the whole of man’s life, in his moral conduct as well as in his language, his literary style, and his taste. Through later writers such as Cicero and Seneca this ideal of humanitas became firmly established in Roman philosophy and Latin literature."

Ernst Cassirer: The Myth of the State. Gesammelte Werke, Band 25 (ECW25). Meiner 2007. S. 101.

Cassirer gibt noch folgende Literaturhinweise:
Richard Reitzenstein: Werden und Wesen der Humanität im Altertum. Straßburg 1907.
Richard Harder: Die Einbürgerung der Philosophie in Rom. Die Antike. Zeitschrift für Kunst und Kultur des klassischen Altertums, 5 (1929), S. 291-316;
idem: Nachträgliches zu Humanitas. Hermes, 69 (1934), S. 64-74.

(vgl. Wolfgang Schadewaldt, Humanitas Romana. )

Der Begriff erscheint mir möglicherweise erhellend im Hinblick auf die Behandlung der Frage nach dem Status der Sklaven, wie sie etwa noch von Aristoteles behandelt wurde. Popper in seiner "Offenen Gesellschaft" scheint mir Aristoteles hierbei in seiner typisch anachronistischen Weise deswegen zu verdammen. Popper bringt hierbei zudem noch Rassentheorie und Rassismus ins Spiel, welche Zusammenhänge im Einzelnen genauer zu analysieren wären.

Der Begriff zieht historische Weiterungen nach sich im Hinbick auf den Humanismus der Renaissance und dann auch noch späterhin in der Herausbildung der bürgerlichen Bildung und Kultur.

Glaube und Wissen

"Ähnlich wie einerseits im Kritischen Rationalismus, andererseits in der Scholastik wird in heutiger Philosophie und Theologie auch Glaube und Wissen stärker in Beziehung gesetzt. So schreibt der Wissenschaftsphilosoph Wolfgang Stegmüller. Danach muß man nicht das Wissen beseitigen, um dem Glauben Platz zu machen. Vielmehr muß man bereits etwas glauben, um von Wissen und Wissenschaft reden zu können. Die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils begründet eine Kohärenz der „Wirklichkeiten des profanen Bereichs und des Glaubens“[7] mit dem Ursprung in einem Gott."
wikipedia.de, 2. April 2011.

Wer dieser Wikipedia-Darstellung folgt, muss annehmen, dass die heutige Philosophie wieder auf den Stand der mittelalterlichen Scholastik zurückgefallen ist, und zwar hinter die Positionen der Aufklärung (Descartes, Spinoza, Leibniz).

"No scholastic thinker ever seriously doubted the absolute superiority of the revealed truth. In this regard the dialecticians and theologians were unanimous.[…] The “autonomy” of reason was a principle quite alien to medieval thought. Reason cannot be its own light; in order to perform its work it needs a higher source of illumination. In this respect the Augustinian theory of the magisterium Dei never lost its authority upon the minds of the medieval thinkers. Here too we can trace medieval thought to its historical origin in prophetic religion. Augustine had quoted the saying of Isaiah: […] “ If ye [do] not believe […] ye [will not understand].”"

Ernst Cassirer: The Myth of the State. Gesammelte Werke, Band 25 (ECW25). Meiner 2007. S. 93.

Ein vergleichbares Argument wird auch von Vertretern der Inkommensurabilitätsthese oder hermeneutischer Philosophie vorgebracht: Man könne ein bestimmtes philosophisches System nur verstehen, wenn man sich auf einen Standpunkt innerhalb des Systems stelle, also dessen Voraussetzungen und Ansichten auch akzeptiere.

Helmut Spinner: Wo warst du, Platon? Ein kleiner Protest gegen eine "große Philosophie". Soziale Welt, 18, 1967, S. 144ff; ders.: Wege und Irrwege der Wissenschaft. 20, Soziale Welt, 1969.

Das Problem: die Grenzen der Rationalität. Wie lassen sie sich bestimmen, ohne den Gegnern der Rationalität Schützenhilfe zu leisten?