Dienstag, 17. Februar 2009

Historizismus

Beim Historizismus geht es um die Frage: Gibt es in der Geschichte Gesetze?

Diese Fragestellung ist schon recht alt. In dieses Problem wurde schon von John Stuart Mill in seinem VI. Buch in seiner einflussreichen Abhandlung "A System of Logic. Ratiocinative and Inductive. Being a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation" (1843; 9. Aufl. 1875) im Buch VI: "On the Logic of the Moral Sciences" bestens eingeführt.

Mill stellt als Motto ein Zitat voran von Condorcet ("Esquisse d'un Tableau Historique des Progrès de l'Esprit Humain"): Alle Erscheinungen, von denen der Mensch die Gesetze kennt, kann er fast vollständig voraussagen; wenn diese Gesetzeskenntnis ihm fehlt, ist er dennoch zu Wahrscheinlichkeitsaussagen fähig. Auf diesem Prinzip beruht die gesamte Naturwissenschaft. Warum also sollte davon die Entwicklung der geistigen und moralischen Fähigkeiten des Menschen eine Ausnahme bilden?

Die Grundsätze der Erforschung der Wahrheit und die Methodenlehre der Wissenschaften können nicht a priori konstruiert werden, sagt Mill schon zu Beginn seiner Einführung. Die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen können nur studiert werden am "agent at work". Der Mensch erkennt schon, bevor er sich überhaupt dessen bewusst wird und diesen Vorgang der Prüfung unterzieht. Die wissenschaftliche Erkenntnis steigt dabei von den einfachsten Fragen, wo sie sicherer und leichter ist, zu den komplizierteren auf.

Man darf schon zu Beginn den Kontrast zu Popper feststellen. Popper geht von Kants Abgrenzungsproblem zwischen Verstand und Vernunft, empirischem und metaphysischem Erkennen aus, das er verändert zur Frage der Abgrenzung zwischen empirischer Wissenschaft und Nicht Wissenschaft. Während für Mill auch der Prozess wissenschaftlichen Erkennens ein der Erfahrung unterworfener Vorgang ist, muss man Poppers Konstruktion des Begriffs von empirischer Wissenschaft ironischer Weise selber als kaum verhüllten Apriorismus kennzeichnen (ein Erbe des Kantschen Transzendentalismus). So gerne Popper über "empirische Wissenschaft" redet, so selten geht er wie ein empirischer Wissenschaftler vor. Er zieht es im Allgemeinen selbst bei der Behandlung empirischer Fragestellungen vor, diese möglichst mithilfe von Logik bzw. durch Logisierung des Problems in Modellen und Gedankenexperimenten zu beantworten.

So rekonstruiert auch Popper den Historischen Materialismus mit seiner Voraussage einer sozialistischen Revolution nicht anders als deduktiven Beweisgang. Und Historizismus wird von Popper zu widerlegen gesucht durch einen logischen Beweis. Ein solches Unterfangen setzt aber voraus, dass empirische Behauptungen durch A priori-Deduktionen zu widerlegen seien.

Poppers Beweisgang setzt aber mehr voraus als Axiome der Logik. Es gibt keine synthetischen Sätze a priori. Also muss Popper sich entweder darauf beschränken, (mit allein logischen Mitteln!) die Inkonsistenz der historistischen Problemlösung nachzuweisen; oder er muss die empirischen Behauptungen der "Historizisten" durch entgegengesetzte empirische Behauptungen bestreiten. Wer den Theorien der Historizisten jedoch eine eigene empirische Theorie entgegenstellt, begibt sich damit auf eben genau das Terrain, dessen Zutritt er nicht nur den Historizisten, sondern allen vernünftigen Wissenschaftlern verboten hat.

