Montag, 26. Juli 2010

War Keynes ein Keynesianer?

Ähnlich wie Marx durch den Marxismus, so wurde Keynes durch den Keynesianismus so popularisiert wie vulgarisiert. Eine Simplifizierung findet statt, wenn Faktoren als Konstante gesetzt werden, die in der ursprünglichen Theorie als Variable gelten durften. Dies fällt insbesondere dann auf, wenn aus der Theorie politische Handlungsanweisungen abgeleitet wurden, für welche aufgrund der geschichtlichen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft plötzlich nicht mehr das institutionelle Umfeld stimmt.(1) Es stellt sich daher zurecht die Frage

(A): Inwieweit stimmt die als "Keynesianismus" prominent gewordene Theorie und/oder offizielle Wirtschaftspolitik mit Keynes` ursprünglichem wirtschaftstheoretischen Ansatz überein?

Eine andere Frage ist

(B): Für welches eigentümliche historisch-institutionelle Umfeld war die als "Keynesianismus" prominent gewordene Theorie und/oder offizielle Wirtschaftspolitik speziell entwickelt und eingesetzt worden?

Während Matzner/Streeck (1991) die Frage (A) mit Absicht übergehen und sich nur noch mit der sozio-ökonomischen Frage (B) beschäftigen, hat sich Paul Davidson in seinem Keynes-Buch (2) speziell der Frage (A) gewidmet. Er stellt darin fest, dass Ökonomen wie Paul Samuelson und Hicks damals zwar die ökonomischen Ideen von Keynes zwar akademisch hoffähig gemacht haben, aber indem sie diesen einen neoklassischen mikroökonomischen Unterbau verpasst und so Keynes' originelle Ideen hoffnungslos verdunkelt und Inkonsistenzen im Theoriegebäude produziert haben.

Auf Wikipedia.en heißt es unter "Keynesianism" nicht sehr deutlich:

Keynesian economics (..., also called Keynesianism and Keynesian theory) is a macroeconomic theory based on the ideas of 20th century British economist John Maynard Keynes. Keynesian economics argues that private sector decisions sometimes lead to inefficient macroeconomic outcomes and therefore, advocates active policy responses by the public sector, including monetary policy actions by the central bank and fiscal policy actions by the government to stabilize output over the business cycle.[1] The theories forming the basis of Keynesian economics were first presented in The General Theory of Employment, Interest and Money, published in 1936; the interpretations of Keynes are contentious, and several schools of thought claim his legacy.


Es wird der Anschein erweckt, als ob die Wirtschaftspolitik des Keynesianismus nahtlos aus Keynes und dessen General Theory hervorgegangen sei. Wie historisch grotesk das in der Tat ist, zeigt Davidson, indem er darauf hinweist, dass offiziell als Keynesianer bekannte Ökonomen genau dasselbe Werk als hoffnungslos dunkel und theoretisch unbedeutend bezeichnet haben, was jedenfalls als Anzeichen dafür genommen werden muss, dass sie es, falls sie es überhaupt gelesen haben, dann jedenfalls nicht verstanden oder gar rezipiert.

Etwas vorsichtiger formuliert wikipedia.de sein Lemma für "Keynesianismus":

Unter Keynesianismus [keɪnz-] wird in den Wirtschaftswissenschaften ein Theoriegebäude verstanden, in dem die gesamtwirtschaftliche Nachfrage die entscheidende Größe für Produktion und Beschäftigung ist. In diesem Sinne geht der Keynesianismus auf John Maynard Keynes' Allgemeiner Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes von 1936 zurück. Die Interpretation von Keynes' Allgemeiner Theorie durch J.R. Hicks 1937 in Form des IS-LM-Modells (die neoklassische Synthese) war Grundlage der neokeynesianischen Schule, als deren bekannteste Vertreter Paul Samuelson und Franco Modigliani gelten. Der amerikanische Neokeynesianismus lieferte die bis etwa 1970 dominierenden ökonomischen Modelle. Keynes' Schüler lehnten diese Syntheseversuche stets ab, Joan Robinson nannte die neokeynesianische Schule nur verächtlich „bastard keynesianism“.


