Donnerstag, 25. Juni 2009

Marx-Exegese

Man konnte zweifellos und man sollte auch Jürgen Habermas nicht zwingen, Marx richtig zu interpretieren.

Schließlich kann man jeden "Klassiker" zumindest auf zweierlei Weise behandeln:
(1) als historische Erscheinung, die möglichst geschichtsgetreu zu interpretieren ist;
(2) als Baustelle für die aktuell vorzunehmende Theoriekonstruktion in einer bestimmten Wissenschaft.

Dabei ist zuerst einmal nicht mehr verlangt, als dass man tunlichst (1) und (2) auseinanderhalten soll. Also unterscheidet man zwischen (1) Karl Marx als geschichtlicher Autor und (2) Habermarx, die Rolle und Funktion, in welcher Marxsche Versatzstücke bzw. dessen Umdeutungen bei Habermas fungieren.

Aus Gründen, die SEIFFERT (1972:7f) nicht verrät, glaubt dieser den Umgang mit Marxtexten als wissenschaftstheoretischen Sonderfall einordnen zu müssen, der nur der im Historismus gepflegten exegetischen Herangehensweise offen sei.
"Wie aktuell Fragen der philologisch-historischen Methode gerade auch angesichts der Diskussion innerhalb des und mit dem Marxismus sein können, zeigt schon die Tatsache, daß der Marxismus - mehr als alle anderen bedeutsamen Bewegungen in der Geschichte, das Christentum und ähnliche Religionen ausgenommen - auf den 'kanonischen' Schriften bestimmter 'Klassiker' - Marx, Engels, Lenin und nunmehr auch Mao - fußt, deren 'Exegese' sich eben der Mittel bedienen muß und bedient, die von einer 'bürgerlichen' Geisteswissenschaft längst entwickelt worden sind - unbeschadet der Frage, ob der Marxismus unter 'Geschichte' etwas anderes versteht als der Historismus." (...) "Es macht die Eigenart - und gleichzeitig Fragwürdigkeit - dieser Methode aus, daß sie an die Schriften bestimmter Autoren, nämlich Hegels und Marx/Engels', gebunden ist und daher nur anhand dieser Schriften dargestellt werden kann."

Diese Art von "Historismus", wie sie Helmut Seiffert den marxistischen Klassikern angedeihen lassen will, kann aber nur zur "Vergreisung der geisteswissenschaftlichen Arbeit" (HEINRICHS 1986:4) führen:
"Der Historismus besteht in der resignativ 'aufgeklärten Einsicht', daß Sammeln und Sortieren des geistesgeschichtichen Materials der eigentlich angemessene Umgang mit Gedanken sei."

Die ausschließlich exegetische, also "dogmengeschichtliche" (diese Bezeichnung ist in der Nationalökonomie wie in der Kirchengeschichte verbreitet und beweist, dass Max Weber nicht so ganz so falsch lag, als er bei dieser akademischen Profession die Gefahr eines "Priesterseminars" sah) Umgang mit Klassikern macht sie erst zu dem, was man ihnen hernach vorzuwerfen gewillt ist: einer Sammlung von Dogmen. Die Art und Weise des Umgangs garantiert das klägliche Resultat bzw. ist schon der Prozess der Dogmatisierung selbst.

Keine Theorie und keine Aussage ist an und für sich "kritisch" oder "dogmatisch", "empirisch" oder "metaphysisch", "analytisch" oder "synthetisch", "deskriptiv" oder "normativ", "theoretisch" oder "praktisch", "Leerformel" (TOPITSCH 1967:24) oder "empirisch gehaltvoll". All diese Prädikate kennzeichnen in Wirklichkeit nicht die logischen Eigenschaften von Aussagen, sondern sind Unterscheidungen in der pragmatischen Dimension von Aussagen. Denn sie bezeichnen tatsächlich die Einstellungen und Verfahrensweisen, wie bestimmte Gruppen von Benutzern mit bestimmten Aussagetypen umzugehen bereit sind.
"Die pragmatische Problematik, die Voraussetzung für die logische Analyse ist, umfaßt alle diese Fragen nach den Handlungen, die das Subjekt ausführen muß, um diese Wahrheit festzustellen." (TAVANEC/ŠVYRJEV 1967:28)

Demnach kommt es bei diesen Unterscheidungen in Wirklichkeit stets darauf an, in welcher Weise jeweils die Sprachnutzer die betreffenden Aussagen in ihre Argumentations- und Handlungszusammenhänge einbeziehen, welche Funktionen sie darinnen zu erfüllen gedacht sind. Kurz gesagt: Ob die marxsche AWT dogmatisch sei, hängt weder von Marx noch von dieser Theorie selber ab, sondern wie die Theoriebenutzer damit umzugehen gedenken. Wenn Habermas es nicht für fähig oder wünschenswert hält, diese Theorie empirisch zu überprüfen, dann ist sie - für Habermas und in dessen Argumentationskontext! - nicht empirisch. Das schließt jedoch keineswegs aus, dass ein Ökonometriker diese Theorie hernimmt und empirischen Tests unterwirft (zugegebenermaßen wiederum auf eine andersartige Weise zugerichtet als durch Habermas).

Wem es um die kritische Fortentwicklung der Erkenntnis geht, dem wird (1) höchstens Vorbedingung für (2) sein. Oder er wird von vornherein auf (2) setzen, und sich um eine historisch getreue Interpretation die geringsten Sorgen machen.
"What is important is not whether a particular interpretation of a past theory is correct, but whether it is useful in developing a new theory in the present." (NEGISHI 1985:2)

Einerseits sollte auch nicht übersehen werden, dass die Rezeption von Ideen, die aus der Wissenschaftsgeschichte zu entnehmen sind, oftmals kaum möglich sind ohne die hermeneutischen Vorarbeiten von Interpretatoren. Andererseits gibt es bei vielen Interpretationen nicht nur Grauzonen des Verständnisses, wo theoretische Leistungen des historischen Autors und des Interpreten ineinander verschwimmen oder übergehen. Jede Interpretation stellt eine mehrstellige Relation dar, insbesondere zwischen dem Text und der spezifischen Perspektive des aktuellen Lesers. Das führt auch dazu, dass ein Klassiker niemals interpretatorisch erschöpft sein kann. Der Interpretationsmöglichkeiten sind immer so viele, wie es unterschiedliche Perspektiven von unterschiedlichen Lesern gibt.
"A great classic often has many different aspects that permits many different and mutually inconsistent interpretations by later scholars." (NEGISHI 1985:11)

So wurde der Welt nicht nur ein Haber-Marx, sondern auch ein Popper-Marx beschert.
"Auch bei der abschließenden Modellanalyse der Marxkritik soll nicht diskutiert werden, ob Popper Marx authentisch interpretiert, sondern nur gezeigt werden, in welcher Weise Popper Marx - so wie Popper ihn sieht - kritisiert." (SCHUPP 1975:85)

Die eklatante Verwechslung oder Vermischung von (1) und (2) wirkt besonders im Falle Poppers besonders fatal. Denn einerseits verkündet POPPER (1987:VIII) seine dezidierte Absicht, die Marxsche bzw. marxistische Geschichtsphilosophie zu kritisieren: Andererseits kreiert Popper ein Konstrukt, das er "Historizismus" nennt, und das sich so nirgends in der Geistesgeschichte 100%ig wiederfindet. Bei einer Theoriekritik setzt man jedoch gemeinhin voraus, dass zuvor die Theorie rekonstruiert bwz. gekennzeichnet sei, die gemeint wird. POPPER (1987) bringt es in seinem Anti-Marx bei insgesamt 132 Seiten auf die erstaunliche Zahl von 4 Marx-Zitaten; Zitate anderer marxistischer Autoren = 0. Honny soit qui mal y pense.

== Literaturverzeichnis ==
Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 2: Geisteswissenschaftliche Methoden: Phänomenologie/Hermeneutik und historische Methode/Dialektik, München 6. Aufl. 1975
Johannes Heinrichs: Die Logik der Vernunftkritik. Kants Kategorienlehre in ihrer aktuellen Bedeutung. Eine Einführung. Francke Verlag Tübingen 1986 (UTB 1412). ISBN 3-7720-1726-6.
P. V. Tavanec, V. S. Švyrjev: Die Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis. In: Studien zur Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis. Akademie Verlag Berlin 1967. (Moskau 1964)
Takashi Negishi: Economic theories in a non-Walrasian tradition, Cambridge New York New Rochelle Melbourne Sydney 1985
Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 6. Aufl. 1987 (zuerst: 1957)
Franz Schupp: Poppers Methodologie der Geschichtswissenschaft, Bonn 1975
Ernst Topitsch: Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: Topitsch 1967, S. 17-36
Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften, Köln Berlin 4. Aufl.1967

Arbeit: Marx vs. Habermas

"Arbeit" bezieht Marx sowohl auf das Verhältnis Mensch - Natur: biologische Reproduktion menschichen Lebens als auch auf das Verhältnis Mensch - Mensch: spontane und bewusste Koordination individuellen handelns innerhalb der menschlichen Gattung.
"Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten tierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit zu tun. Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner eignen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt, ist in urzeitlichen Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte genießt.
Die einfachen Momente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel." (MEW 23:192f)


HABERMAS (1975:58f) indessen verkürzt "Arbeit" auf "instrumentales Handeln" und stellt dieser dann "Interaktion" und "Kommunikation" zur Seite.
"Der materialistische Begriff einer Synthesis durch gesellschaftliche Arbeit bezeichnet die Stellung, die Marxens Konzeption der Gattungsgeschichte in der von Kant ausgehenden Bewegung des Gedankens systematisch einnimmt. In einer eigentümlichen durch Fichte bestimmten Wendung nimmt Matx die Intention des Hegelschen Einwandes am kantischen Ansatz der Erkenntniskritik auf; dabei ist er gegen eine Identitätsphilosophie gefeit, die der Erkenntnistheorie als solcher den Boden entzieht. Gleichwohl erweist sich die philosophische Grundlage dieses Materialsmus als ungenügend, um eine vorbehaltlose phänomenologische Selbstreflexion der Erkenntnis zu etablieren und so der positivistischen Verkümmerung der Erkenntnistheorie vorzubeugen. Den Grund dafür sehe ich, immanent betrachtet, in der Reduktion des Selbsterzeugungsaktes der Menschengattung auf Arbeit. Die Marxsche Gesellschaftstheorie nimmt in ihren Ansatz neben den Produktivkräften, in denen sich das instrumentale Handeln sedimentiert, auch den institutionellen Rahmen auf, die Produktionsverhältnisse; sie unterschlägt an Praxis nicht den Zusammenhang symbolisch vermittelter Interaktion und die Rolle kultureller Überlieferung, aus denen Herrschaft und Ideologie allein zu begreifen sind. Aber in das philosophische Bezugssystem geht diese Seite der Praxis nicht ein. Gerade in dieser Dimension, die sich mit den Abmessungen instrumentalen Handelns nicht deckt, bewegt sich aber die phänomenologische Erfahrung - in ihr treten die Gestalten des erscheinenden Bewußtseins auf, die Marx Ideologien nennt; in ihr lösen sich Verdinglichungen unter der lautlosen Gewalt einer Reflexion auf, welcher Marx den Kantischen Namen der Kritik zurückgibt.
So entsteht im Werke von Marx ein eigentümliches Mißverhältnis zwischen der Forschungspraxis und dem eingeschränkten philosophischen Selbstverstädnis dieser Forschung. In seinen inhaltlichen Analysen begreift Marx die Gattungsgeschichte unter Kategorien der materiellen Tätigkeit und der kritischen Aufhebung von Ideologien, des instrumentalen Handelns und der umwälzenden Praxis, der Arbeit und der Reflexion in einem; aber Marx interpretiert, was er tut, in dem beschränkten Konzept einer Selbstkonstitution der Gattung allein durch Arbeit. Der materialistische Begriff der synthesis ist nicht weit genug gefaßt, um die Hinsicht zu exdplizieren, in der Marx der Intention einer im wohlverstandenen Sinne radikalisierten Erkenntniskritik entgegenkommt. Ja, er hat Marx selbst daran gehindert, seine Verfahrensweise unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen."

In ähnlicher Weise hat ISRAEL (1980) die Einteilung vorgenommen in
(1) Economische instituties en processen;
(2) Macht;
(3) Taal en communicatie.

Hierbei geht indes die Pointe des marxschen Ansatzes verloren. Marx setzt eben nicht "Arbeit" gleich "zweckrationales Handeln", womit Habermas Max Weber auf den Leim gegangen ist. Für Marx kann Arbeit=zweckrationales Handeln nicht gleichrangig soziale Interaktion, Kommunikation und Macht nebeneinander gestellt werden (MÜLLER 1969; DAMUS (1970).

Marx betrachtet "Arbeit" vielmehr als ein Handlungssystem, das alle diese Aspekte übergreifend in sich fasst.

Die Kritik von Habermas an Marx, dem Marxschen Arbeitsbegriff gingen daher bewusstseinsmäßige Aspekte ab, ist seiner eigenen beschränkten Marx-Lektüre zuzuschreiben.

HABERMAS (1975:381) sagt schließlich in einem Nachwort, er könne mit der Kritik, dass er Marx nicht richtig interpretiert habe, im Hinblick auf sein Erkenntnisziel nichts anfangen. Diese Klarstellung wäre freilich etwas früher erfolgt günstiger aufgenommen worden. Es wäre stattdessen empfehlenswert, daß jeder Autor 1. vorher sagt, was er will, und 2. sodann das tut, was er gesagt hat.

Wenn aber Habermas seine Erkenntnistheorie unter die Zielsetzung Letztbegründung stellt, dann hat dies mit dem Marxschen Philosophieverständnis nichts zu schaffen. Man darf gewiss davon ausgehen, dass für Marx Dialektik kein Instrument für philosophische Begründungen abgeben kann oder soll. Insofern wirft Habermas Beschränktheiten vor, welche Marx im Hinblick auf seine eigene Problemstellung als abwegig zurückweisen muss.

"Eine Soziologie, die sich in die Sache verliert, ist genau so auf einem Abweg wie diejenige, die vor Selbstreflexion nicht zur Sache kommt." (SCHELSKY 1967:8)


== Literaturverzeichnis ==
Karl Marx: Das Kapital, S. 260-262. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 3569-3571 (vgl. MEW Bd. 23, S. 192-193)
Jürgen Habermas: Theorie und Praxis. Mit einem neuen Nachwort. Sozialphilosophische Studien, Neuwied Berlin 1963.
Wolfgang Müller: Habermas und die Anwendbarkeit der Arbeitswerttheorie, Sozialistische Politik, 1, 1, 1969, S.39-53
Renate Damus: Ökonomische Kategorien in der Soziologie der Frankfurter Schule, (hektgr.) Karlsruhe 1970
Joachim Israel: Sociaal Handelen en sociaal system. Rotterdam 1980
Helmut Schelsky: Ortbestimmung der deutschen Soziologie. 3. Aufl. Düsseldorf Köln 1967

Mittwoch, 24. Juni 2009

Was ist Wirklichkeit wirklich?