Condorcet und Mill sehen (was mit Hans Alberts Position des "Naturalismus" völlig übereinstimmt) keinen grundsätzlichen methodischen Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. Die Sozialwissenschaften unterscheiden sich nur dadurch von den entwickelteren Naturwissenschaften, dass ihr Erkenntnisgegenstand komplexer und ihr vergleichbar erreichter Erkenntnisfortschritt bislang geringer sei. Mill sieht demnach keinen grundsätzlichen Hinderungsgrund, seine allgemeinen Grundsätze zur Methode wissenschaftlichen Erkennens gleichfalls auf das Feld der "Moralwissenschaft" (heute "Sozialwissenschaften" genannt) anzuwenden.

Gegen diese Auffassung wird häufig der Einwand vorgebracht: Die Handlungen des Menschen sind nicht wie die Naturvorgänge Naturgesetzen unterworfen, sondern durch den freien Willen des Menschen bestimmt.

Mill sieht hier eine unheilvolle Begriffskonfusion am Werke, hervorgerufen durch das Wort "Notwendigkeit" (necessity). Während wie in den Naturwissenschaften die Kausalbeziehung nichts weiter als eine gleichförmige Beziehung zwischen Ursache und Wirkungen bezeichnet, wird in der "Doctrine of Necessity" behauptet, dass menschliche Handlungsmotive "necessary and inevitable" sind.*) Damit werden häufig Thesen assoziiert, wonach der Mensch (außerhalb der Kausalgesetze) zu etwas gezwungen werde oder dass ein Ereignis unvermeidlich sei, und zwar in dem Sinne, dass der Mensch durch sein Handeln nicht eingreifen könne. Verbunden ist damit der Fatalismus, als die die Einstellung, der Widerstand des Menschen gegen ein voraussehbares Geschehen sei zwecklos. Demgegenüber hält Mill fest, dass das Gefühl der Entscheidungsfreiheit durch die Kausalgesetzlichkeit keineswegs tangiert werde. [Auch Wolfgang Schluchter 1979:1 spricht von "Notwendigkeitskausalität". Das ist bestenfalls ein "weißer Schimmel" oder Mystifikation. Entweder man will etwas erklären, dann benötigt man Regelmäßigkeiten bzw. Kausalität. Oder man leugnet Erklärbarkeit; dann muss man sagen, was man in der Wissenschaft noch glaubt erreichen zu können.)

*) But the doctrine of causation, when considered as obtaining between our volitions and their antecedents, is almost universally conceived as involving more than this. Many do not believe, and very few practically feel, that there is nothing in causation but invariable, certain, and unconditional sequence. There a few to whom mere constancy of succession appears a sufficient stringent bond of union for so peculiar a relation as that of cause and effect.
(Mill, London 1959, S. 548)

Mit der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung wird ein mystischer Zusammenhang mitgefühlt, welcher über die Konstatierung der Konstanz der Kausalrelation hinausgeht. Das Gefühl dieser magischen Beziehung wird bei der introspektiven Betrachtung des eigenen Handelns jedoch gerade vermisst - aus welchem subjektiven Erleben heraus die Kausalrelation für menschliches Handeln überhaupt in Frage gestellt bzw. intuitiv abgelehnt wird.

Auch Popper beutet diese Begriffskonfusion um die "Unvermeidlichkeit" weidlich aus. Auch er rückt Determinismus in die Nähe von Fatalismus.

Popperizisten (das sind Popper-Nachschwätzer, die in Popper die Fleisch gewordene Logik anbeten) dann zeigen selbst in der Anwendung von Logik wenig Konsequenz.
Denn einerseits klagen sie Marx wie auch andere Denker des Historizismus an.
Andererseits behaupten sie selbst fast noch im selben Atemzuge, dass die Ideen von Platon, Hegel und Marx unvermeidlich und geschichtlich geradewegs auf Hitler und Stalin hinausliefen. Was ist eine solche Behauptung indes anderes als eine reformulierte historizistische These?!