Ungenau ist hierbei der Verweis auf die "gesamtwirtschaftliche Nachfrage", da es Keynes um die "effektive Nachfrage" ging. Jedenfalls wird aber im Gegensatz zur englischen Version deutlich, dass die "neoklassische Synthese" nur zu einem gewissen Anteil auf den Ideen von Keynes fußt.

Mit anderen Worten: Keynes ist mitnichten ein "Keynesianer"!(3)

Wenn man ökonomische Ideen und Theorieansätze beurteilt, muss man seine Schriften und die derjenigen Autoren, die sich selbst als "Keynesianer" bezeichnen oder von anderen dafür gehalten werden, säuberlich auseinanderhalten.


(1) Egon Matzner, Wolfgang Streeck: Introduction: Towards a Socio-Economics of Employment in a Post-Keynesian Economy. In: Egon Matzner, Wolfgang Streeck, (Hrg.): Beyond Keynesianism. The Socio-Economics of Production and Full Employment. Edward Elgar : Aldershot 1991. ISBN 1-85278-424-5. S. 1 ff.

(2) Paul Davidson: John Maynard Keynes. Palgrave Macmillan. ISBN 13-978-1-4039-92623-7. ISBN 10-4039-9623-7.

Vgl. auch Paul Davidson: Keynes' Serious Monetary Theory.

(3) The search for Keynes - Was he a Keynesian? The Economist, 26.12.1992-8.1.1993, S. 106-108.

Montag, 19. Juli 2010

Keynes, Marx: Apriorismus vs. Dialektik

Marx (Briefe, 1. Februar 1858; MEW 29, S. 274.) über Ferdinand Lassalle: "Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos" (Bd.1,2. Berlin 1858) zu Engels:

"Er [d.h. Lassalle] wird zu seinem Schaden kennenlernen, daß es ein ganz andres Ding ist, durch Kritik eine Wisssenschaft erst auf den Punkt bringen, um sie dialektisch darstellen zu können, oder ein abstraktes, fertiges System der Logik auf Ahnungen eben eines solchen Systems anzuwenden."


Man muss also im Hinblick auf Marxens "Dialektik" die kritische Forschungsweise und die Darstellungsweise voneinander trennen, obwohl beide einander jeweils in besonderer Weise wechselseitig bedingen. Wer das nicht vor Augen hat, dem mutet Marxens Darstellung im "Kapital" wie ein aprioristisches Vorgehen an, obwohl dies genau das Gegenteil dessen ist, was beabsichtigt ist. {vgl. hierzu Böhm-Bawerks grundlegendes Missverständnis}

Ernest Mandel weist dies in seiner "Marxistische Wirtschaftstheorie" (1. Band. edition suhrkamp (es 595) Frankfurt am Main 2. Aufl. 1972. S. 14ff.) richtig nach.

Mandel gerät aber im Hinblick darauf ins Schwimmen, was den "empirischen Beweis" einer ökonomischen Theorie anbelangt. Letztlich rekurriert er auf die relativ vage Auskunft:
"Dieses Ziel ["die erstaunliche Aktualität des lebendigen Marxismus aufzeigen"] wird durch die gemeinschaftliche Synthese der empirischen Daten der universellen Wissenschaft viel eher erreicht als durch Auslegungen und Verteidigungen." (S. 17f)
Hier würde eine kritisch-dialektische Rezeption der methodologischen Überlegungen Karl Poppers und Paul Feyerabends zum Verhältnis von Theorie und Empirie wohl etliche Schritte voranbringen.