Das Geheimnis der Kryptonormativität, bei vollem Tageslicht enthüllt

„Meine Interpretation macht aber auch die Gründe deutlich, warum Marx und seine Nachfolger in Vergangenheit und Gegenwart nicht so viel Aufhebens von ihrem zentralen Methodenbegriff - der ja schließlich auch die Basis für die geläufige Rede vom 'Klassengegensatz' und den sogenannten 'gesellschaftlichen Widersprüchen' darstellt - gemacht haben, denn er entspringt einer schlechthin irrationalen Konstruktion, mit deren Hilfe es Marx gelingt, die für ihn offenkundig gewordenen Mängel der Werttheorie in Mangelerscheinungen der kapitalistischen Warenform umzubilden." (BECKER 1972:8)

Werner Beckers Marxkritik ist so wie diejenige von Popper mitnichten originell, da beide Herren ein paar von Marxens Argumente gegen Proudhon (vgl. Marx: Elend der Philosophie) einfach auf Marx selber beziehen.

Gegen Beckers Widerlegungsstrategie lassen sich indessen fundamentale Einwände vorbringen:
1. Es gibt keine definitive Widerlegung einer Theorie.
2. Wie eine Theorie gewonnen worden ist (z. B. bei der Hegel-Lektüre), ist irrelevant im Hinblick auf ihre empirische Geltung.
3. Selbst wenn Inkonsistenzen nachweisbar wären, so ist anstatt einer Katastrophentheorie der Kontradiktion zu folgen und die Theorie pauschal zu verwerfen, es vorzuziehen, die fraglichen Inkonsistenzen zu beheben.
4. Anscheinend unterstellt Becker eine certistische Erkenntnistheorie, wonach eine Ableitung aus "irrationalen" Grundlagen die gesamte Theorie in Bausch und Bogen entwertet.
5. Beckers Rede von "irrational" anstatt von "inkonsistent" deutet daraufhin, dass Becker so ganz nebenbei einer ausgesprochen ideologischen Leidenschaft für Werturteile über missliebige Theorien frönt. Schön für ihn, nicht so schön für die Menschheit.

BECKER (1972:8) will sich nur an „Kapital“, Bd. 1 halten und ignoriert die Grundrisse und die Theorien über den Mehrwert mit dem (lächerlichen) Argument, die Textsituation sei umstritten, und in den ignorierten Texten systematisch unklar (?!). Die ignorierten Schriften würden in der aktuellen Marx-Diskussion einfach überwertet (?!).
"Aber das Wesentliche und Entscheidende liegt in der Tatsache, daß die methodischen Grundlagen der Marxschen politischen Ökonomie in den ersten Kapiteln des ersten Bandes des 'Kapitals' gelegt werden, und um sie geht es in meiner Untersuchung."

Also Becker ignoriert schlicht und einfach den historisch gewordenen Aufbau des marxschen Werkes (der darin besteht, dass er die Bände des "Kapitals" fast in umgekehrter Reihenfolge ihres Erscheinens geschrieben hat) und ignoriert damit systematisch den dialektischen Werdegang bzw. modern ausgedrückt: den Theorievergleich, aus dem heraus insbesondere in den Theorien über den Mehrwert Marx in Kritik der klassischen Nationalökonomie seine Version der Arbeitswerttheorie konstruiert hat. Wer freilich von dem selbstgestellten Problem ausgeht, Marx als irrational abzuqualifizieren, der hat es freilich nicht sonderlich nötig, sich der Mühe zu unterziehen, dessen Theorie einwandfrei zu rekonstruieren.

Schon bei Aristoteles habe das Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert eine "normative bzw. ethische Färbung" (BECKER 1972:12)
„Der aristotelisch-antike Begriff des Gebrauchswerts bemißt sich - jedenfalls ideell - an Verhältnissen wirtschaftlicher Selbstversorgung, an denen ökonomisch autarker Hauswirtschaften. (...) Demgegenüber ist der Gebrauchswertbegriff der neueren Ökonomie von Anfang an auf die Tauschsituation und ein vorhandenes Warenangebot bezogen. Er erklärt den Tauschwert bzw. den Preis der Waren durch Rekurs auf den Nutzen, der sich für den Käufer bei Voraussetzung einer relativen Güterknappheit ergibt.“ (BECKER 1972:13)

Na und?! Becker mag eine Präferenz für die "neuere Ökonomie" haben; aber was die normative Interpretationsmöglichkeit (bzw. "Kryptonormativität") angeht, so können sich Aristoteles, Scholastiker und "neuere Ökonomen" die Hände reichen (nachzulesen bei MYRDAL 1965 und ALBERT 1954). Becker hängt wahrscheinlich einer veralteten Ideologietheorie des Positivismus an (GEIGER 1968); denn er scheint zu glauben, mit dem normativen Geschmäckle einen entscheidenden Einwand gegen den empirischen Gehalt dieser Theorien vorzubringen. Schief gewickelt; vgl. dazu MYRDAL (1965), ALBERT (1980).
"Der aristotelische bzw. scholastische Gebrauchswertbegriff ist insofern dogmatisch-essenzialistisch ausgerichtet, als er von der Vorstellung einer sozial, ökonomisch und anthropologisch mehr oder weniger festgelegten Konstante lebt, die auf diese Weise definiert, was menschliche Bedürfnisbefriedigung bedeutet. Daher sein ethisch-normatives Implikat. Der Wert der Güter, die auf dem Weg des Tausches und Warenhandels erworben werden, weil sie nicht in Eigenproduktion hergestellt werden können, soll sich dann ebenfalls an jener Konstante bemessen. Der Gebrauchswertbegriff der modernen Ökonomie ist dagegen im Prinzip ein relationaler Begriff, eine Verhältnisbestimmung, welche die Relation zwischen der subjektiven Nutzenerwartung des Warenkäufers und der auf der Angebotsseite zur Verfügung stehenden Warenmenge zu erfassen sucht." (BECKER 1972:14)

Also wenn der aristotelische Gebrauchswert in Relation steht zu einer "Konstante der menschlicher Bedürfnisbefriedigung", so ist das "essenzialistisch"; wenn die Nutzenerwartung in Verhältnis gesetzt wird zur angebotenen Warenmenge, so ist das eine "Relation". Das sieht nach Logik aus, ist es aber zweifellos nicht. Nebenbei bemerkt: Wenn Marx im Anschluss an Montesquieu und Hegel von "Verhältnissen" spricht, so meint er damit ebenfalls "Relationen" - so "modern" kann Logik sein!

Und wenn auch Aristoteles noch so ein Essentialist sei, wie er bei Popper im Buche steht, so kann deswegen doch nicht alles, was von ihm gelehrt und gelernt worden ist, deswegen falsch sein. Becker zeigt indes, wie es einem professionellen Marxtöter zusteht, ein Faible für fallbeilartige Pauschalurteile.

Nach einem Ausflug zu Thomas von Aquin, der so primitiv war, Zinswucher abzulehnen findet Becker schließlich die "Anfänge der sogenannten objektiven Wertlehre, der Arbeitswerttheorie, in der scholastischen Philosophie" (BECKER 1972:17f).

Schließlich angelangt bei John Locke und William Petty: „Die ökonomischen Theoretiker der bürgerlichen Emanzipation argumentieren denn auch vorzugsweise gegen die Theorie, die zur gleichen Zeit von der Produktivität und vorher den gesellschaftlichen Reichtum in Abhängigkeit von der Produktivität der Landwirtschaft, d. h. der Fruchtbarkeit der bebaubaren Böden, sahen.“ (BECKER 1972:19)

Nachdem Becker so die altbekannte (vgl. etwa Marx: Theorien über den Mehrwert; HOFMANN 1964) Weisheiten über die befleckte Empfängnis der Arbeitswertlehre aufgetischt hat, fragt man sich, welche Argumente er denn aus dem Entstehungszusammenhang der Theorie gegen deren Geltung ziehen möchte. Wenn er jedoch mit dieser Darstellung wirklich in die marxsche Arbeitswerttheorie einführen wollte, so müsste er erst einmal diese darlegen - und dabei ggf. zeigen, inwieweit diese die oben erwähnten Theoreme (wenn es denn welche sein sollten) übernommen habe - oder ist etwa Aristoteles, Thomas von Aquin, Locke, Petty, ... - alles eines?!
„Gleichwohl enthält auch die neue Arbeitswertlehre ein normatives Element, in welchem man so etwas wie eine Wiederkehr der aristotelisch-scholastischen Bindung des Tauschwerts an den Gebrauchswert erblicken kann.“ (BECKER 1972:20)

Die alte Leier! Eine jede Theorie lässt sich (auch) normativ interpretieren! Beckers These hört sich jedoch an wie die Theorie von der Erbsünde (einmal Sünder, immer Sünder!). Und noch mehr: Diese Erbsündtheorie ist zutiefst Essentialismus reinsten Wassers; denn ihr zufolge ist eine Theorie, die einmal in ihrem Kerngehalt normativ war, immer normativ, trotz ihrer Fortentwicklung über die Jahrhunderte hinweg: ein Makel, der sich nicht auslöschen lässt, der immer in ihr steckt und immer wieder zum Vorschein kommt. O jemine!

Allein schon wegen des marxschen Begriffs "Ausbeutung" werden der AWT gerne normative bzw. "kryptonormative" Tendenzen vorgeworfen. Was auch immer hiermit genau gemeint sei, welche Konsequenzen ergäben sich daraus?
"Daß ein Ausdruck ein Werturteil enthält, rechtfertigt für sich allein, auch wenn er in der wissenschaftlichen Forschung verwandt wird, noch keinen Einwand." (MYRDAL 1965:43).

Wer (wie GEIGER 1968) Werturteile als "ideologisch" abqualifiziert und deswegen aus der Wissenschaft auszuschließen unternimmt, fällt damit selber unter den eigenen Ideologie-Begriff (ALBERT 1980:82).

Unter dem Gesichtspunkt der empirischen Wissenschaft interessiert lediglich, inwieweit (selbst wenn einige Autoren normative Konnotationen beabsichtigt haben bzw. ungewollt dergleichen mitschwingen) Theoreme, die Begriffe wie etwa "Ausbeutung" enthalten, sich empirisch gehaltvoll interpretieren lassen, bzw. welche prüfbare Aussagen über empirisch vorkommende Wirkungszusammenhänge darin enthalten sind.
"Meines Erachtens läßt sich das philosophische Gewand auch immer von der Wirtschaftswissenschaft abstreifen; die Wirtschaftsanalyse ist zu keiner Zeit von den philosophischen Anschauungen der Wirtschaftswissenschaftler geprägt worden, obgleich sie häufig genug durch deren politische Einstellung entstellt wurde. (...)
Der Beweis als solcher wird in den folgenden Teilen erbracht, in denen wir auch aufzeigen werden, daß sogar Wirtschaftswissenschaftler, die sehr stark ausgeprägte philosophische Anschauungen vertraten, wie Locke, Hume, Quesnay und vor allem Marx, sich tatsächlich in ihrer analytischen Arbeit nicht von ihnen beeinflussen ließen.

Der Grund, warum ich die These mit so viel Nachdruck vertrete, daß die Philosophie im technischen Sinne des Wortes schon ihrer Beschaffenheit nach die Wirtschaftsanalyse gar nicht beeinflussen kann und praktisch auch nicht beeinflußt hat, liegt darin, daß die Gegenthese zu einer der Hauptquellen von Scheinerklärungen über die Entwicklungsgeschichte der Wirtschaftsanalyse geworden ist. Diese Scheinerklärungen sprechen besonders solche Historiker der Wirtschaftswissenschaft an, die sich in erster Linie für philosophische Gesichtspunkte interessieren und daher übermäßigen Wert auf Hinweise auf solche Zusammenhänge legen, von denen es ja in der Fachliteratur mehr als genug gibt, und die oft nicht als das erkannt werden, was sie sind - nämlich Verbrämungen, die trotz ihrer Fadenscheinigkeit die Filiation wissenschaftlicher Ideen verschleiern." (SCHUMPETER 1965:64f)


Schließlich ist zum Beispiel der Begriff "Ausbeutung von Naturschätzen" genauso ökonomisch sinnvoll und auch möglicherweise gehaltvoll wie etwa "Ausbeutung der Arbeitskraft". Dass der eine Sachverhalt evtl. andersartige normative Assoziationen weckt als der andere kann nichts an ihrer Bedeutung für die ökonomische Theorie ändern. Wer für Wertfreiheit eintritt, der sollte sich an den empirischen Gehalt von Theorien halten, und sie nicht wegen ihrer normativen Interpretationsmöglichkeiten aus der wissenschaftlichen Debatte hinauswerfen – was sich aber sowieso nur die wenigsten gefallen lassen.

== Literaturangaben ==
Werner Becker: Kritik der Marxschen Wertlehre. Die methodische Irrationalität der ökonomischen Basistheorien des "Kapitals". Hamburg 1972. ISBN 3-455-09071-0.
Wert- und Preislehre. hrg. v. Werner Hofmann, Sozialökonomische Studientexte, Bd. 1, Berlin 1964
Hans Albert: Ökonomische Ideologie und politische Theorie. Das ökonomische Argument in der ordnungspolitischen Debatte. Göttingen 1954
Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. 4. Aufl. Tübingen 1980.
Gunnar Myrdal: Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft. Hannover 1965.
Theodor Geiger: Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens. Luchterhand : Neuwied und Berlin 2. Aufl. 1968.
Joseph A. Schumpeter, (Elizabeth B. Schumpeter, Hg.): Geschichte der ökonomischen Analyse. Erster Teilband. Vandenhoeck Ruprecht Göttingen 1965.