Wenn Popper Determinismus ablehnt, so stellt sich als die nächste Frage, was von seiner Methodologie empirischer Wissenschaft übrigbleibt. Welche Möglichkeiten verbleiben einem Wissenschaftler denn für sein Erklärungsprogramm, wenn er konstante Strukturen sowie etwa Gesetzmäßigkeiten in der Welt leugnet?

Hans Albert sprach dem Historismus gegenüber, der ebenfalls die Möglichkeit von Gesetzeserkenntnis in der menschlichen Geschichte bestreitet, von einem a priori-Erkenntnisverzicht bzw. von der "Ontologisierung einer Erkenntnislücke".
Wer die Gesetze in menschlichem Handeln, in Gesellschaft und Geschichte leugnet, wird auch keine suchen. Welcher Art soll dann die Wissenschaft derselben sein?!

Man kann suchen, wissenschaftliche Gesetze, die einem missfallen, dadurch den Boden zu entziehen, indem man die logische Unmöglichkeit von Gesetzeserkenntnis überhaupt behauptet. Damit stellt man jedoch die Arbeitsgrundlage von empirischer Wissenschaft grundsätzlich in Frage und zieht sich aus dem Spiel Wissenschaft zurück.

Wie im Schach: Ein schlechter Verlierer wirft das Spielbrett um!

== Literaturverzeichnis ==
Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) :Tübingen 1979. ISBN 3-16-541532-3.

Sonntag, 8. Februar 2009

Die Mobilität der Produktionsfaktoren

Der diesbezügliche EU-Euphemismus hierfür lautet: "Freizügigkeit von Kapital und Arbeit".

In der schmutzigen Praxis bedeutet dies aber eher grenzenlose Kapitalfluchtmöglichkeit als die Möglichkeit von Einwanderern, die Festungsmauern Europas zu erklimmen.

Mit der Fluchtmöglichkeit hat das Kapital nach Fall des realen Sozialismus die Beschäftigten erpresst, ständig sich verschlechternde Bedingungen der Lohnarbeit zu akzeptieren (Sozialabbau wie HartzIV usw.).

IBM bietet jetzt den von ihr in USA oder Kanada Entlassenen Hilfe an, nach Indien oder in andere "Wachsumsmärkte" zu emigrieren, um dort zu den örtlichen Bedingungen sich ausbeuten zu lassen.
Paul McDougall: IBM Offers To Move Laid Off Workers To India. InformationWeek Februar 2, 2009

Wenn sie mal Vehemenz zeigt, dann hier: Die deutsche Bundeskanzlerin hat sich gegen die "Buy american"-Klausel im US-Konjunkturpaket ausgesprochen.

In dürren Worten: Die deutsche Regierung möchte gern weiterhin bei der US-Konjunturpolitik Trittbrettfahrer spielen. Denn ihr eigenes Paketchen ist minim, nicht nur von der Gesamtsumme, sondern auch in der entfachten Wirkung.

Dabei ist der im Inlande so hoch gelobte "Exportweltmeister" mit der damit einhergehenden Strategie, weltwirtschaftliche Ungleichgewichte zu schaffen und auszubeuten, selber mitverantwortlich für die Weltwirtschaftskrise (zusammen mit Japan und China). Denn Exportüberschüsse aufzubauen, heißt Arbeitslosigkeit zu exportieren und die Verschuldungsbereitschaft der Importländer hemmungslos auszunutzen.

Wie das Kapital sich nicht verwerten kann, wenn die Lohnarbeit real immer weniger verdient, so kann nicht auf Dauer unbegrenzt in verschuldete Staaten exportiert werden. Der einzig mögliche "Ausweg" ist Kreditkrise.

Wie der Bauer sagt: Man kann die Kuh nicht gleichzeitig melken und schlachten.

Wenn es ein "ehernes Lohngesetz" gibt, dann ist es dieses.