In diesem Aspekt des Verhältnisses von abstraktem Denken und konkreter Wirklichkeit sind Hegel und Ricardo eher Verwandte. Über das Verhältnis von abstraktem Modelldenken zu empirischer Erkenntnis in der Ökonomie kann im Gegensatz dazu eher auf die kritische Reflektion von J. M. Keynes rekurriert werden:

"It seems to me that economics is a branch of logic: a way of thinking. (...) One can make some quite worthwile progress merely by using axioms and maxims. But one cannot get very far except by devising new and improved models. this requires (...) vigilant observation of the actual working of our system. Progress in economics consists almost entirely in a progressive movement in the choice of models." (zit. nach Paul Davidson: John Maynard Keynes. Palgrave Macmillan. ISBN 13-978-1-4039-92623-7. ISBN 10-4039-9623-7. S. 18.).


Mit gewissem Recht könnte man diese Kritik von Keynes am formalen Modelldenken der Ökonomen als eine Paraphrase zu Marxens Methode des "Aufstiegs vom Abstrakten zum Konkreten" auffassen.

Sonntag, 4. Juli 2010

Kasino-Kapitalismus

„Wien huet eigentleech an eisen demokratesch legitiméierte Staten mat hirer sozialer Maartwirtschaft dat lescht Wuert – muss ee sech schlöussendlech froen -: Ass dat d’Politik oder sinn dat d’Bourssen? (…) Wat ass eigentlech d’Aufgab vu Banken? Sinn et Kasinoen oder hu se d’Aufgab, Kapital anzesammelen an et dann den Entreprisen oder de Privatpersoune fir Investitioune bereetzestellen? Dénge se der Realekonomie oder dénge se der renger Geldspekulation?“ [Lucien Lux (LSAP)] (1)

„… l’avidité des opérateurs financiers, qui se sont laissés entraîner par leur soif de l‘argent vite gagné à démultiplier les valeurs artificielles de plus en plus déconnectées de la réalité économique; en fait ces golden boys vendaient tout simplement de l’air chaud à prix d’or à leurs clients en se remplissant les poches de commissions et de bonus; …“ [Lucien Thiel (CSV) in seinem Budgetbericht unter dem Titel: „Les péchés du capitalisme-casino“; zitiert von Alex Bodry (LSAP)], (2)

„Mäi Plädoyer, deen internationalen, ass sécher kee géint méi Regulatioun. Et ass e Plädoyer fir eng besser Regulatioun. Et ass awer och e Plädoyer, deen dhinner geet, datt et definitiv muss esou sinn, datt mer de Kasino mussen zoumaachen, datt mer net kënne weiderfueren – op ville Plaze vun der Welt -, alles an egal wat ze erlaben, well de Kasino huet sech net hei zu Lëtzebuerg ofgespillt, an déi grouss Risikogeschäfter sinn net hei zu Lëtzebuerg ofgewéckelt ginn.“ [Jean-Louis Schiltz (CSV)] (3)

Der Begriff „Kasino-Kapitalismus“ hat durch die Finanzkrise seit 2007 wieder Konjunktur Er ist aber kein inhaltsleeres Schlagwort, das etwa bloß zur stigmatisierenden (4) Kennzeichnung von Spekulanten dient, welche an der Börse zockend ihrer Geldgier frönen. Er entstammt der Internationalen Politischen Ökonomie(5) und geht auf ein Buch(6) gleichen Namens von Susan Strange (London School of Economics, LSE) zurück, das 1986 erschienen ist. Sie kennzeichnete hiermit das durch Globalisierung und Liberalisierung neu entstandene System internationaler Finanzmärkte, welches integriert durch die genannten Prozesse in wachsendem Maße dadurch instabil wird.(7)

Susan Strange(8) wie auch Hans-Werner Sinn (Ifo-Institut München), der unter gleichem Titel 2010 sein Taschenbuch(9) über die gegenwärtige Finanzkrise herausgebracht hat, beziehen sich mit dem Ausdruck „Kasino“ auf das klassische Werk von John Maynard Keynes mit dem Titel: The General Theory of Employment, Interest and Money.(10) Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist vor allem die folgende Passage:

„Spekulanten mögen unschädlich sein als Seifenblasen auf einem steten Strom der Unternehmungslust. Aber die Lage wird ernsthaft, wenn die Unternehmungslust die Seifenblase auf einem Strudel der Spekulation wird. Wenn die Kapitalentwicklung eines Landes zum Nebenerzeugnis der Tätigkeit eines Spielkasinos wird, wird die Arbeit voraussichtlich schlecht getan werden. Wall Street, als Einrichtung betrachtet, deren eigentlicher sozialer Zweck die Leitung neuer Investitionen in die einträglichsten Kanäle ... ist, kann nicht Anspruch darauf erheben, daß der von ihr erreichte Erfolgsgrad ein hervorstechender Triumph des laissez-faire Kapitalismus ist - was nicht überraschen kann, daß die besten Köpfe von Wall Street in der Tat auf eine andere Aufgabe gerichtet sind." (11)

Es wäre jedoch zu simpel oder geradezu falsch, aus dieser neuerlichen Prominenz von Keynes auf eine Wiederkunft des Keynesianismus zu schließen, der somit etwa Revanche am Monetarismus und Neoliberalismus nähme, welche für die übermäßige Deregulierung und Marktfundamentalismus verantwortlich gemacht werden könnten. Doch derjenige Keynesianismus, der einstens wirtschaftspolitische Vorherrschaft ausgeübt hatte, basierte seinerzeit auf einer Anpassung keynesscher Theoriestücke an die neoklassischen Ökonomie (bzw. dem Allgemeinen Gleichgewichtsansatz von Léon Walras). Mit der sog. „neo-klassische Synthese“ von Paul Samuelson wurde Keynes in der US-Ökonomie akademisch salonfähig gemacht; grundlegende Ideen des oben genannten keynesschen Werkes wurden dabei jedoch einfach ignoriert, sei es, dass sie gegenüber der überkommenen Orthodoxie zu häretisch erschienen, sei es, dass sie im Dunstkreis überlieferter Überzeugungen überhaupt nicht adäquat begriffen wurden.(12)
Zu diesen neuartigen Gedanken zählt insbesondere Keynes‘ Ablehnung der gewöhnlichen Voraussetzung der neoklassischen Ökonomie, nämlich die des nach feststehenden Präferenzen die Aktionsweisen zweckmäßig auswählenden, vollständig informierten rationalen Akteurs. Keynes weist demgegenüber auf das Problem der Ungewissheit hin, dass nämlich die Zukunft grundsätzlich nicht gewusst wird, noch nicht einmal im Hinblick auf eine Wahrscheinlichkeitsverteilung bestimmter Risiken. Paul Davidson spricht hier von „Ergodizität“.(13) Hier schließt sich der Kreis, wo wir zum von Susan Strange aufgeworfenen Problem der zunehmenden Ungewissheit in der Evolution global integrierter Finanzmärkte zurückkehren.

Keynes spricht jedoch nicht einfach vom Glücksspiel an der Börse, sondern er analysiert solche soziologischen Aspekte wie den Herdentrieb:

"Es ergibt sich aber, daß die Tatkraft und Geschicklichkeit des beruflichen Investors und Spekulanten in der Hauptsache anderweitig angewendet wird. Tatsächlich befassen sich nämlich die meisten dieser Menschen nicht mit überwiegend überlegenen langfristigen Voraussagen des wahrscheinlichen Erträgnisses einer Investition während ihrer ganzen Lebensdauer, sondern damit, die Änderungen in der konventionellen Grundlage der Bewertung mit einem kurzen Vorsprung vor dem allgemeinen Publikum vorauszusehen. Sie befassen sich nicht damit, welchen Wert eine Investition wirklich für einen Menschen hat, der sie als Daueranlage kauft, sondern damit, wie sie der Markt, unter dem Einfluß der Massenpsychologie, nach drei Monaten oder nach einem Jahr bewerten wird. Dieses Verhalten ist überdies nicht das Ergebnis eines verschrobenen Hanges. Es ist das unvermeidliche Ergebnis eines nach den beschriebenen Grundlinien aufgebauten Investitionsmarktes. Denn es hat keinen Sinn, für eine Investition 25 zu bezahlen, von der man glaubt, daß ihr voraussichtliches Erträgnis einen Wert von 30 rechtfertigt, wenn man gleichzeitig glaubt, daß der Markt sie nach drei Monaten mit 20 bewerten wird. Der berufliche Investor ist somit gezwungen, sich mit der Vorwegnahme bevorstehender Änderungen solcher Art in den Ereignissen oder in der Umwelt zu befassen, durch welche die Massenpsychologie des Marktes erfahrungsgemäß am meisten beeinflußt wird." (14)

Und seine Analogie geht überhaupt nicht darauf, dass Börsenspekulation eine Art Roulette sei (dessen Risikoverteilung unter Umständen mittels der Wahrscheinlichkeitsrechnung rational zu handhaben wäre), viel eher wie das Schwarze Peter-Spiel oder Schneeballsystem (ponzi scheme) funktioniert:

"Der tatsächliche private Zweck der geschicktesten Investition von heute ist, 'der Kugel vorauszueilen', 'to beat the gun', wie die Amerikaner es so trefflich ausdrücken - schlauer zu sein als die Masse, und das schlechte oder sich entwertende Geldstück an den Nächsten abzustoßen. Für diesen Wettkampf der Gerissenheit, die Grundlage der konventionellen Bewertung für ein paar Monate vorauszusehen, statt das voraussichtliche Erträgnis einer Investition während einer langen Reihe von Jahren, sind nicht einmal Tölpel unter der Masse nötig, um den Wanst des Berufsmenschen zu füllen; - die Berufsgenossen können ihn unter sich selbst ausfechten. Auch ist es nicht notwendig, daß jemand einen schlichten Glauben an eine wahrhaft langfristige Gültigkeit der konventionellen Grundlage der Bewertung haben müßte. Denn es ist sozusagen eine Partie Schnippschnapp, Schwarzer Peter oder Sesseltanz - ein Zeitvertreib, bei dem derjenige Sieger ist, der schnapp weder zu früh noch zu spät sagt, der den Schwarzen Peter an seinen Nachbarn weitergibt, bevor die Partie aus ist, der sich einen Stuhl sichert, wenn die Musik aufhört. Diese Spiele können mit Spannung und Genuß gespielt werden, obschon alle Spieler wissen, daß es der Schwarze Peter ist, der herumgeht, oder daß beim Aufhören der Musik einige der Spieler ohne Stühle sein werden." (15)

Die Auffassung Keynes' vom Wesen der Spekulation steht in Gegensatz zur bis heute in den Wirtschaftswissenschaften vorherrschenden. Die Instabilität der Geldnachfrage stellt das Kernargument der keynesschen wie der der marxschen Geldtheorie dar gegen die monetaristische These eines rational finanzmarktgesteuerten Kapitalismus.(16)

In der Endphase des Systems von Bretton Woods vertraten führende Ökonomen wie Milton Friedman(17) und H. G. Johnson(18) die Meinung, dass ein System flexibler Wechselkurse einem System institutionell fixierter Kurse eindeutig überlegen sei, da sie die wirtschaftspolitische Autonomie der einzelnen Staaten erhöhten und außenwirtschaftliche Anpassungen erleichterten.(19) Kernthese dieser Argumentation war die Annahme, dass Spekulation grundsätzlich eine stabilisierende Funktion erfülle, da sie lediglich Anpassungsprozesse beschleunige. Die Liberalisierung der Kapitalmärkte bewirke demzufolge eine größere Stabilität der Weltwirtschaft im Hinblick auf das Währungssystem. So sagte Friedman 1998 angesichts der Asienkrise:

"Spekulanten wie George Soros üben eine extrem nützliche Funktion aus, sie stabilisieren die Märkte... Wer spekuliert, beschränkt sich also nur darauf, die extremen Auswirkungen instabiler Wirtschaftssysteme vorwegzunehmen."(20)

Nach Hayeks bekannter Theorie fungieren Märkte effizient als Mittler von verstreutem Wissen. Keynes-Biograf Robert Skidelsky hingegen sieht in dem bekannten Buch von George Soros über Kreditkrise Hinweise darauf, dass die Finanzmärkte sich eher gemäß der keynesschen Auffassung denn gemäß der Theorie von Friedrich von Hayek entwickelten.(21)

Hinzutreten weitere Aspekte, wie die als „Finanzialisierung“ (22) angesprochene wachsende Vorherrschaft der Finanzmärkte gegenüber der Realökonomie, welche wir auch schon bei Keynes ausgesprochen finden. Sinn sieht als Hauptursache der Krise nicht irrationales Handeln der Spekulanten, sondern dass Bankiers durch ein vollkommen rationales Geschäftsmodell, das indes auf perversen Anreizen basiert, zu Handlungsweisen angereizt wurden, die gesamtwirtschaftlich zu katastrophalen Auswirkungen führen.(23) Als ein Vertreter des Ordo-Liberalismus sieht Sinn die Lösung in der Ordnungspolitik; letztlich wird damit der Politik die Verantwortung für das Versagen der Märkte zuerkannt. Es verbleibt jedoch in diesem Modelldenken das bekannte Problem des rational handelnden Akteurs (sowohl was die einzelne Regierung wie auch den einzelnen Finanzhändler betrifft) zu lösen, wie dieser bei Aufrechterhaltung seiner auf kurzfristige Nutzenmaximierung zielenden Handlungsorientierung zu einer kollektiven Vereinbarung mit anderen gleichfalls so konstruierten Individuen gelangen soll, welche zwar hinterher allen gemeinsam nutzt, indessen kurzfristig aber auf Kosten der eigenen Zielerreichung geht.(24)