Dienstag, 23. Juni 2009

Popper und Max Weber

"Die Theorie, daß sich zwar die physikalischen Wissenschaften auf einen methodologischen Nominalismus gründen, daß aber in den Sozialwissenschaften essentialistische ('realistische') Methoden angewendet werden müßten, wurde mir im Jahre 1925 von K. Polanyi klargemacht; Polanyi hat damals darauf verwiesen, daß sich durch Aufgeben dieser Theorie möglicherweise eine Reform der Methodologie der Sozialwissenschaften erreichen ließe.- Die Theorie wird in gewissem Ausmaße von den meisten Soziologen vertreten, insbesondere von J. ST. MILL (z.B. in seiner Logik, Bd. VI, Kapitel VI,2; vgl. auch seine historizistischen Formulierungen, z. B. in Bd. VI, Kapitel X, letzter Absatz: 'Das Grundproblem ... der Sozialwissenschaft besteht in der Auffindung von Gesetzen, nach denen jeder Zustand der Gesellschaftsordnung einen ihm nachfolgenden Zustand hervorbringt...", K. Marx (siehe unten), Max Weber (vgl. z. B. seine Definitionen 'Soziologische Grundbegriffe', in Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. I, S. 1ff., auch in den Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre), G. Simmel, A. Vierkandt, R. M. MacIver und vielen anderen. - Der philosophische Ausdruck all dieser Tendenzen findet sich in Husserls 'Phänomenologie', die eine systematische Wiederbelebung des platonischen und aristotelischen methodologischen Essentialismus ist." (POPPER 1992:262, Anm. 41:30)

In einer Art anti-essentialistischem Rundum-Verfolgungswahn sieht Popper Essentialismus in der Soziologie allerwegen und allerorten. Dabei wirft er wahllos die unterschiedlichsten Metatheorien in einen und denselben Topf, "Essentialismus" genannt. Auf diese Weise werden etwa Marx, Weber und Husserl alle in denselben Käfig gesperrt (vielleicht damit sie sich gegenseitig totbeißen?!).

Anscheinend hat Popper schon ausgereicht, dass Max Weber in bewährter juristischer Manier Definitionen entworfen und zusammengestellt hat, um ihn als Essentialisten zu identifizieren. Wie aber etwa eine Rechtswissenschaft ohne Definitionen auskommen könnte, das hat Popper nicht erforscht.

Wer nach der Manier essentialistisch=überholt=falsch=übel die Theoretiker rubriziert, hat es einfach, "Ideengeschichte" zu schreiben. Der Erkenntnisfortschritt wird dadurch blockiert, weil diese Art von Ideengeschichte nicht über ideologisches Etikettieren hinauskommt und darüber hinaus aufgrund dogmatischer Setzungen wissenschaftliche Erkenntnisperspektiven abgeschnitten werden, weil aus anti-marxistischem Eifer heraus ideologisch gegründete Denk- und Forschungsverbote errichtet werden.

Wenn man Popper glauben will, so darf Sozialwissenschaft nicht erforschen, wie gesetzmäßig ein Zustand der Gesellschaft aus einem anderen folge. Denn das wäre dann sogleich "Historizismus" (d.h. also: Prophetie, Orakeln, ...). Gescheiterte Ökonomen werden freilich erleichtert mit Popper sagen können, dass jedwede Konjunkturtheorie nur Unsinn sein könne, und sich auf ihre bewährte reine Theorie zurückziehen können. Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist!

Es ist jedoch erfreulich festzustellen, dass ernsthafte Soziologen und Politologen hier das Beste machen, was sie tun können, nämlich Poppers idiosynkratische Phobien ignorieren.

"The pivotal assumption of this analysis is that social science research, including comparative inquiry, should and can lead to general statements about social phenomena. This assumption implies that human or social behavior can be explained in terms of general laws established by observation. Introduced here as an expression of preference, this assumption will not be logically justified.
It is this kind of assumption that accompanied the development of comparative inquiry during the last two centuries. The corollary of this assumption is that social behavior conforms to a limited number of recognizable patterns. One of the major patterns identified by social scientists such as Comte, Marx, Durkheim, Weber, and Spencer is that societies undergo a structured process of development." (PRZEWORSKI/TEUNE 1970:4)

Notabene: Popper maskiert seine ideologische Präferenz als "Ziel der Erfahrungswissenschaft" oder als "Abgrenzung von empirischer Wissenschaft gegen Pseudowissenschaft und Metaphysik" (WENDEL 1998:41). - Unsere zitierten Sozialwissenschaftler sprechen stattdessen unverhüllt von ihren eigenen, logisch unabgeleiteten Präferenzen, die sie zum Startpunkt ihres Forschungsprogramms wählen. Wer ist hier Fallibilist?! Wer ist hier Dogmatiker?!

== Literaturangaben ==
Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd1: Der Zauber Platons. Tübingen 7. Aufl., 1992 (zuerst: 1944).
Adam Przeworski, Henry Teune: The Logic of Comparative Social Inquiry. Wiley-InterscienceNew York, London, Toronto, Sydney 1970. ISBN 471-70142-4.
Hans Jürgen Wendel: Das Abgrenzungsproblem (I. Kap., Abschn. 4). In: Herbert Keuth, (Hg.): Logik der Forschung. Akademie Verlag Berlin 1998. ISBN 3-05-003021-6.

Sonntag, 21. Juni 2009

Wahrheitsinstanz

"Zur Wahrheit gehört nicht nur das Resultat, sondern auch der Weg. Die Untersuchung der Wahrheit muß selbst wahr sein, die wahre Untersuchung ist die entfaltete Wahrheit, deren auseinandergestreute Glieder sich im Resultat zusammenfassen." (MEW 1:7)

Wer wie feststellt, was wahr ist, kann institutionalisiert sein, d.h. Aufgabe oder Funktion einer Institution.

Institutioneller Marxismus mit Partei, Zentralkomitee und Parteilinie ist nur ein Spezialfall. Andere empirisch vorkommende Fälle sind:

* Kirche, Papst, Dogma
* Kunst und Wissenschaft
* Presse, Medien, Journalismus
* wikipedia, ...

Diese Einrichtungen sind oder haben ein "Amt zur Feststellung amtlicher Tatsachen", d.h. sie haben organisiert, wie man dieser nahe kommt bzw. Wahrheiten produziert.

Es handelt sich hierbei um Systeme, die Kommunikation bzw. Austausch und Kodifikation, Kanonisierung und Revision von Wissensbeständen organisieren und hierbei einem System von Regeln und Kriterien folgen. Damit Regeln verhaltenswirksam werden, muss ein bestimmtes Anreizsystem institutionalisiert sein.

Die hierbei angewandten Kriterien können stark variieren und hängen z. B. davon ab, wie die Machtstrukturen und Entscheidungsprozesse sind und inwieweit Wissensergebnisse technologisch umgesetzt werden sollen. Denn es stellt sich unabhängig von der empirischen Bewährtheit bzw. Wahrheit einer Theorie das Problem, inwieweit sie akzeptiert werden kann, um technisch umgesetzt zu werden (Risiko- und Folgenkostenabschätzung).

Es müssen gewisse Infrastrukturen wirklich vorhanden sein; z. B. bestimmte Netzwerke für die Kommunikationsstruktur und Wissensspeicher.

Es ist das Problem von Wissenschaftspolitik:
Wie ist das System Wissenschaft so zu organisieren, dass ein bestmöglicher Erkenntnisfortschritt stattfindet?

Wissensmanagement verfolgt analoge Problemstellungen, mit je nach besonderer Institution zum Teil divergierenden Zielsetzungen.

Was "Wahrheit" ist, besagt die entsprechende Wahrheitstheorie. Der Praxis einer Wahrheitsinstitution kommt die Konsenstheorie der Wahrheit am nächsten, wobei "Konsens" auf unterschiedliche Weise organisiert sein kann. Das Entscheidende ist, dass die Wahrheit hier ganz offensichtlich als Konsequenz eines sozialen Entscheidungsmechanismus herauskommt. Die Gefahr liegt nahe, dass diese Art von sozial hergestellter Wahrheit eine andere ist als die Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie, für die es so etwas wie eine objektive Realität ist, an der sich die Wahrheit ermessen soll. Nur erfordert diese Art von im Sinne des Realismus objektive Wahrheit auch wieder einen sozialen Mechanismus, der hic et nunc eine Entscheidung zustande bringt über Akzeptanz oder Ablehnung.

Ähnliche Probleme wie mit der Wahrheit tauchen auf bei der Sprache, insbesondere bei der Vergabe von Bezeichnungen. Die Definitionsmacht von Institutionen ist beträchtlich und übersteigt in der Regel diejenige von Einzelpersonen. Dabei spielt ein gewissermaßen natürlicher "Essentialismus" eine bedeutsame Rolle, wenn nämlich Begriffe für den Sprachbenutzer zu Dingen oder Sachen werden. "Verdinglichung" ist nicht allein auf Warenfetischismus zurückzuführen; dieser ist eher ein Spezialfall derselben. Wenn eine Kartellbehörde darüber befindet, was "marktbeherrrschend" ist, oder die Regierung, was "marktkonform" oder "systemrelevant", so werden durch diese Entscheidungen Abgrenzungen in die Realität umgesetzt, die dort vorher nicht in dieser Weise anzutreffen waren.

Helmut Spinner führt die Entstehung von Wissenschaft im wissenschaftstheoretischen Verstande auf Parmenides zurück, der die Erkenntnistheorie mit der Rechtsidee, genauer: der Rhetorik vor Gericht, verknüpft habe. In seinem Lehrgedicht wird Parmenides von der Göttin Dike mit Handschlag begrüßt. Spinner vergleicht dies göttliche Kommunikationsverhältnis mit derjenigen, als Moses am Berg Sinai die Gebote empfangen hat, von einem alttestamentarischen "Gott von altem Schrot Korn, von philosophischen Überlegungen unbehelligt, ganz von oben herab mit allem Brimborium offenbart, was der Mensch zu glauben oder zu tun hat."

"Gott hoch vom Himmel her, Moses im Staube, das schreckerstarrte Volk im Hintergrund, dazu Donner und Blitz, Posaunenschall und Feuerspuk des Berges; einer spricht, alles andere hört zu, glaubt und gehorcht; Verdikte und Befehle, unterstützt durch klare Drohungen und unklare Versprechungen (vgl. 2. Mose, 20) - und zur Auffrischung das Ganze noch einmal (vgl. 5, Mose, 5). Von freundlicher Begrüßung mit herablassendem Händedruck (hat Jehova überhaupt Hände, mit denen er Menschenhände schütteln könnte?), Einräumung eines Rechts auf umfassende Information oder Appell an menschliche Urteilskraft ist hier weit und breit keine Spur zu sehen. Keinerlei Zweifel besteht, wer hier allein das Sagen hat und wem das Zuhören, Glauben, Gehorchen, Kuschen zukommt. Das ist eine echte Offenbarungssituation, bei der nichts fehlt und vor allem auch nichts zuviel da ist." SPINNER (1977:99)

Die Offenbarungsidee sucht die Feststellung der Wahrheit auf eine theologische Quelle zurückzuführen; spätestens Martin Luther hat erkannt, dass auch diese Quelle wiederum vom Menschen, wenn er sie denn kapieren will, interpretiert werden muss.

Die Idee von Parmenides jedoch besteht darin, die Wahrheit der Wissenschaft in einem Verfahren feststellen zu wollen, das analog abläuft einem Gerichtsprozess, mit Zeugen und Zeugnissen, und schlussendlich einem Richterspruch.

Karl Marx befasste sich als Journalist schon früh mit der preußischen Pressezensur. Zensur ist für ihn eine Form institutionalisierter Kritik, wodurch die Regierung festsetzt, was unter ihr als Wahrheit erscheinen darf. Dieser Art von Kritik ist jedoch wiederum Kritik entgegenzusetzen.

"Die Zensur ist die offizielle Kritik; ihre Normen sind kritische Normen, die also am wenigsten der Kritik, mit der sie sich in ein Feld stellen, entzogen werden dürfen." (vgl. MEW Bd. 1, S. 3)


Marx wendet sich dagegen, der Untersuchung dessen, was wahr ist, Beschränkungen und rechtlich undefinierbare Rücksichten aufzuerlegen.

"Ist die Wahrheit einfach so zu verstehen, daß Wahrheit sei, was die Regierung anordnet, und daß die Untersuchung als ein überflüssiger, zudringlicher, aber der Etikette wegen nicht ganz abzuweisender Dritter hinzukomme? Es scheint fast so. Denn von vornherein wird die Untersuchung im Gegensatz gegen die Wahrheit gefaßt und erscheint daher in der verdächtigen offiziellen Begleitung der Ernsthaftigkeit und Bescheidenheit, die allerdings dem Laien dem Priester gegenüber geziemen. Der Regierungsverstand ist die einzige Staatsvernunft. Dem andren Verstand und seinem Geschwätz sind zwar unter gewissen Zeitumständen Konzessionen zu machen, zugleich abertrete er mit dem Bewußtsein der Konzession und der eigentlichen Rechtlosigkeit auf, bescheiden und gebeugt, ernsthaft und langweilig."(MEW 1:7-8)


Besondere Ablehnung findet bei Marx, dass ein Journalist nicht für seine Taten verantwortlich sein soll, sondern nach der politischen Tendenz, die man seinen literarischen Produkten zuschreiben zu können meint.