Das Wertproblem in der Ökonomie

"Die Geschichte des Finanzwesens ist auch die Geschichte eines Ringens um eine stabile, sichere Methode zur Wertmessung – das, wie jedes andere Streben nach Gewissheit in unserer unberechenbaren Welt, zum Scheitern verurteilt war. Die jüngste Finanzkrise illustriert diese Schwäche auf eindrucksvolle Weise: Sie tilgt jedes Gefühl, dass man Vermögenswerten einen präzisen Preis zuweisen kann. Die meisten Menschen sind inzwischen überzeugt, dass dieses Versagen in der Natur des Finanzsystems liegt. Doch enthüllen Unsicherheiten über den Wert zugleich tief greifende Probleme der politischen Ordnung."
Harold James: Deflation und Demokratie

Wenn nur Handeln begriffen werden kann, das rational ist (Praxeologie, von Mises), so ist irrationales Handeln unerklärbar. Eine Erklärung von Handlungen dadurch, dass sie als irrational bezeichnet werden, ist dann nichts weiter als eine Pseudo-Erklärung (Begriff von Schumpeter, Konjunkturzyklen, I).

Analoges gilt für Dogmatismus und Metaphysik, bzw. für die entsprechenden Vorwürfe, die man gegnerischen Autoren an den Kof knallt. Was den eigenen methodologischen Ansprüchen an Wissenschaftlichkeit nicht zu genügen scheint, wird flugs in die Kiste von Metaphysik und/oder Dogmatismus befördert. Irgendein wissenschaftliches Problem wird damit freilich nicht gelöst; wohl aber die Zankerei von Wissenschaftlern (R. K. Merton) auf ein neues unfruchtbares Niveau gehoben.

So verfährt etwa Joan Robinson (An Essay on Marxian Economics, 1942) mit der Marxschen Werttheorie. Was ihrem positivistischen Zeitverstand nicht verdaulich ist, wird als Hegelian stuff and nonsense in den Papierkorb befördert.(Wolfgang Müller)

Was an diesem Verfahren wahrlich dogmatisch ist, ist das Vorgehensweise dieser angeblichen "Anti-Dogmatiker". Hier reproduziert sich eigentlich nur der Geburtsfehler des Positivismus, welcher schlicht glaubte, die Metaphysik einfach dadurch aufheben zu können, dass sie Philosophie, genauer philosophisches Denken, per Nichtdenk-Befehl negierte. Man beseitigt jedoch Theoretisieren nicht dadurch, dass man es sich verbietet; genausowenig die Philosophie. Denn auch Nicht-Philosophie ist Philosophie (da auch Unphilosophie selbst wieder auf höchst problematischen Voraussetzungen beruht, die lediglich sich selbst nicht eingestanden werden). Selbst Popper hat dies schließlich immer besser erkannt (trial and error?!); nur einige seiner Anhänger haben damit nach wie vor Schwierigkeiten, diese Binsenwahrheit einzusehen und sind demzufolge mitunter Philosophen gegen deren eigenes Dafürhalten (Geismann kontra Keuth).

Und an dieser Stelle reproduziert sich ein in der Philosophie altbekanntes Schema. Die Probleme, die nicht innerhalb eines wissenschaftlichen Systems gelöst werden, stellen sich dann außerhalb desselben; oder umgekehrt: Die Probleme einer fremden Theorie, die in die eigene integriert worden ist, stellen sich dann, in häufig unverminderter Schärfe, innerhalb desselben.(Systematologie, Franz Kröner).

Diese Grundeinsicht (um nicht zu sagen: Binsenwahrheit) lässt sich wunderbar hier auf das den Ökonomen gänzlich verleidete Wertproblem anwenden. Nach der gängigen Lehrauffassung krebsen wir auch heute noch auf so ziemlich demselbem Standpunkt wie J. Robinson herum (zumindest ist das noch bis vor Kurzem die auf wikipedia.de veröffentlichte Vulgärmeinung): Das Wertproblem ist kein wissenschaftliches Problem; es stellt sich überhaupt nicht, weil es nichts weiter als metaphysischer Unsinn ist.

