Dienstag, 28. September 2010

Wettbewerbsfähigkeit

Es handelt sich hier nicht um einen Begriff der ökonomischen Theorie, sondern um ein politisches Schlagwort, wenn nicht gar um einen Gummibegriff.

Wer bei einem Wettbewerb die Oberhand gewinnt, ist der Natur der Sache nach bzw. derem Begriff gemäß immer relativ zu sehen. Denn dies Resultat hängt nicht nur von der Stärke des einen, sondern stets auch von der Schwäche der anderen ab.

Dabei kommt es bei einem international schrankenlosen Freihandel immer darauf an, dass derjenige, der kauft, sich gegenüber dem Anderen verschuldet. Ein Land, das wie Deutschland einen ständigen Exportüberschuss erlangen will, ist hierzu darauf angewiesen, dass andere ständig bereit sind, mehr zu importieren als zu exportieren. Auf Dauer kann dies nicht gut gehen - sondern nur dann, wenn irgendwann später derjenige, der Überschüsse erzielt, bereit ist, die Nachfrage danach selber zu finanzieren bzw. dem Schuldner zu erlauben, seine Schulden wieder zurückzuzahlen.

Dies setzt voraus, dass man sich von der kurzfristigen Perspektive der "aktiven Handelsbilanz" bzw. dem in Deutschland traditionsgemäßen "Neo-Merkantilismus" verabschiedet.

So wenig wie man Arbeitslose, Rentner oder Invalide dazu per Gesetz zwingen kann, einen Arbeitsplatz anzunehmen, der auf dem Arbeitsmarkt überhaupt nicht existiert, so wenig kann man Volkswirtschaften dazu zwingen, Schulden zurückzuzahlen, wenn man ihnen gleichzeitig die Wachstumschancen per von außen oktroyiertem Austeritätskurs entzieht. Mit einer derartigen politischen Kurzsichtigkeit bestrafen Länder, die den sog. "Sparkurs" verfolgen, nicht nur die "Schuldensünder", sondern sich letzten Endes selber.

Ansgar Belke: Wettbewerbsfähigkeit – Eine Obsession Europas? DIW 22. September 2010.


CSL: Quel intérêt d’être compétitifs si nous régressons socialement ? Eléments d’invalidation de la thèse du déclin « compétitif » des entreprises luxembourgeoises et de commentaire au sujet des finances publiques.

Samstag, 25. September 2010

Vom Nutzen der Ökonomie, und ob sie eine Wissenschaft sei

"La crise financière récente a été davantage un échec de l'ingénierie et du management de l'économie plutôt que de [...] la science économique".

So Ben Bernanke, Chef der US-Zentralbank. Diese Äußerung wird als Retourkutsche an Paul Krugman angesehen. Dieser hatte September 2009 in der New York Times gefragt, wie sich die Ökonomen so getäuscht haben konnten, dass sie von der kommenden Krise so gut wie nichts gemerkt hätten.

Die Retourkutsche des Zentralbankchefs zeigt indes nur eines, dass ihm nämlich die Sophistik der Mainstream-Ökonomie in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wie schon Keynes herausgestellt hat, besteht die Hirnwasch-Rhetorik der neoklassischen Ökonomie nämlich darin, dass sie mit Vorliebe Dinge beweist, die mit der in Frage stehenden Sache überhaupt nichts zu tun haben.

Auf dieselbe Weise "beweist" Bernanke, dass die Wissenschaft der Ökonomie wichtig sei für Politik und Wirtschaft. Paul Krugman hat aber nichts dergleichen angezweifelt, sondern gerügt, dass die theoretische Grundlagen der Mainstream-Ökonomen inadäquat seien, um reale ökonomische Krisen zu erklären. Damit befasst sich Bernanke aber nicht. Er benötigt den Scholastizismus dieser neo-klassischen Modelle ja nur, um aus diesem Zauberhut seine geld- und wirtschaftspolitischen Kaninchen herauszuzaubern. Es geht ihm dabei nicht um wissenschaftliche Erklärung, sondern um Pseudo-Erklärung, verbunden mit Scheinlegitimation. Nicht um Wahrheit, sondern um den kurzfristigen ideologischen Nutzen.

Merke: Für Anhänger einer Ideologie wird es niemals die Ideologie sein, die sich als falsch erweist. Es kann für sie immer nur die praktische Umsetzung sein, die zu wünschen übrig lasse.

Das ist gewiss eine ökonomische "Wissenschaft", die sich geistesverwandt zeigt mit der "Politik" der Republikaner, die Krugman als einen "Angriff auf die Arithmetik" begreift. Nämlich einerseits das Staatsdefizit anprangern, und andererseits die Einnahmen nicht erhöhen wollen und dabei gerade die steuerkräftigsten Bürger des Landes (sofern sie noch im Lande sind) mit Steuersenkungen zu beglücken. Hier werden nicht nur die empirische Wahrheit, sondern auch die grundlegendsten Regeln der Arithmetik verletzt. Aber: solange es nützt ...!

Crise : Bernanke dédouane les économistes. Le Monde, 25. September 2010.