"Der Schriftsteller ist also dem furchtbarsten Terrorismus, der Jurisdiktion des Verdachts anheimgefallen. Tendenzgesetze, Gesetze, die keine objektiven Normen geben, sind Gesetze des Terrorismus, wie sie die Not des Staats unter Robespierre und die Verdorbenheit des Staats unter den römischen Kaisern erfunden hat. Gesetze, die nicht die Handlung als solche, sondern die Gesinnung des Handelnden zu ihren Hauptkriterien machen, sind nichts als positive Sanktionen der Gesetzlosigkeit. Lieber wie jener Zar vonRußland jedem den Bart durch offizielle Kosaken abscheren lassen, als die Meinung, in der ich den Bart trage, zum Kriterium des Scherens machen.
Nur insofern ich mich äußere, in die Sphäre des Wirklichen trete, trete ich in die Sphäre des Gesetzgebers. Für das Gesetz bin ich gar nicht vorhanden, gar kein Objekt desselben, außer in meiner Tat. Sie ist das einzige, woran mich das Gesetz zu halten hat; denn sie ist das einzige, wofür ich ein Recht der Existenz verlange, ein Recht der Wirklichkeit, wodurch ich also auch dem wirklichen Recht anheimfalle. Allein das Tendenzgesetz bestraft nicht allein das, was ich tue, sondern das, was ich außer der Tat meine. Esist also ein Insult auf die Ehre des Staatsbürgers, ein Vexiergesetz gegen meine Existenz.
Ich kann mich drehen und wenden, wie ich will, es kommt auf den Tatbestand nicht an. Meine Existenz ist verdächtig, mein innerstes Wesen, meine Individualität wird als eine schlechte betrachtet, und für diese Meinung werde ich bestraft. Das Gesetz straft mich nicht für das Unrecht, was ich tue, sondern für das Unrecht, was ich nicht tue. Ich werde eigentlich dafür gestraft, daß meine Handlung nicht milden, wohlmeinenden Richter, an meine schlechte Gesinnung, die so klug ist, nicht ans Tageslicht zu treten, sich zu halten.
Das Gesinnungsgesetz ist kein Gesetz des Staates für die Staatsbürger, sondern das Gesetz einer Partei gegen eine andre Partei. Das Tendenzgesetz hebt die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetze auf. Esist ein Gesetz der Scheidung, nicht der Einung, und alle Gesetze der Scheidung sind reaktionär. Es ist kein Gesetz, sondern ein Privilegium. Der eine darf tun, was der andre nicht tun darf, nicht weil diesem etwa eine objektive Eigenschaft fehlte, wie dem Kind zum Kontrahieren von Verträgen, nein, weil seine gute Meinung, seine Gesinnung verdächtig ist. Der sittliche Staat unterstellt in seinen Gliedern die Gesinnung des Staats, sollten sie auch in Opposition gegen ein Staatsorgan, gegen die Regierung treten; aber die Gesellschaft, in der ein Organ sich alleiniger, exklusiver Besitzer der Staatsvernunft und Staatssittlichkeit dünkt, eine Regierung, die sich in prinzipiellen Gegensatz gegen das Volk setzt und daher ihre staatswidrige Gesinnung für die allgemeine, für die normale Gesinnung hält, das üble Gewissen der Faktion erfindet Tendenzgesetze, Gesetze der Rache, gegen eine Gesinnung, die nur in den Regierungsgliedern selbst ihren Sitz hat. Gesinnungsgesetze basieren auf der Gesinnungslosigkeit, auf der unsittlichen, materiellen Ansicht vom Staat. Sie sind ein indiskreter Schrei des bösen Gewissens. Und wie ist ein Gesetzder Art zu exekutieren? Durch ein Mittel, empörender als das Gesetz selbst, durch Spione, oder durch vorherige Übereinkunft, ganze literarische Richtungen für verdächtig zu halten, wobei allerdings wieder auszukundschaften bleibt, welcher Richtung ein Individuum angehöre. Wie im Tendenzgesetz die gesetzlicheForm dem Inhalt widerspricht, wie die Regierung, die es gibt, gegen das eifert, was sie selbst ist, gegen die staatswidrige Gesinnung, so bildet sie auch im be sondern gleichsam die verkehrte Welt zu ihren Gesetzen, denn sie mißt mit doppeltem Maß. Nach dereinen Seite ist Recht, was das Unrecht der andern Seite ist. Ihre Gesetze schon sind das Gegenteil von dem, was sie zum Gesetz machen."
[Marx: Bemerkungen über die neue preußische Zensurinstruktion, S. 26. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 9792f (vgl. MEW Bd. 1, S. 14f)]


== Literaturangabe ==

Helmut F. Spinner: ''Begründung, Kritik und Rationalität.'' Bd. I. Vieweg, Braunschweig 1977. ISBN 3-528-08376-X.

Schizophrener Essentialismus und dogmatischer Kritizismus

Die dogmatisch-kritizistische Methode des schizophrenen Essentialismus

„Der Essentialismus geht in Anlehnung an die Ideenlehre von Plato davon aus, daß es einen Kosmos idealer Wesenheiten real gebe, auf den Begriffe a priori bezogen seien, und daß es die Aufgabe der Wissenschaft sei, die irdischen Erscheinungen jenen idealen Gegenstandsklassen begrifflich zuzuordnen. Dabei wird angenommen, daß den idealen Wesenheiten bestimmte innere Zielsetzungen und Bewegungstendenzen innewohnten, denen dann auch die vom Wissenschaftler qua Definition zugeordneten empirischen Erscheinungen folgen. Das Verhalten von Gegenständen wird also dadurch ‚erklärt‘, daß man sie den abstrakten Wesenheiten definitorisch zuordnet, die dieses Verhalten als inneres Bewegungsgesetz, als inhärente teleologische Tendenz aufweisen.“ (ESSER 1993:59)

Man konstruiere sich ein essentialistisches Monster (genannt: Essentialismus, Historizismus, Dogmatismus, …) und besiege es in 1-2-3 Zügen!

Statt sich mit den Argumenten und Theorien historisch bestimmter Autoren en détail auseinanderzusetzen, bastelt sich Karl Popper selber, auf welchen Esser hierfür verweist, einen idealtypischen Gegner aus der Retorte, im Wege einer relativ unbestimmten Wesensdefinition, die in rhetorisch bewährter Schwarz-Weiß-Manier (alternativradikalistisch) aufs Kampffeld des „Kriegs der Ideen“ geführt wird.

Hierbei werden keine Probleme mehr aufgestellt und zu lösen versucht, sondern Pseudo-Begriffe klappern in ihren Blechrüstungen aufeinander, ohne dass irgendeine relevante wissenschaftliche Theorie oder gar ein wissenschaftliches Problem dabei ernsthaft zu Schaden käme – zu Schaden kommt lediglich das wissenschaftliche Bewusstsein und das Interesse der Leserschaft, deren Verstand dem ganzen Schlachtenlärm hilflos gegenüber steht und doch bei all diesem Aufwand wissen möchte, worum es denn genau ginge. Beweis: nach so vielen Jahren ist das Publikum immer noch ratlos, was Popper wann und wo mit diesen Begriffen denn genau gemeint hat. Unklare Begriffe so zu verwenden, als ob sie klar werden, ist eine Form auch popperschen Dogmatismus.

Dass die Begriffe unklar bleiben müssen, ist auch durch ihre Entstehung und Handhabung bedingt. Sie markieren fallweise Frontstellungen und Grenzziehungen zwischen Gut und Böse, lassen aber ihren sachlich-theoretischen Gehalt und die Herkunft aus einer wissenschaftlichen oder philosophischen Problemstellung oder Kontroverse nicht mehr erkennen. Statt der Dialektik der wissenschaftlichen Probleme findet eine normativ akzentuierte Dichotomisierung statt, wobei differenziertere Begriffsunterscheidungen, die dem Problem gerecht werden könnten, ignoriert werden (vgl. Poppers Nachbesserung: „modifizierter Essentialismus“).

Dieses popperizistische Erbgut, halb pietätshalber, halb mangels besserer Allgemeinplätze, schwimmt auch noch bei ESSER obenauf mit. Halbheiten in der Darstellung erzielen eine milde Schizophrenie zwischen dem Ziel einer Rundum-Kritik und einer naiv-scholastischen Lehrbuch-Darstellung, die nur den Anschein erweckt, allgemeinverständlich zu sein.
„Was ist Soziologie?“: Esser sagt, dass es keine Wesensdefinition der Soziologie gebe, definiert aber trotzdem, vermutlich weil es in Soziologie-Einführungen schon immer so gewesen ist.
Es gebe keinen Konsens innerhalb der soziologische Theorie; dennoch stellt man „die“ Theorie und „die“ Methode dar!
Popperizismus gibt trivial-billige Allerwelts-Antworten auf ununterdrückbare Fragen und würgt in dieser Weise jedes Problematisieren ab, macht in dieser Weise echtes Verstehen unmöglich. Theorievergleich findet im Konversationsstil ab, indem Theoriealternativen mit Redensarten abgewimmelt werden.

Die natürliche Methode der Kritik: Lesen und kritisch vergleichen

Über Hegels „Arbeiten aus der Gymnasialzeit“ berichtet ROSENKRANZ (1998:15f):
„Allein auch ganze Bücher zu excerpiren hat er, sobald sie ihm wichtig schienen, nie unterlassen und noch sind auch von späteren Zeiten seine Auszüge aus Creuzer’s Symbolik, aus dem ersten Bande von Schleiermacher’s Glaubenslehre, aus Haller’s Restauration der Staatswissenschaften, aus den Schriften des Petersburger Astronomen Schubert u. a. als Denkmale seines eisernen Fleißes vorhanden. Der Bestimmtheit wegen hat er dem Excerpt immer die Quelle hinzugefügt. Durch das Abschreiben drang er bis in die feinsten Fasern des Fremden ein und erreichte es, sich auf jeden, auch den individuellsten Standpunkt zu versetzen und dessen eigene Terminologie reden zu können. In der Kritik verstand er es daher so meisterhaft, ‚sich in den Umkreis des Gegners zu stellen‘ und dessen Ansicht so zu entwickeln, als ob sie seine eigene wäre. Diese Kraft der Entäußerung zog ihm auch mannigfach den Mißverstand zu, daß oberflächliche und flüchtige Leser solche objective Incarnation Hegel’s mit ihm selbst verwechselten und ihn oft dessen beschuldigten, was er gerade bekämpfte.“

„Wie oft ist daher nicht über seine Sprache gesprochen und wer gegen sein System nichts zu sagen wußte, bekrittelte mindestens seinen Vortrag. Hegel gesticulirte viel, aber die körperliche Geberde wie die Bewegung der Stimme fielen mit dem Gehalt nicht harmonisch zusammen. Bei dem, welcher die Darstellung nach Außen beherrschen kann, weil er mit der Sache fertig ist, tritt zwischen dem Innern und der Aeußerung keine Hemmung ein. Sein Empfinden, Vorstellen und Denken geht momentan in sein Sprechen auf. Bei Hegel blieb in diesem Proceß, auch wenn er sich die Rede vorher zu Papier gebracht hatte, immer noch ein Rest. Er producirte den Inhalt immer von Neuem und konnte ihn daher, auch für den Augenblick, stets nur relativ fertig machen. Dieser Kampf mit der Darstellung, den letzten durchbohrenden, nichts zurücklassenden Ausdruck zu finden, dies unaufhörliche Suchen, diese Fülle von Möglichkeit, erschwerten ihm mit den Jahren, je reicher seine Bildung, je vielseitiger sein Denken und je bedingter seine Stellung durch ihre Größe ward, nicht nur das Sprechen überhaupt, sondern auch das Schreiben und man kann namentlich nichts Zerhackteres, nichts Ausgestricheneres, fortwährend Umgeschriebenes sehen, als ein Hegel’sches Briefconcept aus der Berliner Periode.“ (ROSENKRANZ 1998:16f)

Wer Karl Marx aus eigener Lektüre kennt, wird auch seine Excerpte und Manuskripte kennen. Er kann in natura sehen, dass in der wesentlichen Methode Marxens Arbeitsstil kaum von der bewährten Hegelschen Gymnasiastenarbeitsweise abwich. Und wenn er auch Begriffe wie „Vulgärökonomie“ gebrauchte, so hatte er dennoch auch die Vulgärökonomen mit Text und Quelle zitiert und sich mit ihnen textnah argumentativ auseinandergesetzt: Argumentieren im und am Text.

Im Stile des Popperizismus hätte er aber das Wesen der „Vulgärökonomie“ definitorisch bestimmen müssen, um erst dann hernach es rein logisch zu zerfetzen.

== Literaturangaben ==
Hartmut Esser: Soziologie: Allgemeine Grundlagen. Campus Verlag, 1999. ISBN 3593349604, 9783593349602.
Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1998. ISBN 3-534-13917-1.

Samstag, 20. Juni 2009

Werturteil

(1) Hans Albert: Max Weber habe „Wert“ und „Werturteil“ kaum analysiert.

(2) Max Weber bezieht sich jedoch explizit auf Heinrich Rickert und Emil Lask.

(3) Viktor Kraft: Rickert habe den Wertbegriff als letzten, unableitbaren Begriff bezeichnet.

(4) Albert zieht die Wertanalyse Krafts der von Rickert oder anderen vor. Er schreitet daher zu einer Reformulierung des Problems nach dem Stand der Wissenschaft.

(5) Damit ist jedoch immer noch nicht erwiesen, dass Weber keine hinreichend ausgearbeitete Werttheorie gehabt habe. Es verbleibt eine Interpretationsaufgabe.

(6) Erst nach Lösung der Interpretationsaufgabe bzw. Rekonstruktion kann ein vollständiger Theorievergleich vorgenommen werden.

(1) Hans Albert: Max Weber habe „Wert“ und „Werturteil“ kaum analysiert.

"In den Werken Max Webers findet man kaum systematische Analysen von Wertbegriffen und Werturteilen. Die Lösung des Deutungsproblems wird bei ihm im allgemeinen als selbstverständlich vorausgesetzt.“ (ALBERT/TOPITSCH 1971:X (Einleitung))


(2) Max Weber bezieht sich jedoch explizit auf Rickert.

„So sicher es nun ist, daß außer der reinen Mechanik einerseits, gewissen Teilen der Geschichtswissenschaft andererseits, keine der empirisch vorhandenen ‚Wissenschaften‘, deren Arbeitsteilung ja auf ganz anderen, oft ‚zufälligen‘ Momenten beruht, nur unter dem einen oder nur unter dem anderen Zweckgesichtspunkt ihre Begriffe bilden kann – es wird davon noch zu reden sein -, so sicher ist doch, daß jener Unterschied in der Art der Begriffsbildung an sich ein grundsätzlicher ist, und daß jede Klassifikation der Wissenschaften unter methodischen Gesichtspunkten ihn berücksichtigen muß.“ (WEBER 1988:6f)

„Ich glaube, vorstehend mich ziemlich sinngetreu an die wesentlichen Gesichtspunkte der früher zitierten Arbeit Rickerts angeschlossen zu haben, soweit sie für uns von Belang sind. Es ist einer der Zwecke dieser Studie, die Brauchbarkeit der Gedanken dieses Autors für die Methodenlehre unserer Disziplin zu erproben. Ich zitiere ihn daher nicht bei jeder Gelegenheit erneut, wo dies an sich zu geschehen hätte.“ (WEBER 1988: 7, Anm. 1)


(3) Viktor Kraft: Rickert habe den Wertbegriff als letzten, unableitbaren Begriff bezeichnet.

„Die Wertbegriffe werden in der Wertphilosophie, in der deutschen und in der außerdeutschen, meist als undefinierbar betrachtet. Für den Wert-Intuitionismus sind sie ja spezifische Qualitäten, die man nur erschauen, aber nicht beschreiben kann. Aber auch die badische Wertphilosophie hat erklärt: "Was der Wert selbst ist, läßt sich freilich nicht im strengen Sinn 'definieren', weil es sich dabei um einen letzten und unableitbaren Begriff handelt.' Selbst die Wertpsychologie steht auf diesem Standpunkt. Ebenso andere Wertphilosophen. Für die Schule Brentanos sind hinwieder die Wertbegriffe deshalb undefinierbar, weil Wert kein selbständiger Gegenstand ist. 'Wert' ist nur ein 'synsemantisches' (mitbedeutendes) Zeichen, das bloß in einem Satzzusammenhang einen Sinn hat, aber kein selbständiges Objekt bezeichnet. Nicht minder hält auch der Neupositivismus eine Definition der Wertbegriffe für ausgeschlossen, weil sie für ihn 'sinnlos', d.h. ohne darstellenden (theoretischen) Gehalt sind. Demgegenüber läßt sich aber zeigen, daß sich doch ein Sinngehalt der Wertbegriffe explizit angeben läßt. Durch eine logische Analyse der Wertbegriffe lassen sich die Elemente aufschließen, die ihren Sinngehalt konstituieren.“ (KRAFT 1971:44f)


(4) Albert zieht die Wertanalyse Kraft gegenüber derjenigen Rickerts u.a. vor. Er schreitet daher zu einer Reformulierung des Problems nach dem Stand der Wissenschaft.