Wenn das man das so einräumen wollte, so ist damit aber lediglich erreicht, dass dasselbe Problem sich innerhalb der heutigen ökonomischen Theorie nur in einer anderen Form zeigt, vielleicht auch bloß an einer eher unerwarteten Stelle. Vielleicht als Indexproblem, vielleicht als Problem, Kapital als Begriff so zu fassen, dass er unabhängig von der Kapitalproduktivität ist, ...

Was entschieden dabei gelitten hat, ist indes das Problemverständnis, insbesondere überhaupt diejenige Problemauffassung, die zum wahrhaften Verständnis der Geschichte der ökonomischen Theorien unabdingbar ist. Wer Wert- und Preisbegriff nicht auseinanderzuhalten weiß (vgl. Hans Albert, Ökonomische Ideologie und politische Theorie, 1972 zu dieser fundamentalen Unterscheidung), kann überhaupt nicht mehr das Problem der Werttheorie einsehen, also der Debatte überhaupt nicht geistig folgen. Haben Sie schon einmal eine Diskussion verstanden, wenn Sie überhaupt nicht wussten, worum es eigentlich, verteufelt noch mal, ging?!

Der eitle Erfolg der Anti-Dogmatiker ist also schlussendlich der Sieg der eigenen Ignoranz.

Wer wie Niehans leugnet, dass es eine Werttheorie gibt oder je gegeben hat bzw. dass die Arbeitswerttheorie schlichtweg tot ist (Und das mit der Begründung, dass kein Arbeitswerttheoretiker seit Ökonomen-Gedenken einen deutschen Lehrstuhl je inne gehabt hat. Es ist dies indes nicht zum ersten Mal, dass uns Deutschen aus einem geistigen Provinzialismus eine ewige Wahrheit geboren wird.), der demonstriert dadurch lediglich, dass er die Grundlagen des eigenen Faches nicht kennt. Dass ein deutscher Ökonomieprofessor diese gar nicht mehr zu kennen braucht, sagt fast schon alles über den gegenwärtigen Zustand der dismal science hierzulande.

So liefert gerade die herrschende Nationalökonomie (mainstream economics) ein blendendes Beispiel für Theoriemonismus in einer Fachwissenschaft (sofern man bereit ist, diese Disziplin irgendwie als Wissenschaft einzuordnen). Demgegenüber ist Bharadwaj beizupflichten, die in einer Belebung des Interesses an der klassischen Nationalökonomie einen geeigneten, wenn nicht unumgänglichen Schritt sieht, den Theorienpluralismus auch in der ach so wenig interesse-neutralen Ökonomie wieder zum Durchbruch zu bringen. Gefordert sind wieder einmal die Innovatoren, dieses Mal jedoch innerhalb der Wissenschaft der Ökonomie.

Montag, 2. Februar 2009

Die Angst der Regierung vor der Konjunkturpolitik

Nicht um die Angst des Tormanns vorm Elfmeter handelt es sich hier, sondern eher um die Angst des Torjägers vorm Elfmeterschießen. Wobei im Falle der deutschen Bundesregierung hinzukommt, dass sie selber Jahre lang so gesprochen hat, als ob es Elfmeterschießen nie mehr geben werde, dass es auch niemals funktionieren kann. Völlig undenkbar, mit dem Ball auch noch ins Netz zu treffen! Wer die Situation so sieht (d.h. 1. das Problem in seiner Existenz leugnet, und 2. die Lösungsmöglichkeiten nicht sehen will), kann kaum mit Herz und Verstand das zu lösende Problem angehen.

Das alte Lied demnach: Der Fisch fängt vom Kopfe zu stinken an. Nicht "Rigiditäten des Arbeitsmarktes", sondern die lobbyistisch verhärtete Sturheit und Ideologiebesessenheit staatlicher Wirtschaftspolitik sind die entscheidenden Schwachstellen, die Europas Zurückbleiben verursachen.

