Donnerstag, 5. August 2010

Die funktionalistische Schichtungstheorie

(1) Talcott Parsons (1940): Ansatz zu einer analytischen Theorie der sozialen Schichtung

„soziale Schichtung“: die differentielle Rangordnung, nach welcher Individuen in einem gegebenen sozialen System eingestuft werden und die es bedingt, dass sie in bestimmten, sozial bedeutsamen Zusammenhängen als einander über- und untergeordnet behandelt werden

Dieses Rangordnungssystem beruht also auf den in dem jeweiligen sozialen System vorherrschenden Maßstäben moralischer Wertung („Schichtungsskala“), bei Parsons ein Hauptaspekt der „normativen Orientierung“ des sozialen Handelns (diese stellt eine analytische Kategorie dar aus seiner „Theorie des Handelns“ [action theory]).

(2) Kingsley Davis (1942)

„Schichtung“: die ungleiche Bewertung verschiedener Positionen

„Position“: ein Platz in einer jeweils gegebenen Sozialstruktur

„Wert“: die Einstellung, welche ein Objekt als wünschenswert oder nicht wünschenswert definiert und somit die Auswahl zwischen verschiedenen Zielen erklärt

Die allgemeinen Werte bestimmen das Prestige-System einer Gesellschaft und dienen als Basis für Bewertungen und Solidaritätsgefühle innerhalb der gleichen Schicht.
Wenn das Wertesystem und dessen Erhaltung bereits ein notwendiges Ziel darstellt, so beinhaltet es außerdem ein besonderes System von Zielen, die ihrerseits spezifische Bedürfnisse hervorrufen, welche zu erfüllen die sozialen Positionen geschaffen sind. Die Rangordnung der Werte einer Gesellschaft führt demnach zu einer Rangordnung der Bedürfnisse, und diese wiederum strukturiert eine dementsprechende Rangfolge der sozialen Positionen.

Eine Position wird desto höher bewertet, je bedeutender und wichtiger das gesellschaftliche Bedürfnis ist, dem sie dient, gemessen an der jeweiligen allgemeinen gesellschaftlichen Rangordnung der Werte. Es wird also nichts anderes bewertet als der „funktionale“ Beitrag, den eine soziale Position für das gesamte System leistet: „die Bedeutung seiner Funktion“.

Daneben gibt es noch zwei weitere Faktoren, die modifizierend in die Bewertung eingreifen, nämlich die „Seltenheit der Mittel“ zur Erfüllung einer bestimmten Funktion, sowie die Anzahl der Personen, die vom Inhaber einer bestimmten sozialen Position kontrolliert werden müssen, sowie das Ausmaß dieser Kontrolle.

(3) Davis/Moore (1945)
Ausgehend von der These, dass keine Gesellschaft klassenlos oder ungeschichtet sei, wird der Versuch unternommen, mit funktionalistischen Kategorien die universelle (d. h. für alle Gesellschaften wirksame!) Notwendigkeit zu erklären, die in allen Gesellschaftssystemen Schichtung hervorrufe.

Die Problemstellung wird in zweierlei Aspekte aufgegliedert:
a) Warum erlangen verschiedene soziale Positionen unterschiedliche Grade an Prestige?
b) Wie gelangen die verschiedenen Individuen in diese unterschiedlichen sozialen Positionen?

Um als soziales System funktionieren zu können, muss eine Gesellschaft ihre menschlichen Glieder 1. mit irgendeinem wirksamen Mechanismus auf die erforderlichen und entsprechend vorhandenen Positionen verteilen und 2. jene dazu bringen, diese Positionen mit deren spezifischen Handlungserwartungen pflichtgemäß auszufüllen.
Wenn die mit den verschiedenen Positionen verknüpften Pflichten alle gleichermaßen angenehm wären für die betreffenden Menschen sowie in gleichem Maße wichtig für das Überleben der betreffenden Gesellschaft und sämtlich dieselben Fähigkeiten und Talente beanspruchten, machte es keinen Unterschied, wer welche Positionen besetzt. Die Frage der sozialen Schichtung wäre dann von geringer Bedeutung, da das Problem der sozialen Platzierung für die Gesellschaft irrelevant wäre. Tatsächlich besteht jedoch ein großer Unterschied in dem Ausmaß, in dem bestimmte Positionen angenehmer zu erfüllen sind als andere, einige besondere Ausbildung oder Talente erfordern sowie für die Gesellschaft insgesamt funktional wichtiger sind.