„Die Max Webersche Konzeption ist unzweifelhaft in philosophische Auffassungen eingebettet, die man nicht im ganzen akzeptieren muß, wenn man das Wertfreiheitsprinzip in die heutige Wissenschaftslehre übernehmen möchte. Sie ist außerdem zumindest insofern unvollständig, als sie das Problem der logischen Analyse von Werturteilen weitgehend offen läßt. Sie ist überdies hinsichtlich des Problems der Wertbeziehung, wie wir gesehen haben, unnötig restriktiv, ebenso möglicherweise in bezug auf die Möglichkeiten einer kritischen Wertdiskussion. Eine Reformulierung auf der Grundlage der heutigen Problemsituation mag daher angezeigt erscheinen.“ (ALBERT 1971:212)

Dass Rickert den Wertbegriff als letzten undefinierten Begriff behandelt, ist jedoch kein Nachweis, dass er keine Werttheorie habe. Popper in seiner Definitionslehre hält es für unabwendbar, dass immer irgendwelche Begriffe in einer Definitionskette unableitbar bleiben müssen, und daher für schicklich, ganz auf explizite Definitionen zu verzichten. Kraft geht es bei seiner Darlegung auch nur um den Nachweis, dass eine logische Analyse des Wertbegriffs sinnvoll und durchführbar ist, wohingegen andere Philosophen sich davor gesträubt haben. Auch Kraft geht nicht soweit, zu behaupten, dass Rickert eine Wertphilosophie völlig abgehe.

(5) Damit ist jedoch immer noch nicht erwiesen, dass Weber keine hinreichend ausgearbeitete Werttheorie gehabt habe. Es verbleibt eine Interpretationsaufgabe.

Es bleibt also das Interpretationsproblem zu lösen, innerhalb welcher Werttheorie Max Webers Begriffe „Wert“ („Wertbeziehung“) und „Werturteil“ gebraucht. Es kann sich hinterher herausstellen, dass diese Werttheorie an heutigen Maßstäben gemessen ungenügend ist und am besten durch eine Alternative ersetzt werden sollte. Um jene zu kritisieren, muss man sie aber erst einmal kennen. Und es könnte sein, dass nach Kenntnis dieser Werttheorie manche Ausführungen Max Webers verständlicher und sinnvoller erscheinen, als sie es ohne dieselbe erscheinen mögen. Es kann jedoch auch der Fall sein, dass wesentliche Einsichten Max Webers von seinem metatheoretischen Standpunkt unberührt bleiben bzw. auch von einem anderen Standpunkt aus mit derselben oder ähnlichen Interpretation und argumentativen Kraft verwendet werden könnten.
„Um zunächst die Frage nach dem Status dieser Theorie beantworten zu können, empfiehlt es sich in meinen Augen, Webers Position deutlicher, als dies gemeinhin geschieht, in den Zusammenhang einer Geltungslehre zu stellen, wie sie vor allem im südwestdeutschen Neukantianismus, vornehmlich von Heinrich Rickert und Emil Lask, ausgearbeitet worden ist.“ (SCHLUCHTER 1979:26)

„Obgleich Weber in seinen Stellungnahmen zu einer Logik und Methodologie der Kulturwissenschaft als historischer Sozialwissenschaft immer wieder betont, seine Ausführungen implizierten keine bestimmte Entscheidung in erkenntnistheoretischen, geschichts- und wertphilosophischen Fragen, hat er eine Selbsteinordnung vorgenommen, die solche Indifferenz in meinen Augen ausschließt: Weber skizziert durchaus eine wenigstens dem Typus nach faßbare Geltungslehre mit einer besonderen Begriffs- und Werttheorie. Begriffstheoretisch gesehen folgt Weber zunächst der kritizistischen Wendung Kants gegen einen dogmatischen Rationalismus, für den Begriffe letztlich vorstellungsmäßige Abbildungen einer 'objektiven' Wirklichkeit sind. Aber er kämpft auch mit aller Entschiedenheit gegen eine emanatistische Umdeutung des Kritizismus, derzufolge Begriffe die 'eigentliche' Wirklichkeit, ihr Wesen, repräsentieren, so daß Wirklichkeiten Verwirklichungsfälle von Begriffen sind. Wiewohl er, im Sinne von Emil Lask, durchaus Kants 'einseitigen Formalismus des Wertens' kritisiert haben könnte und, wie dieser, auf eine Theorie der Wertindividualitäten aus war, hat er an einer analytischen Begriffstheorie auch noch gegen einen Emanatismus der Wertindividualitäten festgehalten.(3) Für Weber gibt es keine Überwindung des hiatus irrationalis zwischen Begriff und Begriffenem, sondern nur die gültige denkende Ordnung des Wirklichen als Resultat seiner Umbildung im Begriff. Begriffstheoretisch gesehen folgt Weber aber auch der neukantianischen Wendung gegen Kant, derzufolge ein abstraktes Wertschema nicht ausreicht, um das, was uns an der Wirklichkeit interessiert, zu erfassen. Wirklichkeit muß vielmehr auf konkrete Wertschemata, auf Wertbegriffe bezogen werden: Sie kann und soll umgebildet werden nicht nur als Natur, sondern auch als Geschichte bzw. Kultur.“ (SCHLUCHTER 1979:24f)


(6) Nach Lösung der Interpretationsaufgabe bzw. Rekonstruktion kann ein vollständiger Theorievergleich vorgenommen werden.

An diesem Fall wird wieder einmal exemplarisch deutlich, dass ein Theorievergleich 1. beide Seiten darstellen und vergleichen muss, 2. die beiden Alternativen metatheoretischen Positionen dabei nicht aus den Augen verlieren darf, wenn der Theorievergleich vollständig sein soll.

== Literaturverzeichnis ==

Hans Albert, Ernst Topitsch, (Hg.): Werturteilsstreit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1971. ISBN 3-534-04161-5.
Hans Albert, Ernst Topitsch: Einleitung. In: Hans Albert, Ernst Topitsch, (Hg.): Werturteilsstreit. Wissenschaftl. Buchgesellschaft Darmstadt 1971. ISBN 3-534-04161-5. S. IX-XI
Hans Albert: THEORIE UND PRAXIS. Max Weber und das Problem der Wertfreiheit und der Rationalität. In: Hans Albert, Ernst Topitsch, (Hg.): Werturteilsstreit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1971. ISBN 3-534-04161-5. S. 200-236 (Aus: Die Philosophie und die Wissenschaften. Simon Moser zum 65. Geburtstag. Anton Hain : Meisenheim 1966. S. 246-272)
Viktor Kraft: Wertbegriffe und Werturteile. (Aus: Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre. Springer 2. Aufl. Wien 1951). In: Hans Albert, Ernst Topitsch, (Hg.): Werturteilsstreit. Wissenschaftl. Buchgesellschaft Darmstadt 1971. ISBN 3-534-04161-5. S. 44-63
Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. 1903-1906, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, UTB 1492, Tübingen 1988
Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) : Tübingen 1979. ISBN 3-16-541532-3

Mittwoch, 17. Juni 2009

Dogmatismus

„Der Dogmatismus einer Lehre kann darin bestehen, (‘ungeschütztes Dogma’) dass Sätze ohne hinreichende Begründung und als wahr behauptet werden. (...) Aber es gibt auch eine Form des Dogmatismus (‘geschütztes Dogma’), deren dogmatischer Charakter viel stärker ausgeprägt ist: Dogmen können durch Dogmen in einer Weise gesichert werden, dass sie unter allen Umständen unberührbar bleiben müssen.“ (Popper 1994:295f)

Wie man aber sogleich bemerkt: Für Popper indes stellt es keinerlei Mühe dar, ein "unkritisierbares" System zu kritisieren. Wenn das nicht Dialektik ist! Sein eigentliches Verdikt jedoch, hier an die Adresse von Hegel gerichtet, lautet: „Immunisierung“.

Zuerst einmal müssen wir uns aber hier mit dem Begriff „Dogmatisierung“ befassen. Denn auch die Behauptung, dass eine These „dogmatisch“ sei, kommt nicht selten sehr dogmatisch daher.

Dogmatismus ist vielleicht übel, aber mitnichten eine erkenntnistheoretische Kategorie. Auch wenn sie Kant an prominenter Stelle oft in seiner Erkenntnistheorie verwendet, um eine Darstellungsweise oder um die Philosophie vor der „kritischen“ Erneuerung durch ihn zu kennzeichnen. SPINNER (1977) stellt Fallibilismus in Gegensatz zu Certismus (Rechtfertigungsstrategie, Letztbegründung).

Eine Theorie ist nicht an sich dogmatisch oder kritisch. Dogmatisch oder kritisch ist sie durch und für uns. Das heißt: Es geht uns nicht um eine besondere Eigenschaft von Aussagen oder Aussagensystemen wie Theorien, sondern um die pragmatische Dimension derselben: es geht um die Verhaltensweisen der Theoriebenutzer. Dogmatisch sind nicht die Theorien, sondern ist, wie man mit diesen umgeht. Wie man am eingangs zitierten Beispiel sieht: Selbst ein so widerspenstiges Aussagensystem wie Hegels Dialektik kann einem Popper nicht widerstehen; es sind ja letztlich nur Buchstaben in einem Buch. Widerstehen kann einem Popper nur ein Hegel-Gläubiger, der alles, was ihm nicht in den Kram oder ins Weltbild passt, als sinnlosen Quatsch erklärt (bzw. als wissenschaftlich oder philosophisch uninteressant).

Und es geht hier für uns in der Hauptsache auch nicht um Dogmatismus im Sinne einer Persönlichkeitseigenschaft, sondern um eine Kommunikationsbeziehung, ggf. zwischen Wissenschaftlern, die man in diesem Falle wohl als „gestört“ bezeichnen darf, weil sie bestimmte Behauptungen gegen wechselseitige Kritik abschirmt. Diese Kommunikationsstörung wird durch sozialen Konflikt, der verbunden ist mit Eskalation durch selbsterfüllende Prophezeiung, zu einem Schulenstreit bis hin zum Abbruch jedweder Kommunikation verstärkt.

„Nicht das Credo oder das Parteiprogramm, sondern die Praxis im Umgang mit Ketzern und Opponenten zeigt den Grad von Dogmatismus und Toleranz, zeigt, inwieweit ein Bekenntnis zur Kritik ernst zu nehmen ist.“ (Spinner 1967:184)

Wenn Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden ist, so muss das Bekenntnis zur Kritik immer mit dem Appell zur Toleranz gegenüber Kritikern einhergehen. „Ideologie“ und „Dogmatismus“ werden nun aber von den Kritischen Rationalisten selbst oft in „essentialistischer“ Manier zugeschrieben, d.h. gebraucht, als ob es eine fraglos feststehende Bedeutung dieser Begriffe und ein entsprechend fest umrissenes reales Objekt gäbe. Und es gibt immer noch genug Leute, die sich von dieser in der Regel nicht näher erläuterten Verbalinvektive beeindrucken lassen.
Dahinter steckt oft ein recht romantisches Bild von „Dogmatismus“: Er sei aus emotionalen oder kognitiven Beschränkungen heraus Argumenten nicht zugänglich. Der moderne Dogmatiker verfügt hingegen immer über gute Gründe. Die Voraussetzungen dieser „guten Gründe“ gelangen aber selten zur Einsicht, sondern verbleiben nicht zur Diskussion gestellt. Wenn der Dogmatiker stets als Eiferer hingestellt wird, der unbelehrbar sei, so muss zudem beachtet werden, dass erfolgreiche Belehrungen immer auch gewisse Mindestanforderungen an kommunikative Bedingungen (z.B. den pädagogischen Eros des Lehrkörpers!) stellen. Politische wie ideologische Spannungen korrelieren mit dem Ausmaß an Kommunikationen zwischen den beteiligten Parteien.

Dogmatismus stellt kein aussagenlogisches Problem dar, sondern ist ein Verstoß gegen Diskursregeln. „Dogmatismus“ lässt sich demzufolge nicht logisch oder sprachanalytisch dingfest machen an bestimmten Typen oder Inhalten von Aussagen, sondern nur an der Verwendungsweise von Aussagen. Ihre Verwendung hängt aber nicht nur von ihrem Autor ab, sondern auch von den jeweiligen Adressaten, bzw. der Zielgruppe, also überhaupt von der normativen Regelung der gesamten Kommunikationssituation innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses.

„Dogmatismus“ betrifft demnach vor allem die Frage, wie man mit wissenschaftlichen Aussagen umgeht. Es kann also hierbei nicht um die Demarkation von Wissenschaft und Pseudo-Wissenschaft gehen, d.h. nämlich: Ausgrenzung von Theorien, sondern um die Institutionalisierung einer Methodologie kritischer Diskussion, nämlich von Fallibilismus und Theorienpluralismus. Wenn Immunisierung eine Strategie darstellen soll, die den Erfolg garantiert, dann liegt es an uns, ob wir uns an diesem Spiel dessen ungeachtet beteiligen oder die Regeln hin zur kritischen Offenheit abändern wollen.

Was „Demarkation“ im Bereich der Methodologie, ist „Exklusion in sozialer Hinsicht: eine Ausgrenzung, die dem offiziellen Akademiker-Selbstverständnis zutiefst zuwider sein soll, nichtsdestoweniger aber eine oft und gern praktizierte Strategie darstellt.

„... items of scholarship are often used shamelessly as a mere means of intimidation for the sake of keeping the academy a closed guild.” (Agassi 1993:16)

Über Konformität zu Normen (hier: methodologische Normen) werden Mitgliedschaftsrollen sowie über die Zugehörigkeit zu einer Paradigma-Gemeinschaft das soziale System Wissenschaft definiert. Für Ransom erfolgt die evolutionstheoretische Selektion des dominierenden Paradigma durch den Mechanismus der membership selection ), wobei subjektive und objektive Attraktivität eines Paradigma so¬wie unterschiedliche individuelle methodologische Präferenzen den Ausschlag geben. Dies ist natürlich eine Perspektive, die politische und ökonomische constraints noch weitgehend außen vor lässt und das System Wissenschaft als ein sich autonom entwickelndes Gebilde behandelt.
„Dogmatisierung“ kennzeichnen Abschirmungs- und Immunisierungsstrategien mit der sprachpragmatischen Funktion der Durchsetzung eigener Wahrheitsansprüche. Wer dies bedenkt, muss erkennen, dass jede Abgrenzung von Wissenschaft selbst dem Ideologieverdacht, nämlich einem impliziten Dogmatismus gegenüber den ausgegrenzten Positionen preisgegeben ist.