In einer empirischen Studie, die jährliche Daten von 17 OECD-Staaten benutzt, zeigten Aghion and Marinescu (2006), dass eine pro-zyklische Haushaltspolitik dem Wirtschaftswachstum wirklich schadet. Diese Beeinträchtigung tritt in Staaten vermindert zutage, deren Finanzsystem höher entwickelt ist.

Philippe Aghion, and Iona Marinescu (2006), “Cyclical Budgetary policy and Economic Growth: What Do We Learn from OECD Panel Data? ”.


Wenn die Zunahme der Staatsverschuldung in der EU ähnlich anti-zyklisch wie in den USA wäre, würde das langfristige Wachstum in Europa um 0,5% zunehmen.

Darüberhinaus ist festzustellen, dass es der Anteil an Investitionen am Staatshaushalt ist, der die positiven anti-zyklischen Effekte bewirkt. In der EU sind die Haushaltspolitiken weniger anti-zyklisch als in den USA, obgleich die USA noch dazu über ein höher entwickeltes Finanzsystem besitzen, das die negativen Effekte pro-zyklischer Budegetpolitik auszugleichen vermag.

In der Eurozone variieren das strukturelle Haushaltsdefizit sowie die realen Zinssätze viel weniger als in den Vereinigten Staaten. Man muss davon ausgehen, dass das Fehlen einer anti-zyklischen Haushaltspolitik eine mögliche Ursache für die Wachstumsschwäche der europäischen Wirtschaft darstellt.


In a recent empirical study using annual data from 17 OECD countries, Aghion and Marinescu (2006) show that the pro-cyclicality of fiscal policy is actually detrimental to growth; but they also show that the same degree of pro-cyclicality is less detrimental to growth in countries with a higher degree of financial development. (9)

One can also show that if public debt growth in the EMU zone were to become as countercyclical as in the US, long-term growth in the euro zone could increase significantly, possibly by the order of magnitude of half a percentage point.

Moreover, it is the investment part of government spending that appears to drive this positive effect of budget counter-cyclicality. Budgetary policies are currently far less countercyclical in the EU than in the US even though the US is more financially developed than the EU. As shown in Figure 4 below, both the structural deficit and the real interest rates vary much less over time in the euro area than in the US. Our discussion suggests that the absence of an active (or reactive) macroeconomic policy in the euro area is, therefore, a potential source of the growth deficit in the region.


A Primer on Innovation and Growth
Philippe Aghion (Harvard University and Bruegel)
October 2006

Heiner Flassbeck

Es ist jetzt schon bald ein Jahr her, da hatte Heiner Flassbeck gesagt:

"Durch den extremen Export-Boom der letzten Jahre ist Deutschland viel verwundbarer, als es jemals vorher war. Das wird überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Von daher spricht alles dafür, dass es doch einen gewaltigen Rückschlag in diesem Jahr geben wird. Man sieht ja in den USA: Die diskutieren sofort ein Konjunkturprogramm. Bei uns ist das Tabu. Natürlich muss man etwas gegensteuern. Man muss. Zum Beispiel kann man darauf vorbereiten, öffentliche Investitionen sehr schnell in Gang zu setzen, was sicher sehr viel direkter und unmittelbarer wirkt als Steuersenkungen oder ähnliche Dinge, die jetzt so am Rande diskutiert werden. Also man kann sich vorbereiten und insofern muss man hier ein vollständiges Umdenken in Berlin einfordern."

Die Krise will man in Berlin erst gar nicht wahrhaben. Und dann werden Gegenmaßnahmen nicht recht vorbereitet, nur halbherzig ins Auge gefasst und kommen schließlich viel zu spät an. Der letzte Hit ist dann die politische "Kommunikation" der herrschenden Ideologen: Die Täter seien die Opfer, und die wirklichen Opfer seien die Schuldigen.