Die Konsequenz hieraus ist folgende: Notwendigerweise muss eine Gesellschaft 1. über irgendeine eine Art von Belohnung verfügen, die sie als Anreiz einsetzt, und 2. ein Verfahren, um diese Belohnungen entsprechend den Positionen unterschiedlich zu verteilen. Die Belohnungen und ihre Verteilung werden zu einem Teil der sozialen Ordnung und lassen in dieser Weise ein System sozialer Schichtung entstehen.
Soziale Ungleichheit ist demzufolge ein unbewusst entworfener Plan, durch den Gesellschaften gewährleisten, dass die wichtigsten Positionen gewissenhaft von den qualifiziertesten Personen ausgefüllt werden.

Daher heimsen im Allgemeinen solche Positionen die besten Belohnungen ein und erhalten den höchsten Rang zuerkannt, die
a) die größte Bedeutung für die Gesellschaft haben,
b) die meiste Ausbildung oder das größte Talent erfordern.

Einschränkend kann man jedoch hinzufügen, dass eine Gesellschaft die sozialen Positionen nicht im genauen Verhältnis zu ihrer funktionalen Bedeutung belohnen muss. Es reicht in der Regel völlig aus, dass die Belohnungen genügend reichlich sind, dass dabei gesichert wird, dass die sozialen Positionen mit angemessener Kompetenz ausgeübt werden.

(4) M. J. Levy (1950; 1952)
In jeder Gesellschaft gibt es eine Anzahl von Aktivitäten, die regelmäßig ausgeführt werden müssen, damit die Gesellschaft dauerhaft bestehen kann. Diese Aktivitäten müssen unterteilt und entsprechend ausgebildeten und motivierten Individuen zugeordnet werden. Die universellen Probleme des Mangels und der Ordnung sind unlösbar ohne legitimierte Zuordnung von Eigentumsrechten sowie Autorität. Und diese wiederum sind unerreichbar ohne eine vernünftig integrierte Rollendifferenzierung.
„Schichtung“: der besondere Typ von Rollendifferenzierung, welcher unterscheidet zwischen höheren und tieferen Standorten vermöge eines oder mehrerer Kriterien
Insofern die Universalität des Mangels gegeben ist, ist wesentlich ein System differentieller Zuordnung der seltenen Werte der Gesellschaft (Reichtum, Macht, Magie, Frauen, zeremonieller Vorrang, usw.). Sanktionen und Initiative müssen an bestimmte Statuspositionen in unterschiedlichem Maße vergeben werden.

(5) Tumin (1953)
Tumin liefert eine Kritik an Davis/Moore.
Dabei gesteht er Davis/Moore Folgendes zu: Es seien zwei Arten von Ungleichheiten universell gegeben, d. h. in jeder Gesellschaft existent:
a) die Ungleichheit zwischen den Normkonformen und den Abweichlern von sozial vorgegebenen Normen;
b) die Ungleichheit zwischen voll sozialisierten und den nicht oder unvollständig sozialisierten Mitgliedern einer Gesellschaft.

Er bestreitet jedoch sodann, dass soziale Schichtung aus der notwendig unterschiedlichen Belohnung erklärt werden könne. Dabei stellen für ihn die spezifische Verantwortung und damit einhergehenden Vorrechte einer bestimmten sozialen Position nur Mittel zum Funktionieren des sozialen Systems dar, nicht jedoch eine unterschiedliche gesellschaftliche Wertung von Positionen.
Entgegen Davis/Moore sieht Tumin ganz andere Funktionen, besser gesagt: soziale Wirkungen von sozialer Schichtung.