“... what determines a universe of discourse? Who decides what is a good question? How?” (Agassi 1975:8)

Was eine gute Frage ist, kann sich nur erweisen relativ zur jeweils historisch gegebenen Problemsituation einer Wissenschaftsdisziplin. Es gibt offensichtlich Veränderungen, die von strategischer Bedeutung sind. Kurz gesagt: Auch Problemstellungen können (in einem relativen Sinne) und sollten evaluiert werden. Solche Evaluationen müssen selbstverständlich ebenfalls durch kritische Vergleiche kontrolliert werden. Denn es ist leicht, die eigene Lieblingstheorie zu bevorzugen, indem man einfach die zu ihr passende Problemstellung favorisiert.

Nur zu oft jedoch präsentieren Vertreter des Kritischen Rationalismus unbesehen ihre eigentümlichen Vorstellungen von Pluralismus als alleinseligmachend und grenzen Opponenten per bloßes Etikettieren aus dem Diskurs aus. So wie zum Beispiel Popper in Bezug auf Hegel: Ein Popperianer wird aus Poppers Vorbild leicht ableiten, dass man Hegel nicht zu studieren brauche, um ihn zu widerlegen. Auf derlei Weise lässt sich dann freilich der Verdacht der Betroffenen, dass die vorgeblichen Vertreter eines Theorienpluralismus unter der Flagge desselben nur einem exklusiven „Monopolpluralismus“ (Brentano 1971) frönen, kaum entkräften.

Popper spricht in diesem Zusammenhang gerne von einer „kritischen Tradition“. Dies impliziert zumindest, dass nicht eine jede Tradition „kritisch“ genannt werden kann. Doch was heißt „kritisch“? Marx gab seinem Hauptwerk ebenfalls den Namen einer „Kritik“. Gemäß der vorgebrachten Popperizistenkritik an Marx sollte man annehmen, dass Popper diese Kritik, zumindest nicht in der vorliegenden Form, in die ihm genehme Tradition einzuschließen wünschte. Nach welchen Kriterien will Popper dies aber bestimmen?!

"Mit dem im allgemeinen impliziten, hier explizit gemachten Verdikt gegen Dogmatismus aller Art werden lediglich unkritische, irrationale, unaufgeklärte Ansätze ausgeschlossen, die das certistische Programm der Erkenntnissicherung als Absicherung wirklicher oder vermeintlicher Erkenntnis gegen Kritik verstehen. Von der erkenntnistheoretischen Problemstellung her bleibt also der Weg für rechtfertigungsorientierte Formen des Kritizismus grundsätzlich ebenso offen wie für rechtfertigungsfreie Ansätze, für das Aristotelische, Kantsche, Hegelsche oder Hilbertsche Begründungsprogramm wie für Popperschen Fallibilismus und Dinglerschen Certismus. Deshalb - sowie aus anderen Gründen, die noch zur Sprache kommen werden; kurz gesagt: weil "Dogmatismus" meiner Ansicht nach ein Übel, aber keine philosophische Kategorie ist, durch die irgendeine bestimmte, im hier angesprochenen Problemkontext relevante Position adäquat charakterisiert werden könnte - wird die Hauptalternative, um die es in diesem Buch geht, nicht Kritizismus-versus-Dogmatismus, sondern Fallibilismus-versus-Certismus heißen. Dabei ist die Möglchkeit rechtfertigungsorientierter Kritik ebenso ins Auge zu fassen wie die Möglichkeit fallibilistischer Dogmatik, zum Beispiel in Gestalt von hypothetischen Begründungsansätzen, die nicht um jeden Preis durchgehalten und im (als Möglichkeit einkalkulierten) Scheitern zur Kritik der sich als unbegründbar erweisenden Position werden, einerseits, und von certistischen Widerlegungsansätzen, dei um jeden Preis durchgehalten werden, dabei die Möglichkeit der Widerlegung von Widerlegungen aus dem Auge verlieren und so die Idee der Kritik dogmatisieren, andererseits." (SPINNER 1977:5)

Fallibilismus ist aber eine Methode, die erst hinterher, d.h. nach erfolgter Prüfung festzustellen vermag, ob etwas als „bewährt“ vorläufig akzeptiert werden soll. Eine Demarkation von Wissenschaft, die auf eine a priori-Unterscheidung von Wissen und Pseudowissen hinausliefe, auf gut Deutsch: auf ein Vor-Urteil, d.h. Urteil, bevor man die Sache kennt; Kritik, bevor man weiß, was man kritisiert, ist grundsätzlich mit Fallibilismus unvereinbar. Ignoratio non est argumentum. (Spinoza)

== Literaturverzeichnis ==

Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen 7. Aufl. 1992 (zuerst: 1944)
Helmut F. Spinner: Wo warst du, Platon? Ein kleiner Protest gegen eine 'große Philosophie'. Soziale Welt, 18, 1967, S. 144ff
Joseph Agassi: Science in Flux, Dordrecht Boston 1975
Joseph Agassi: A Philosopher's Apprentice. In Karl Popper's Workshop, Amsterdam Atlanta, GA 1993
Margherita v. Brentano: Wissenschaftspluralismus - Zur Funktion, Genese und Kritik eines Kampfbegriffs, Das Argument,13, 6/7, 1971, S. 476-493
Helmut F. Spinner: Begründung, Kritik und Rationalität. Bd. I. Vieweg Braunschweig 1977. ISBN 3-528-08376-X

Was beweist Poppers Einsatz der Logik?

Die nicht beabsichtigten Folgen des Handelns zu studieren ist für die Sozialwissenschaften wichtig. Aus den egoistischen Handlungen des kapitalistischen Subjekts entstehen so ganz nebenbei und ohne jede Absicht positive Nebenwirkungen für das Allgemeinwohl; so Adam Smith (aber nicht nur positive). Und die Planer des Gemeinwohls oder entsprechender staatlicher Interventionen produzieren oft ganz anderes, als geplant war. Umso so schlimmer für die staatlichen Retter des Kapitalismus, denn sie befinden sich somit auf einer "mission impossible".

Poppers Plan aber war, Hegel zu erledigen. Die Art und Weise, wie er dabei vorgegangen ist, hat jedoch völlig unbeabsichtigt den schlimmsten Verdacht geweckt im Hinblick auf die Methode und das Wesen seiner Philosophie.(1) Wie Popper weiß, steht am Beginn eines jeden Widerlegungsversuchs die Rekonstruktion der Problemstellung und der Lösungsversuche des betreffenden Lösungsversuchs; peinlichst mit geeignet ausgewählten Textstellen belegt. Wenn jedoch der Text nicht verständlich erscheinen sollte, so muss man sich des objektiven Urteils darüber enthalten.

Wenn es jedoch in erster Linie darauf ankommt, einen Autor zu erledigen, ist solch mühseliges Beginnen keineswegs erforderlich, sondern eher kontraproduktiv. Man unterstellt ihm den größten Blödsinn, wofür man sich die Widerlegung dann fast ersparen kann. Und die meisten Leute, die sich dadurch ebenfalls dieser unsäglichen Mühe enthoben glauben, bedienen sich dann der popperschen Werke dankbar als Alibi-Zitate. Man zeigt, dass man 1. auf der Höhe der Wissenschaft (beglaubigt durch Popper) ist und 2. man glaubt sich der Mühe, der sich ja angeblich schon Popper unterzogen hat, völlig durch das Zitieren enthoben. Dass der Kritische Rationalismus (mit Ausnahme vielleicht von Helmut Spinner) auf dieses Thema nie wieder zurückgekommen ist oder etwa ausgebaut hat, spricht für sich. Das Thema (oder das Maximum an Kritik) ist für den Kritischen Rationalismus damit erschöpft.

Erst durch diese Interpretationsthese ist auch einzuordnen, dass obwohl Popper 1. seine Bestseller selber als unwissenschaftlich deklariert hat, sie 2. immer wieder als wissenschaftliche Belegstelle herangezogen werden. Popper hat sie in Folge auch in vielen Einzelpunkten bis zur Manie wissenschaftlich vertieft bzw. ausgeschmückt. Das spricht aber 1. für einen gewissen Nachholbedarf an wissenschaftlichem Niveau, 2. erweckt den Verdacht, dass in Einzelpunkten eine degenerative Problemverschiebung stattfindet, d.h. dass Popper ad hoc in Einzelpunkten seine Thesen differenziert oder zurücknimmt, seinen zuvor verkündeten Gesamtstandpunkt in diesen Dingen jedoch unrevidiert einfach so stehen lässt (man erinnere sich an die Exoterik und Esoterik bei Platon und Hegel!).

Die Strategie Poppers ist zu erklären aus der Zielsetzung seines Handelns: in Politik und Philosophie eine Hegemonialstellung zu erringen. Daraus erklärt sich, dass er so sensibel auf Hegels kurze Jahre als „preußischer Staatsphilosoph“ blickt. Popper schaffte es sogar zum „Sir“-Titel. Was soll da erst Ludwig Feuerbach dazu sagen, der in Bayern auf dem Dorf versauern musste, gleichsam im „inneren Exil“ in Bayern, nachdem er das bayrische Stipendium in Berlin an Hegel verschwendet hatte und nach Rückkehr nur noch gottlose Dinge von sich gab, er, der doch zu einem glühenden Theologiestudium bestimmt war… Und das sind noch die Österreicher und die Preußen. Popper war ein Wiener Würstchen. Hegel ein Schwabe, wie Berliner Studenten mit Grausen feststellen mussten. Doch seine Vorfahren waren Protestanten, die aus Glaubensgründen aus dem fein katholischen Kärnten ausgewandert waren. So stammte also, gegen jede Absicht, die bürokratische Entwicklungshilfe für Preußen aus Österreich – wie ja die Feuerbachs in Bayern „Reingeplackte“ waren.

Poppers Diskussion der Gesetze der historischen Entwicklung krankt nach ADDIS (1975:106) an zweierlei Dingen: (a) Er macht nicht klar, ob es solche Gesetze nicht gibt, oder ob wir diese nicht wissen können. (b) Er ist besessen von seinem Anliegen, zu „enthüllen“, was die wahre Aufgabe der Sozialwissenschaft sei.

Schlussendlich produziert POPPER (1987:XI) in seinem Vorwort zur englischen Ausgabe dasjenige, was er einen“ logischen Beweis“ aus „streng logischen Gründen“ nennt.

ADDIS (1975:107f) konstatiert recht verblüfft, dass überhaupt nicht zu erkennbar sei, was an diesem Beweis „logisch“ sei, da der Ausgangspunkt dieses Beweis ganz klar eine empirische Behauptung sei:
(1) „Der Ablauf der menschlichen Geschichte wird durch das Anwachsen des menschlichen Wissens stark beeinflußt.“

Anderswo tritt Popper als Fallibilist auf. Hier jedoch tritt er mit logischen Beweisen an, weil er auf der Suche nach Gewissheit ist, und wenn diese Gewissheit auch bloß negativ in einer „definitiven Widerlegung“ bestehen soll.

„Die Suche nach Gewißheit ist eine der gefährlichsten Irrtumsquellen, weil sie mit der Behauptung einer höheren Art von Erkenntnis verbunden ist. Die Gewißheit des logischen Beweises wird als die ideale Erkenntnis angesehen und die Forderung aufgestellt, daß alle Erkenntnis Methoden benutzen soll, die ebenso zuverlässig sind wie die Logik. Um zu sehen, wohin eine solche Auffassung führt, wollen wir uns das Wesen des logischen Beweises einmal näher ansehen.
Der logische Beweis wird mit Hilfe der Deduktion geführt. Man zieht einen Schluß, indem man die Schlußfolgerung aus anderen Aussagen, den Prämissen des Argumentes, ableitet. Das Argument ist so aufgebaut, daß, wenn die Prämissen wahr sind, die Schlußfolgerung auch wahr sein muß. (…)
Das Beispiel zeigt, daß Deduktion leer ist: die Schlußfolgerung kann nicht mehr aussagen, als schon in den Prämissen gesagt ist; sie drückt nur gewisse Folgen aus, die schon unausgesprochen in den Prämissen enthalten sind. Der Schluß packt sozusagen aus, was in den Prämissen noch eingepackt war.“ (REICHENBACH 1968:49)

Poppers Beweis "beweist" nur das, was er vorausgesetzt hat: eine empirische Aussage, die sich mangels präziser Ausdrucksweise empirisch kaum falsifizieren lässt.