Konjunkturpolitik ist in Deutschland nach wie vor ein öffentliches Unwort, und J. M. Keynes ein Verfemter. Es gilt halt in der deutschen Provinz immer noch der Hamburger Appell, womit sich Deutschlands ökonomischer Mainstream bedingungslos dem Neoliberalismus, auf Gedeih und Verderb, verschrieben hatten. Bezeichnend für diesen ideologischen Diskurs sind die Anschuldigungen gegenüber einem angeblichen "Linkskeynesianismus", nachdem das DIW einen Regierungsauftrag verloren hatte.[Beschluss des Wirtschaftsministeriums: DIW bei Konjunkturprognose nicht mehr dabei. Tagesschau 3.7.2007]

Hierzu betrachte man näher als Exempel den Fall Gustav Horn:

"Horn studierte 1973 - 1979 Volkswirtschaftslehre an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn mit dem Abschluss Diplom-Volkswirt. Als DAAD-Stipendiat erwarb er 1981 einen internationalen Abschluss als Master of Science an der London School of Economics and Political Science. Von dort wechselte er für fünf Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Lehrstuhl für Angewandte Wirtschaftsforschung der Universität Konstanz.

Von 1986 bis 2004 war er beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin tätig. 1992 promovierte er an der TU Berlin. Nachdem er schon 1998 - 1999 kommissarisch die Konjunkturabteilung des DIW geleitet hatte, übernahm er diese Position 2000 - 2005 auch offiziell. Zwischendurch erfolgte 2001 seine Habilitation im Fach Volkswirtschaftslehre bei Prof. Jürgen Kromphardt. Seine Entlassung als "Konjunkturchef" des DIW erregte seinerzeit großes Aufsehen in der Öffentlichkeit; sie wurde von Heiner Flassbeck, der eben dieselbe Position schon inne gehabt hatte, gewertet als Zeichen für eine Abkehr des Instituts von seiner überlieferten keynesianischen Programmatik."

[Heiner Flassbeck: Glasperlenspiel oder Ökonomie. Blätter für deutsche und internationale Politik 09/2004]

Flassbeck: "Die wichtigste Maßnahme ist, die Bankenregulierung jetzt anzufassen, das Kasino zu schließen, wesentlich höhere Eigenkapitalvorschriften durchzusetzen und das internationale Währungssystem zu stabilisieren, also zu verhindern, dass Länder, jetzt noch mehr Länder über die Klippe fallen."

Heiner Flassbeck im Gespräch mit Jochen Spengler


Heiner Flassbeck studierte von 1971 bis 1976 Volkswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes. Danach arbeitete er bis 1980 im Assistentenstab des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Er promovierte 1987 zum Dr. rer. pol. an der Freien Universität Berlin mit dem Thema: Preise, Zins und Wechselkurs - Zur Theorie der offenen Volkswirtschaft bei flexiblen Wechselkursen.

Nachdem er seit 1980 im Bundeswirtschaftsministerium in Bonn tätig gewesen war, wechselte er im Jahre 1986 zum DIW in Berlin, wo er an Arbeitsmarkt- und Konjunkturanalysen und über wirtschaftspolitischen Konzepte arbeitete. 1990 übernahm er beim DIW die Leitung der Abteilung Konjunktur.

Nach dem Regierungswechsel im Oktober 1998 wurde er zum Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen berufen. Er beriet den damaligen Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine bei dessen Vorhaben, gemeinsam mit dem französischen Finanzminister Dominique Strauss-Kahn eine keynesianische Finanz- und Währungspolitik auf europäischer Ebene zu etablieren. Nach dem Ausscheiden Oskar Lafontaines im März 1999 als Bundesfinanzminister endete im April 1999 auch Flassbecks Tätigkeit als Staatssekretär.

Nach Betätigung als freier Wissenschaftler, Autor und Publizist wechselte er November 2000 nach Genf, wo er als Chef-Volkswirt (Chief of Macroeconomics and Development) bei der UNO-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) fungiert.

Die Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik hat Heiner Flassbeck im März 2005 zum Honorar-Professor ernannt.