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(1) Chambre des Députés, 31. Sitzung, 1. Juni 2010. Compte rendu des séances publiques No. 13. Session ordinaire 2009-2010. S. 417
(2) 31. Sitzung, 1. Juni 2010. Compte rendu des séances publiques No. 13. Session ordinaire 2009-2010. S. 419
(3) 31. Sitzung, 1. Juni 2010. Compte rendu des séances publiques No. 13. Session ordinaire 2009-2010. S. 426
(4) Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt 1974
(5) "casino capitalism". In: R. J. Barry Jones: Routledge Encyclopedia of International Political Economy. Seite 139
(6) Susan Stange: Casino Capitalism. Blackwell Publishers, Oxford 1986 (Reprint: Manchester University Press, Manchester 1997 ISBN 0719052351
(7) "In addition to the fact that not all economists believe that the wave of capital liberalization is the only source of destabilization of the financial markets, many scholars (particularly those linked to the study of IPE) point out that the process of integration, or GLOBALIZATION, of financial markets has created a very unstable monetary environment, which has even be conceptualized as CASINO CAPITALISM" (capital, control on R. J. Barry Jones: Routledge Encyclopedia of International Political Economy. S. 121.)
(8) "(...) as one important exception to this critique, Susan Stange offered a more Keynesian-derived view, particularly in her discussion of 'casino capitalism'. Her treatment of capital markets as driven less by the efficient analysis of material fundamentals than by self-fulfilling expectations of rising or falling values accords well with Keynes' stress on the social bases of speculative manias. Susan Strange, Casino Capitalism (Manchester: Manchester University Press, 1986)." Wesley Widmaier: The Keynesian Bases of a Constructivist Theory of the International Political Economy. Millennium - Journal of International Studies, Vol. 32, No. 1, 87-107 (2003) DOI: 10.1177/03058298030320010401. S. 90, Anm. 7. / Wesley Widmaier: The Keynesian Bases of a Constructivist Theory of the International Political Economy.
(9) Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist. Ullstein, vollständig aktualisierte 1. Auflage Juni 2010. ISBN 978-3-548-37303-4. Vgl. im Vorwort: "Der Titel dieses Buches erinnert an die Terminologie von Keynes, der von der Gefahr sprach, dass der Kapitalmarkt zum Nebenprodukt eines Kasinos werden könne."
(10) J. M. Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Duncker & Humblot, München/Leipzig 1936; 10. verbesserte Auflage ebd. Berlin 2000, ISBN 3-428-07985-X.
(11) Keynes, Die Allg. Theorie..., Berlin 1974, S. 134
(12) Paul Davidson: Keynes' Serious Monetary Theory
(13) Douglas Vickers: The market: The tyranny of a theoretic construct. In: Philip Arestis, (Hrg.): Employment, Economic Growth and the Tyranny of the Market. Essays in Honour of Paul Davidson: Volume Two. Edgar Elgar Cheltenham, UK, Brookfield, US1996. ISBN 1-85898-313-4. S. 1ff.
(14) Keynes 1936, S. 130f., zit. nach Exkurs 6: Destabilisierende Spekulation und die spezifische Instabilität flexibler Wechselkurse. In: Hansjörg Herr, Klaus Voy: Währungskonkurrenz und Deregulierung der Weltwirtschaft. Entwicklungen und Alternativen der Währungspolitik der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaften (EWS). Metropolis : Marburg 1989. ISBN 3-926570-14-8, S. 74, Anm. 71
(15) Keynes 1936, S. 131. zit. nach Herr/Voy, S. 75, Anm. 72
(16) Robert Pollin: Roots of Capitalist Stability and Instability.
(17) Milton Friedman: The Case for Flexible Exchange Rates. In: Milton Friedman: Essays in Positive Economics. Chicago 1953.
(18) H. G. Johnson: The Case for Flexible Exchange Rates. In: Further Essays in Monetary Economics. London 1972.
(19) Exkurs 6: Destabilisierende Spekulation und die spezifische Instabilität flexibler Wechselkurse. In: Hansjörg Herr, Klaus Voy: Währungskonkurrenz und Deregulierung der Weltwirtschaft. Entwicklungen und Alternativen der Währungspolitik der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaften (EWS). Metropolis : Marburg 1989. ISBN 3-926570-14-8. S. 73 ff.
(20) Sind Spekulanten Störenfriede? In: Der Spiegel, Nr. 42, 12. Oktober 1998. S. 128.
(21) Robert Skidelsky: The Big Bank Fix. 19. Februar 2010
(22) Luiz Carlos Bresser-Pereira: The Global Financial Crisis and a New Capitalism? Levy Economics Institute Working Paper No. 592. Mai 2010
(23) "Da Menschen vergesslich sind und Politiker nur für kurze Laufzeiten gewählt sind, werden die Lobbys der Banken durchsetzen können, dass ihr Geschäftsmodell, das aus Leverage, Haftungsbeschränkung und Risiko Gewinn erzeugt, nicht angetastet wird. Aus politischen Gründen lassen sich die langfristig richtigen Reformen des Bankensystems nur heute, mitten in der Krise, umsetzen. Wer diese Möglichkeit nicht nutzt, vergeudet die Chance, den Kasino-Kapitalismus zu bändigen." Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist. Ullstein, vollständig aktualisierte 1. Auflage Juni 2010. ISBN 978-3-548-37303-4. S. 387
(24) Mancur Lloyd Olson, Jr.: Die Logik des kollektiven Handelns: Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen. 5. Aufl. Mohr Siebeck, Tübingen 2004. (Originalausgabe: The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups 1965) ISBN 3-16-148504-1