Man muss aber hier grundsätzlich trennen zwischen dem, wass Popper tut, und dem, was er sagt, was er tut.
Er tut nichts anderes, als was Ricardo und Marx getan haben: aus empirischen Sätzen zu deduzieren.
Er sagt jedoch, dass er damit einen "logischen Beweis" abliefere.
Damit bewegt er sich immer noch auf der gleichen Schiene wie Platon, Kant und Hegel oder wie die Idealisten, Mathematik- und Logikfans und Sucher nach der absoluten Gewissheit alle heißen.
"Entgegen der traditionellen Erkenntnislehre, die es bis zu Kant, Hilbert und Dingler bei der Lösung des Erkenntnisproblems mit Möglichkeits- und Unmöglichkeitsbeweisen versucht hat - Kant zum Beispiel im Rahmen seines Programms der transzendentalen Deduktion der Kategorien mit seinen beiden zentralen 'Beweisen' von der Möglichkeit einer systematischen Erfahrungserkenntnis einerseits und von der Unmöglichkeit einer Erkenntnis jenseits der Grenzen möglicher Erfahrungserkenntnis andererseits -, scheint es ein allgemeines Charakteristikum grundlegender erkenntnistheoretischer Probleme zu sein, daß sie nicht durch (Wahrheits-, Notwendigkeits-, Möglichkeits- oder Unmöglichkeits)Beweise gelöst werden können, sondern erstens durch normative Grundsatz-Entscheidungen über Erkenntniskonzeptionen; verbunden mit dem hypothetischen Nachweis, zweitens, daß diese Beschlüsse hinsichtlich der damit akzeptierten Erkenntnisprogramme überhaupt realisierbar sowie für die Erreichung des postulierten Erkenntnisziels fruchtbar sind; und drittens, daß die dadurch erreichbaren Ziele unter Berücksichtigung der 'Kosten', also der in Kauf zun nehmenden Mittel und Nebenfolgen, auch erstrebenswert sind. Bei dieser programmatischen Entscheidungsproblematik (die als allgemeines Entscheidungsproblem den vielen speziellen Entscheidungsproblemen in der Wissenschaft vor- und übergelagert ist) geht es primär um die normative, beim Realisierbarkeits- und Fruchtbarkeitsproblem um die 'technologische', bei der 'Ertragskalkulation' neben gleichfalls 'technologischen' Erwägungen im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Kosten-Nutzen-Analyse insbesondere auch um den moralischen, im engeren Sinne ethischen Aspekt der Erkenntnisproblematik." (SPINNER 1977:7)


(1) Angriff ist die beste Verteidigung (?!):
"Soweit eine ideologische Aussagesteuerung der von Geiger ins Auge gefaßten Art fatale Konsequenzen für den Erkenntnisprozeß haben kann, läßt sich das nur dadurch kompensieren, daß man die betreffenden Aussagen und Systeme so formuliert, daß sie dem Risiko des Scheiterns an den Tatsachen ausgesetzt sind, und sie strengen Prüfungsversuchen unterwirft, oder daß man sie auf andere Weise der kritischen Diskussion zugänglich macht." (ALBERT 1971:226)

"Darauf hat vor allem Karl Popper immer wieder hingewiesen, vgl. dazu seine oben erwähnten Arbeiten sowie seine Kritik der Wissenssoziologie in: The Open Society and its Enemies (1944), Princeton 1950, Kap. 23. In Deutschland pflegt man unter dem Einfluß einer systematisch sterilen hermeneutischen Philosophie dieses Buch vor allem danach zu beurteilen, ob darin Hegel richtig verstanden wurde, eine Tatsache, die auf die Befürworter solcher Standards ein bezeichnendes Licht wirft." (ALBERT 1971:226, Anm. 24)

Gewiss sollte man nicht Poppers philosophisches Programm nach seinem Hegelverständnis beurteilen. Die Beurteilung seiner Hegel-Kritik darf man aber schon davon abhängig machen!

==Literaturverzeichnis==

Laird Addis: The logic of society: a philosophical study. Minnesota Press, 1975. ISBN 0816607338, 9780816607334
Helmut F. Spinner: Begründung, Kritik und Rationalität. Bd. I. Vieweg Braunschweig 1977. ISBN 3-528-08376-X
Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus. Tübingen 6. Aufl. 1987 (zuerst: 1957)
Hans Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. Friedrich Vieweg & Sohn Braunschweig 1968.
Hans Albert: THEORIE UND PRAXIS. Max Weber und das Problem der Wertfreiheit und der Rationalität. In: Hans Albert, Ernst Topitsch, (Hg.): Werturteilsstreit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1971. ISBN 3-534-04161-5. S. 200-236 (Aus: Die Philosophie und die Wissenschaften. Simon Moser zum 65. Geburtstag. Anton Hain : Meisenheim 1966. S. 246-272)

Samstag, 13. Juni 2009

Sozialforschung: Technik, Ideologie, bürokratische Herrschaft

Mittels der von Paul Lazarsfeld initiierten administrative research kommt Soziologie zu ihrem „bürokratischen Ethos“, so MILLS (1959:100ff.) Denn empirische Sozialforschung in großem Maßstab bedarf einer bürokratischen Organisation. Und damit gliedert sich Soziologie ein in die sie umgebende bürokratische Gesellschaft, wird Fleisch von ihrem Fleisch.

(1) “In an attempt to standardize and rationalize each phase of social inquiry, the intellectual operations themselves of the abstracted empirical style are becoming ‚bureaucratic’.
(2) These operations are such as to make studies of man usually collective and systematized; in the kind of research institutions, agencies, and bureaus in which abstracted empiricism is properly installed, there is a development, for efficiency’s sake if for no other, of routines as rationalized as those of any corporation’s accounting department.
(3) These two developments, in turn, have much to do with the selection and the shaping of new qualities of mind among the personnel of the school, qualities both intellectual and political.
(4) As it is practiced in business – especially in the communication adjuncts of advertising – in the armed forces, and increasingly in universities as well, ‘the new social science’ has come to serve whatever ends its bureaucratic clients may have in view. Those who promote and practice this style of research readily assume the political perspective of their bureaucratic clients and chieftains. To assume the perspective is often in due course to accept it.
(5) In so far as such research efforts are effective in their declared practical aims, they serve to increase the efficiency and the reputation – and to that extent, the prevalence – of bureaucratic forms of domination in modern society. But whether or not effective in these explicit aims (the question is open), they do serve to spread the ethos of bureaucracy into other spheres of cultural, moral, and intellectual life.”

Ein Soziologe ist demnach ein Experte, der im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung feststellt, was die schweigende Mehrheit denkt.

Die Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Politik enthält diese Doppelfrage (SPINNER 1978:74):
1. die Verwissenschaftlichung der Politik (wissenschaftliche Politikberatung),
2. die Politisierung der Wissenschaft.

SPINNER (1978:77) sieht schließlich eine Tendenz zur Verwissenschaftstheoretisierung der Politik am Werke, die die normativen Bedingungen von Wissenschaftsmethodologie zum Vorbild nimmt, um darauf gründend ein Gesellschaftsmodell zu propagieren.

Eng verbunden mit diesen Fragen ist das Problem der Wertfreiheit, was nicht immer gesehen wird, wenn diese Frage rein methodologisch aufgezäumt wird.

"Für die Ausbildung einer autonomen Wissenschaft, die sich auf bestimmte Problemstellungen spezialisiert und methodologischen Erkenntnisstrategien folgt, ergeben sich folgende Probleme:
1. Homogenisierung der Wertvorstellungen und der Kriterien ihrer Interpretation, die für die Außen- und Binnenlegitimierung dieser Wissenschaft in Anspruch genommen werden;
2. Verminderung des wahrgenommenen Leistungsdefizits zwischen den Erwartungen und den Ergebnissen;
3. Abweisung solcher Sinngebungsbedürfnisse, die von der Wissenschaft nach Problemstellung und Methodenwahl nicht erfüllt werden können, und Überweisung ihrer Befriedigung an andere soziale Institutionen.

Max Webers Postulat der Werturteilsfreiheit der Wissenschaft hat nur dann eine Chance, wenn diese Probleme eine hinreichende Lösung gefunden haben." (LEPSIUS 1990: 289)

"Der für die Soziologie in weltanschaulich heterogenen Gesellschaften charakteristische permanente Methodenstreit ist dann Ausdruck eines Kampfes um Durchsetzung oder Anerkennung von Wertpräferenzen, die keine direkte Bedeutung für die einzelne Forschungsaufgabe haben können." (LEPSIUS 1990: 294)

Dazu ein paar Stilblüten aus der Forschungspraxis:

BERTRAM (1976) bemängelt, dass die meisten empirischen Untersuchungen zur schichtspezifischen Sozialisation die Ebene der sozialen Schichtung und die psychische und Verhaltensebene getrennt erfassen und erst nachträglich miteinander verbunden haben (anstelle der methodologisch gebotenen Mehrebenenanalyse) (vgl. zur Sozialisationsforschung OEVERMANN 1979).
ESSER (1989) hält aufgrund der Individualisierung die Suche nach sozialstrukturellen Gesetzmäßigkeiten überhaupt für obsolet und lediglich eine Erklärungsmöglichkeit über Gesetze individuellen Verhaltens für machbar.

MÜLLER/KLEIN (2008) weisen dem EU-Sozialbericht nach, dass dieser nur durch Zusammenwerfen von Bildungsabschlüssen zu dem Ergebnis kommt, dass Deutschland europaweit die höchste Chancengleichheit im Bildungssystem aufweise. Es wurden für den Bericht lediglich drei Abstufungen verwendet: niedre, mittlere und höhere Bildung, so dass sich Metzgermeister und Chefarzt in derselben Kategorie wiederfanden, was das unzutreffende Bild ergibt.

== Literaturverzeichnis ==
C. Wright Mills: The Sociological Imagination. Oxford University Press : New York 1959.
Helmut F. Spinner: Popper und die Politik. Rekonstruktion und Kritik der Sozial-, Polit- und Geschichtsphilosophie des kritischen Rationalismus. I. Geschlossenheitsprobleme. Bonn 1978
M. Rainer Lepsius: Gesellschaftsanalyse und Sinngebungszwang. In: Ders.: Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen 1990.
Hans Bertram: Probleme der sozialstrukturell orientierten Sozialisationsforschung. Zeitschrift für Soziologie, 5, 1976, S. 103-117
Hartmut Esser: Verfällt die soziologische Methode?, Soziale Welt, 40, 1989, S. 57-75
Ulrich Oevermann: Sozialisationstheorie. Ansätze zu einer soziologischen Sozialisationstheorie und ihre Konsequenzen für die allgemeine soziologische Analyse. In: Günther Lüschen, (Hg.): Deutsche Soziologie seit 1945. Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug. Westdeutscher Verlag Opladen 1979. ISBN 3-531-11479-4. S. 143-168
Walter Müller, Markus Klein: Schein oder Sein: Bildungsdisparitäten in der europäischen Statistik. Eine Illustration am Beispiel Deutschlands. Schmollers Jahrbuch, Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 2008:128, Heft 4, S. 511-543

Freitag, 12. Juni 2009

Das Elend des Popperizismus

Eberhard Dörings Buch zum Popperbuch (1) lässt sich als recht ergiebige Belegquelle ausbeuten für Popperizismus. Denn an dieser „allgemeinverständlichen Einführung“ in Poppers Sozialphilosophie wird sichtbar, in welcher Weise letztere beim BRD-Publikum angekommen ist. Hierbei lässt sich leicht des Näheren überprüfen, inwieweit Missverständnisse qua Vulgarisierung oder Verballhornung dem mitgeschleppten Vorverständnis der Rezensenten und Leser einerseits, oder der von Popper als dem Autor angewandten „Schattenmethodologie“ andererseits zuzuschreiben sind.

Der Popperizismus erwächst aus dem dialektischen Spannungsverhältnis von „wahrem“ Popper und dem Popper, wie er sich seinen deutschen Lesern aufgrund deren ideologischen Vorverständnisses appliziert. So ist der Kommentator Doring gerade dort am meisten entlarvend, wo er Popper lobt oder wenigstens für seine Grobheiten und Unwissenschaftlichkeit entschuldigen möchte, da Popper ja für liberale Deomkratie „glüht“. Stellt sich denn in Dörings Besprechung häufig heraus, dass Popper weder „kritisch“ noch „rational“, so gilt doch wenn nicht er als Prototyp des „kritischen Rationalisten“ und ist seine Philosophiegeschichte zumindest darin originell, dass es zuvor noch niemand gewagt hatte, derlei Platitüden als Universitätslehrer weltweit zu publizieren. Man fragt sich, welcher Leser nach derlei vordergründig serviler Kritik 2) noch der Aufforderung des Kommentators Folge zu leisten motiviert ist, Poppers Wälzer auch noch selber durchzustudieren. (3)

In seiner Vorbemerkung behauptet Döring:
„Es ist gar keine Frage, daß die ‚Offene Gesellschaft‘ Poppers bereits zu Lebzeiten des modernen Erkenntnistheoretikers ein Klassiker der Philosophie, der Soziologie und der Politologie war.“ (4)
Man darf aber so ziemlich alle Behauptungen und Unterstellungen in diesem Satz mit guten Gründen anzweifeln. Es ist sicherlich die Frage, was als ein „Klassiker“ firmieren darf (und wer das feststellen kann). Dann die nächsten Fragen, inwiefern Popper ein „Erkenntnistheoretiker“ und was dieser sog. „klassische Text“ mit den genannten sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu schaffen habe. Immerhin werden diese Disziplinen heutzutage allesamt mehr oder minder als empirische Wissenschaften aufgefasst. Nun ist es allerdings notorisch, dass Popper zwar sehr viel über empirische Wissenschaft geschrieben, selbst aber keine nie betrieben hat, sei sie soziologisch oder sei sie politikwissenschaftlich. (5) Es verbleibt von den genannten Disziplinen nur „Philosophie“ als Residualkategorie, aus der kaum etwas vertrieben zu werden pflegt.

Die Widersprüchlichkeiten werden auf die Spitze getrieben, indem Döring selber Poppers Eingeständnis zitiert, dass es sich bei dem genannten Werk um kein wissenschaftliches handelt, sondern um persönliche Anschauungen des Autors. Wie also, so muss man sich fragen, wie also kann es sich hier um einen „Klassiker“ der genannten Wissenschaften handeln? Nicht jeder Bestseller ist schon ein Klassiker.

Es wird jedoch von Döring (6) verschiedentlich und sogleich eingeräumt, dass Poppers Text „einseitig“ sei, „nicht frei von dogmatischen Zügen“, „vieles an subjektiven Geschmacksfragen enthält“, dem historischen Platon nicht gerecht werde und gerade im Hinblick auf Hegel viele Missverständnisse enthalte bzw. besonders dünn ausfalle, obgleich derselbe Hegel Poppers „fehlendes Glied“ zwischen den Alten und dem Marxismus sowie dem Totalitarismus darstellt.(7) Mit anderen Worten: Poppers Darstellungsstil besteht aus einem eigentümlich verlinkten pseudo-dialektischen Schaukelsystem: (8) Er kritisiert Hegel bei den Alten, und die Alten bei Hegel, und Hegel bei Marx, und den Marxismus beim Totalitarismus. Bei Hegel aber diagnostiziert Popper „Gedankenflucht“.

Wie Popper hierbei jedoch gegen grundlegende Regeln des wissenschaftlichen Handwerks verstößt, ist nicht nur äußerst peinlich, sondern disqualifiziert diesen Text auch eindeutig als akademisches „Standardwerk“, will sagen „Vorbild“ oder „Muster“ für wissenschaftliches Arbeiten. Wenn Popper den verheerenden Einfluss von Aristoteles oder Hegel auf den akademischen Arbeitsstil denunziert, so müsste man der Popularität des angeblichen Popper-Klassikers in die Schuhe schieben, dass deutsche Politiker nachweisbar nicht gelernt haben, wissenschaftlich korrekt zu zitieren.