a) Soziale Schichtung schränkt die Möglichkeiten zur Entdeckung von verfügbaren Talenten in der Gesellschaft ein. Dies resultiert aus der Tatsache des ungleichen Zugangs zu angemessener Motivation, zu Rekrutierungskanälen und Ausbildungszentren.

b) System sozialer Schichtung versorgen Eliten mit der politischen Macht, die sie benötigen, um die Akzeptanz und Dominanz ihrer konservativen Ideologien zu erlangen, die den Status quo als „natürlich“ und „moralisch gerechtfertigt“ legitimieren.

c) Soziale Schichtung verteilt günstige Selbstbilder (von der eigenen Person) bzw. das Selbstwertgefühl ungleich unter der Bevölkerung.

d) Insofern die Ungleichheiten im Hinblick auf die sozialen Belohnungen für die weniger Privilegierten in der Gesellschaft nicht voll akzeptabel gemacht werden kann, erzeugt soziale Schichtung Feindseligkeit, Argwohn und Misstrauen zwischen den unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft und schränkt daher die Möglichkeiten einer höheren sozialen Integration ein.

e) Insofern Sinn und Bedeutung signifikanter Mitgliedschaft vom Platz eines Individuums auf der Prestige-Leiter einer Gesellschaft abhängen, bewirkt soziale Schichtung, dass signifikante Mitgliedschaften in der Gesellschaft ungleich verteilt werden. Daraus folgen Ungleichheit in der Loyalität zum Gesamtsystem sowie in Motivation bzw. Apathie.

An weiteren Kritikpunkten führt Tumin an:

Daraus, dass ein soziales Element überall anzutreffen sei, kann logisch nicht zwingend geschlussfolgert werden, dass es eine positive Funktionalität aufweise oder seine Existenz unvermeidlich sei.

Die Gewissenhaftigkeit, mit der eine soziale Position ausgefüllt werde, hängt nicht allein von der Höhe der Belohnung ab, sondern auch
a) wie gut verfügbare Talente identifiziert werden,
b) wie gut sie ausgebildet werden,
c) wie angemessen sie platziert werden, und
d) wie stark die Handelnden motiviert sind, gewissenhaft zu sein.
Maximale Ausschöpfung von Talent erfordert somit die Chancengleichheit im Wettbewerb um die vorhandenen Stellen.

Zudem besteht in jedem hierarchischen System mit formal differenzierten und unterschiedlich bewerteten Positionen (Bürokratie) ein beständiger Druck zur Neudefinition bestehender Belohnungen und Bewertungen durch die davon Betroffenen (relative Deprivation, soziale Vergleichsprozesse mit relevant gehaltenen Bezugsgruppen). Es steht zu vermuten, dass Ungleichheiten der Belohnung für einen ähnlichen Grad an Gewissenhaftigkeit oder Leistung eher eine Abnahme als eine Zunahme derselben bewirken.


Kingsley Davis, Wilbert E. Moore: Some Principles of Stratification. ASR 1945, S. 243-249. Dt.: Einige Prinzipien der Sozialen Schichtung (1945). In: Hans Hartmann, Hrsg.: Moderne amerikanische Soziologie. Stuttgart 1973, S. 396-410.

Melvin M. Tumin: Some Principles of Stratification. A Critical Analysis. ASR 1953, 18, S. 387-394.

Kingsley Davis: Reply. ASR 1953, S. 394-397.

George A. Huaco: A Logical Analysis of the Davis-Moore Theory of Stratification. ASR, 1963, 28, S. 801-804.

Arthur L. Stinchcombe: Some Empirical Consequences of the Davis-Moore Theory of Stratification. ASR, 1963, 28, S. 805-808.

Renate Mayntz: Kritische Bemerkungen zur funktionalistischen Schichtungstheorie. In: D. W. Glass, René König, Hrg.: Soziale Schichtung und soziale Mobilität. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 5. Köln 1965, S. 10-28.

Ralf Dahrendorf: Die gegenwärtige Lage der Theorie sozialer Schichtung. Sowie ders.: Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. In: ders.: Pfade aus Utopia. München 1967.

Erhard Wiehn: Theorien der sozialen Schichtung. München 1968.

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