Mittwoch, 1. September 2010

Ergodizität

Wenn man den Pfad einer Wirtschaft über die Zeit hinweg in die Zukunft hinein gesteuert sieht als einen stochastischen Prozess (der Statistikern zufolge einer Wahrscheinlichkeitsverteilung unterliegt), so sind demzufolge auch zukünftige Resultate von gegenwärtigen Entscheidungen durch diese Wahrscheinlichkeitsverteilung bestimmt.

Es erscheint logisch, dass wenn ein Entscheider seinen Entscheidungen statistisch begründete Informationen über die Zukunft zugrunde legen möchte, so müsste er dazu eine Stichprobe aus zukünftigen Datenmengen zugrunde legen. Da diese Stichprobe zu erlangen aber praktisch unmöglich ist (da die Zukunft nicht gewusst wird), so macht so manch ein ökonomischer Theoretiker schlicht die heroische Annahme, dass die Wirtschaft statistisch gesehen als ein ergodischer Prozess beschrieben werden kann. Das heißt zu behaupten, dass Stichproben, die aus verfügbaren Datenmengen aus der Vergangenheit oder aus der Gegenwart gezogen werden, logisch äquivalent behandelt werden könnten wie Stichproben aus den Datenmengen der Zukunft.

Technisch gesprochen: Die Realisierung eines stochastischen Prozesses ist definiert als ein Stichprobenwert einer multidimensionalen Variablen über eine Zeitperiode, bzw. die Zeitreihen-Werte von aufgezeichneten Ergebnissen. Ein stochastischer Prozess beschreibt demzufolge ein Universum solcher Zeitreihen. Zeitstatistiken beziehen sich auf statistische Durchschnittswerte (arithmetisches Mittel, Median, Standardabweichung, usw.) , errechnet aus einer einzelnen Realisierung über eine Periode der Kalenderzeit. Raumstatistiken andererseits beziehen sich auf statistische Mittelwerte zu einem bestimmten Zeitpunkt über das Universum der Realisierungen, das sind hier sektoral übergreifende (cross-sectional) oder Querschnittsdaten, die zu dem jeweiligen Zeitpunkt über die einzelnen Individuen gemessen werden.

Wenn und nur wenn der stochastische Prozess ergodisch ist, so werden für eine unendlich große Realisierung die Zeitstatistiken und die Raumstatistiken zusammenfallen. Für endliche Realisierungen fallen sie zusammen abgesehen von Zufallsfehlern. Anders ausgedrückt, Zeit- und Raumstatistiken tendieren dazu zu konvergieren (mit der Wahrscheinlichkeit von 1) , insofern die Anzahl der Beobachtungen zunimmt. Konsequenz daraus ist, wenn das Axiom der Ergodizität anwendbar ist, sind Statistiken, die entweder aus vergangenen oder aus Querschnittsdaten gewonnen werden, statistisch zuverlässige Schätzungen für Raumstatistiken zu einem beliebigen zukünftigen Zeitpunkt.

Die Zukunft ist dadurch nie ungewiss. Denn sie kann stets aus den verfügbaren Daten der Vergangenheit oder der Gegenwart der Wahrscheinlichkeit nach berechnet werden.
Das Axiom der Ergodizität spielt die logisch äquivalente Rolle wie das Ordnungsaxiom in der klassischen deterministischen Ökonomie, das ist die Annahme, dass zu jedem beliebigen Zeitpunkt ein ökonomisches Subjekt alle künftige Resultate seiner Entscheidungen weiß und er diese logisch korrekt gemäß seinen eigenen Präferenzen ordnen kann.

Die Terminologie der Ergodizität wurde erst 1935 explizit entwickelt durch die Moskauer mathematische Schule der Wahrscheinlichkeitstheorie und wurde erst nach 1945 im Westen bekannter. Sie war demnach Keynes unbekannt.

Nichsdestotrotz, nach Auffassung von Paul Davidson zeigt die Kritik von Keynes an Tinbergens ökonometrischer Methode, dass Keynes implizit die Anwendbarkeit des Ergodizitätsaxioms auf die Entwicklung einer Volkswirtschaft in Abrede stellte. Für Keynes ist die Zukunft ungewiss; ein Unternehmer könne niemals im Voraus zuverlässig berechnen, ob eine Investitionsentscheidung rational gerechtfertigt sei. Es bleiben hier zur Erklärung übrig nur die sog. „animal spirits“ der Unternehmer, womit Keynes nichts anderes gemeint hatte als das „Bauchgefühl“ des Entscheiders, der die Zukunft nie im Voraus wissen kann, insbesondere diese nicht mit den herkömmlichen Methoden der Mathematik berechnen kann.

Es ergibt sich daraus für die herkömmliche ökonomische Theorie jedoch das fatale Ergebnis, dass es theoretisch Unsinn ist, zu erwarten, dass Märkte eine Funktion der effizienten bzw. optimalen Allokation von Ressourcen erfüllen könnten. Dies trifft umso mehr für die Finanzmärkte zu. Nach Keynes ist die Hauptfunktion derselben, die Wirtschaftssubjekte mit Liquidität zu versorgen. Denn Liquidiät ist im Kapitalismus der Mechanismus, wie der Ungewissheit praktisch begegnet werden kann.

Quelle:
Paul Davidson: John Maynard Keynes. Palgrave Macmillan. ISBN 13-978-1-4039-92623-7. ISBN 10-4039-9623-7. S. 31ff.