Döring lässt leider völlig unerwähnt die pertinente Kritik, die Walter Kaufmann an Poppers Text geleistet und bereits im Jahre 1954 im Philosophical Review veröffentlicht hatte.(9)
“Hegel is known largely through secondary sources and a few incriminating slogans and generalizations. The resulting myth, however, lacked a comprehensive, documented statement till Karl Popper found a place for it in his widely discussed book, The Open Society and Its Enemies.“ (10)
“The calamity in our case is twofold. First, Popper’s treatment contains more misconceptions about Hegel than any other single essay. Secondly, if one agrees with Popper that ‘intellectual honesty is fundamental for everything we cherish’ (p. 253), one should protest against his methods; for although his hatred of totalitarianism is the inspiration and central motif of his book, his methods are unfortunately similar to those of totalitarian ‘scholars’ – and they are spreading in the free world, too.” (11)
Döring notiert zwar auch Poppers “glühende” Verteidigung seiner politischen Überzeugung, nimmt diese aber eher zum Anlass, seine wissenschaftlichen Fehler entschuldigend in Kauf zu nehmen. Fragen der authentischen Interpretation von Autoren der Philosophiegeschichte werden als von Döring als „Professorengezänk“ heruntergespielt. Mit anderen Worten: Vor einer „glühend“ vertretenen rechten politischen Überzeugung verblassen Fragen wissenschaftlicher Kritik anscheinend demzufolge zur Bedeutungslosigkeit. Eine grundsätzliche Kalamität der Schattenmethodologie Poppers besteht schon darin, dass sie mit doppelten Standards arbeitet, das heißt: die Theorien und Methoden, die sie kritisiert, nicht an denselben Maßstäben misst wie seine eigenen. Die „kritische Rationalität“ besteht demnach nur darin, dass Poppers Position die „kritische“ genannt wird, infolgedessen die kritisierten Positionen notwendig die unkritischen und dogmatischen sein müssen. Der Leser, der Poppers doppelte Standards großzügigerweise akzeptiert, darf sich auf der Seite der kritischen Vernunft fühlen und von diesem Standpunkt aus erhaben wie Popper nach rechts und links Schläge austeilen. Dörings Vulgarisierung macht auch sofort deutlich, wie Poppers wissenschaftstheoretischer Exklusionismus im akademischen Ellbogenmilieu (12) zu handhaben sei:
„Es geht also weder in der Theorie noch in der Praxis nur darum, das falsifizierende Rasiermesser an alle Theorien anzulegen und dadurch die Spreu vom Weizen zu trennen. Es ist vielmehr vorher schon erforderlich, den Theoriestatus von Behauptungen unter dem Aspekt zu untersuchen, ob dieser dem Schema der Rationalität entspricht oder als unwissenschaftliche Vorgehensweise entlarvt werden kann.“ (13)
Das heißt in dürren Worten für den aufstrebenden Wissenschaftspraktiker: Poppers Fallibilismus gilt nicht für alle Behauptungen. Wie bei einer Bewerberauswahl werden einige schon aus dem Stapel aussortiert, bevor sie zum eigentlichen Test zugelassen werden. Wie für die antiken Philosophen Sklaven fast keine Menschen und für die Kapitalisten Hausgesinde zum Privateigentum rechnet, so schließt Popper zum Beispiel den Marxismus oder die Psychoanalyse aus der Wissenschaft aus. Somit hat Popper auch eine eminent artige Entschuldigung dafür, dass er seine Auseinandersetzung mit Hegel und Marx auf eine „unwissenschaftliche“ (14) Manier führt. (Sie verdienen es nicht anders.) Döring sekundiert darin Popper, indem er zwar Popper im Hinblick auf Hegel zurückweist (hier kennt der Kommentator sich aus, jedenfalls besser als Popper), aber bezogen auf Marx völlig folgt (hier kennt sich fast Popper besser aus, was an Dörings Literaturverweise erkennbar wird: viele eigene Bücher des Kommentators, die mit Popper reichlich wenig zu schaffen haben, aber kein einziges, das die Seite des Marxismus vertritt). Marxismus tritt nur auf als das Objekt von Marxologie; und dieser Effekt dürfte das angestrebte Resultat des popperizistischen Exklusionismus sein.(15) Hingegen hatte noch Max Weber sein Wertfreiheitspostulat wissenschaftspolitisch mit dem Argument gerechtfertigt, dass es zumindest auf deutschen Universitäten keinen Theorienpluralismus gäbe. Döring ignoriert William Bartleys Kritik (16) an Poppers „rationalistischem Fideismus“ (17) und dokumentiert damit unfreiwillig, dass der Popperizismus auf halbem Wege zum „Pankritizismus“ stehen bleiben muss, er sonst all seinen Glauben, dogmatische Überzeugungen und Hofffnungen verlöre.

Kaufmann (18) stellt fest, dass Popper grundlegende Sekundärliteratur zu Hegel überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat und Zitate aus Hegel aus Büchern entnommen hat, die nur unvollständige und unzulängliche Belegstellen bieten sowie seine Zitate auch noch nach eigenem Belieben zusammengestückelt hat, um so den gewünschten Eindruck von Hegels Aussagen zu erzielen. Dabei handelt es sich nicht nur um gelegentliche Popper-Ausrutscher, sondern um den Kern der von Popper hierbei angewandten Methode.

Poppers Buch basiert auf dem Ziel, den „Einfluss“ bestimmter philosophischer Ideen auf die Entstehung des Totalitarismus nachzuweisen. Doch was Popper unter „Beeinflussung“ versteht und wie er diese als historischen Prozess nachzuweisen unternimmt, unterliegt größter Kritik. Wie Kaufmann nachzuweisen gelingt, verkennt Popper historisch nachweisbare Einflussbeziehungen zwischen Autoren, und andere werden von ihm schlicht ohne jeglichen historischen Nachweisversuch behauptet. So wird Fries von Popper gegenüber Hegel ausdrücklich in Schutz genommen, obwohl Fries durch eine offen antisemitische Haltung von sich reden gemacht hat. Als am lächerlichsten hält Kaufmann (19) Poppers Behauptung, dass der Nationalsozialismus seine Rassenlehre von Hegel her bezogen habe, da Hegel kein Rassentheoretiker gewesen sei und die Nazis zur die Begründung ihrer Ideologie andersweitige Gewährsleute hatten. Um historische Kausalbeziehungen nachzuweisen, wäre es zweckmäßiger und auch erfolgversprechender gewesen, unter historisch benachbarten Ereignissen zu suchen, anstatt in die antike Ferne zu schweifen.

Kaufmann schließt seinen Popperverriss mit einem Satz, den Popper seinerzeit Toynbee ins Stammbuch geschrieben hatte:
„The reason why, in spite of this, I single out … [this] work in order to charge it with irrationality, is that only when we see the effects of this poison in a work of such merit do we fully appreciate its danger.“ (20)
Gewiss steckt in jedem Irrtum ein Stückchen Wahrheit, und demnach hat auch Popper “ein bisschen” recht. Sogar Missverständnisse könne hilfreich sein auf dem Wege, einen schwierigen Autor wie so mach ein Philosoph, der was zu sagen hat, besser zu verstehen. Doch es gilt auch:
„Wer ist so ungehobelt, dass ihm nicht irgendwann einmal eine treffende Formulierung gelänge?“ (21)

(1) Eberhard Döring: Karl R. Popper: ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘. UTB 1920. Paderborn 1996. ISBN 3-8252-1920-8.
(2) „Es gibt Menschen, die sich scheuen, etwas Eigenes zu schreiben, und da sie unbedingt schreiben wollen, Kommentare zu Werken anderer verfassen; sie machen es wie die, die nichts von Architektur verstehen, zur Aufgabe, Wände zu weißen, und erhoffen sich dadurch Ruhm, den sie nicht durch sich selbst oder mit Hilfe anderer, sondern nur so erlange können, wenn sie vor allen anderen die Autoren derjenigen Werke, die sie kommentieren, leidenschaftlich, überschwenglich und stets maßlos übertrieben loben. (…) Und welcher Kommentator hat jemals das Werk, an dem er arbeitete, nicht wie sein eigenes gelobt?“ (Francesco Petrarca: Über seine und vieler anderer Unwissenheit. Übersetzt von Klaus Kubusch. Herausgegeben und eingeleitet von August Buck. Felix Meiner Verlag Hamburg 1993. ISBN 3-7873-1104-1. S. 115.)
(3) „Doch das sei nur unter uns geredet, denn Sie wissen wohl, mein Herr, dem gemeinen Volk kein Ärgernis zu geben und die Herren Patres nicht böse zu machen, muß man sich in acht nehmen, die Fehler ihrer Jahrbücher zu entdecken, und nur damit zufrieden sein, daß man sie eben nicht lesen muß.“ (Pierre Bayle [Johann Christoph Gottsched (Übers.), Johann Christoph Faber (Hrsg.)]: Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist (= Reclams Universal-Bibliothek, Band 592). Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1975. S. 40.).
(4) Eberhard Döring: Karl R. Popper: ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘. UTB 1920. Paderborn 1996. ISBN 3-8252-1920-8. S. 7.
(5) Popper hatte einst mit der Psychologie angefangen, sie dann aber zugunsten Wissenschaftstheorie aufgegeben. Vgl. William Berkson, John Wettersten: Lernen aus dem Irrtum. Die Bedeutung von Karl Poppers Lerntheorie für die Psychologie und die Philosophie der Wissenschaft. Mit einem Vorwort von Hans Albert, Hamburg 1982.
(6) Eberhard Döring: Karl R. Popper: ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘. UTB 1920. Paderborn 1996. ISBN 3-8252-1920-8. S. 7.
(7) „Im Zentrum der gesamten zweibändigen Ausführungen zu den Wurzeln und Auswirkungen des Historizismus, des Utopismus, des Totalitarismus, des Essentialismus und des Mystizismus (sowie anderer Etikettierungen mehr) steht immer die Philosophie Hegels, wenn auch die dem Umfang nach recht knappen Ausführungen Poppers zur Hegelschen Gesamt-Philosophie dies nicht auf den ersten Blick erkennen lassen.“ (Eberhard Döring: Karl R. Popper: ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘. UTB 1920. Paderborn 1996. ISBN 3-8252-1920-8. S. 96.)
(8) Claus Daniel: Hegel verstehen. Einführung in sein Denken. Campus Verlag Frankfurt/New York 1983. ISBN 3-593-32552-7. S. 21.
(9) Walter Kaufmann: The Hegel Myth and Its Method. In: From Shakespeare to Existentialism. Princeton University Press, Princeton N. J. 1980. ISBN 0-691-01367-5. Dt. Übersetzung: Walter Kaufmann: Hegel: Legende und Wirklichkeit. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band X, 1956, 191–226.
(10) Walter Kaufmann: The Hegel Myth and Its Method. In: From Shakespeare to Existentialism. Princeton University Press, Princeton N. J. 1980. ISBN 0-691-01367-5. S. 96.
(11) Walter Kaufmann: The Hegel Myth and Its Method. In: From Shakespeare to Existentialism. Princeton University Press, Princeton N. J. 1980. ISBN 0-691-01367-5. S. 97.
(12) „Für viele nämlich stellt die Wissenschaft einen Spielplatz ihrer Dummheit dar, für fast alle ist sie ein Werkzeug ihres Hochmuts, es sei denn, daß sie – was selten geschieht – auf einen charakterlich guten und gut unterwiesenen Menschen trifft.“ (Francesco Petrarca: Über seine und vieler anderer Unwissenheit. Übersetzt von Klaus Kubusch. Herausgegeben und eingeleitet von August Buck. Felix Meiner Verlag Hamburg 1993. ISBN 3-7873-1104-1. S. 21.)
(13) Eberhard Döring: Karl R. Popper: ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘. UTB 1920. Paderborn 1996. ISBN 3-8252-1920-8. S. 60.
(14) „Die systematische Analyse des Historizismus zielt auf Wissenschaftlichkeit. Nicht so dieses Werk. In ihm werden viele Ansichten ausgesprochen, die persönlicher Natur sind.“ (Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd1: Der Zauber Platons, Tübingen 7. Aufl., 1992 (zuerst: 1944). S. 6.)
(15) Döring hält es im Hinblick auf Marxisten mit Popper wie Ciceros Schüler mit Platon: „Irren will ich bei Gott lieber mit Platon, den du so hoch stellst, wie ich weiß, und den ich in deinen Worten bewundere, als mit diesen die wahre Ansicht zu haben.“ (Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tuskulum. Eingeleitet und übersetzt von Karl Büchner. Editions Rencontre, Lausanne Köln 1970. S. 22.)
(16) „Ich behaupte daher, dass die ständige Integritätskrise, in die Rationalisten regelmäßig geraten, oder in die sie hinein gezwungen werden, ihre Ursache in einer vernachlässigten Identitätskrise in der rationalistischen Tradition hat. Vernachlässigt ist sie zum Teil deswegen, weil die Philosophen es im Allgemeinen verabsäumen, sich ebenso um die Entwicklung einer Rationalitätstheorie zu bemühen wie um die einer Erkenntnistheorie. Wegen dieser Krisen ist das wertvolle Faktotum im Hause des Irrationalisten - das Tu-quoque-Argument - die Leiche im Keller des Rationalisten. Rationalisten sind zu sehr einem Rationalitätsbegriff oder einer rationalistischen Identität verpflichtet, die zu erlangen unmöglich ist, und die unvermeidliche Enttäuschung ihrer Bemühungen, dieser übermäßigen Verpflichtung gerecht zu werden, hindert sie daran, Integrität zu erlangen. Gleichzeitig versetzt dieses Unvermögen der rationalistischen Tradition, ihre Identitätskrise zu lösen, viele Irrationalisten ganz unabhängig von ihren Bindungen in die Lage, ihre eigene Identität ohne Integritätsverlust zu wahren." (W. W. Bartley, III: Flucht ins Engagement, Tübingen 1987 (zuerst: La Salle, Ill. 1962. S. 90.).
(17) „Der Entschluß zugunsten der Rationalität kann aus dieser nicht deduziert werden, er basiert auf einer irrationalen Entscheidung, wie Popper betont.“ (Eberhard Döring: Karl R. Popper: ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘. UTB 1920. Paderborn 1996. ISBN 3-8252-1920-8. S. 88. / Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 7. Aufl. 1992 (zuerst: 1944). S. 270.)
(18) Walter Kaufmann: The Hegel Myth and Its Method. In: From Shakespeare to Existentialism. Princeton University Press, Princeton N. J. 1980. ISBN 0-691-01367-5. S. 98.
(19) Walter Kaufmann: The Hegel Myth and Its Method. In: From Shakespeare to Existentialism. Princeton University Press, Princeton N. J. 1980. ISBN 0-691-01367-5. S. 126.
(20) Walter Kaufmann: The Hegel Myth and Its Method. In: From Shakespeare to Existentialism. Princeton University Press, Princeton N. J. 1980. ISBN 0-691-01367-5. S. 128.
(21) Francesco Petrarca: Über seine und vieler anderer Unwissenheit. Übersetzt von Klaus Kubusch. Herausgegeben und eingeleitet von August Buck. Felix Meiner Verlag Hamburg 1993. ISBN 3-7873-1104-1. S. 77.