Donnerstag, 31. März 2011

Katastrophen-Ökonomie




Georg Zachmann (BRUEGHEL) analysiert die Gemeinsamkeiten der Finanzkrise und der japanischen Nuklearkatastrophe. Seine Thesen im Einzelnen:

(1) In komplexen Systemen sind die Ereigniswahrscheinlichkeiten extrem schwer zu berechnen; umso schwieriger, wenn mehrere Ereignisse gemeinsam auftreten.

Meine Kritik: Der grundlegende Fehler der herrschenden Ökonomie besteht schon darin, sich auf Risikoberechnungen allein zu verlassen. Es gibt Neues in der Geschichte. Auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung setzt wie der herkömmliche „Determinismus“ auf absolute Gleichförmigkeit der kausalen Zusammenhänge. Näheres siehe „Handeln unter Ungewissheit“ („Ergodizität“) bei Paul Davidson.

Die Modell-Methode ist in den Sozialwissenschaften unverzichtbar. Das darf aber nicht zu Modell-Verliebtheit führen (Modellplatonismus), indem von Modellaussagen unmittelbar in die politische Wirklichkeit bei der historischen Umsetzung gesprungen wird. In dieser Anwendungskritik allein enthält Poppers Historizismuskritik einen rationalen Kern. Wenn man in diesem Sinne von Historizismus oder Utopismus sprechen will, so darf sich derlei Kritik nicht allein auf Marxisten beziehen (oder als "ricardian vice" auf David Ricardo), sondern in noch viel höherem Maße auf die herrschenden Ökonomen und deren klaffendem Widerspruch zwischen abstrakter Modellschreinerei und keineswegs wertfreier „Politikberatung“.

So hat zum Beispiel der „Wirtschaftsweise“ Wolfgang Franz derzeit die Option zwischen dem Aufsichtsrat von EnBW und bei Ernst & Young. Die Verstrickung von Wirtschaft und Wissenschaft ist gewiss schön für Franz, aber schlecht für Wissenschaft als die Suche nach der wirklichen Wahrheit. Popper hat Platons Ideal der Philosophen als Könige kritisiert. Wie steht es aber um die ökonomischen "Experten" als Manager und Politiker?!

(2) Die Katastrophe hat eine Schadenskette zur Folge, die nationale Grenzen überschreitet. Der Nutzen einer Schadensvorsorge und –begrenzung stößt jedoch auf nationale Unterschiede, die unterschiedliche Anreizstrukturen zum entschlossenen politischen Handeln bedingen.

Das Problem ist in der ökonomischen Literatur generell bekannt unter „Erstellen eines Kollektivguts“.

(3) Dieselben nationalen Unterschiede in der Verteilung von Nutzen und Schaden erstrecken sich auch auf die Risikobeurteilung der ökonomischen und politischen Akteure.

(4) Die Regulatoren konnten das Risikoereignis nicht verhindern, sei es aufgrund von Informationsproblemen, sei es aufgrund von Machtverhältnissen.

Ein rationales Verfahren im Sinne der herrschenden Ökonomie wäre eine Pflichtversicherung aller beteiligten Investoren, die von dem individuellen Risikoprofil eines jeden Projekts ausgehen würde. Dies würde eine systemimmanente Verbesserung darstellen, aber die grundsätzlichen Bedenken im Hinblick auf die technische Beherrschbarkeit höchst ungewisser Prozesse keineswegs völlig beseitigen.

Of meltdowns and fallouts: What does the financial and the nuclear crises have in common? by Georg Zachmann on 23rd March 2011

Mittwoch, 30. März 2011

Hegel ein Proto-Nazi?!

Cassirer (2007) fällt in dasselbe Genre wie Poppers „Offene Gesellschaft“. Das heißt, es ist eines der zeitgenössischen Bücher, die das Entstehen des Totalitarismus geistesgeschichtlich erklären wollen. Damit teilt Cassirer (2007) dieselbe grundsätzliche Kritik, die man einem rein geistesgeschichtlichen Ansatz in dieser Frage entgegenhalten muss. Eine „Beeinflussung“ von Philosoph zu Philosoph und sodann zu Politiker ist empirisch-wissenschaftlich meist nicht gesichert oder auch nur die Frage des historischen Vorgangs damit erklärt. (Kann man Ideen ideengeschichtlich widerlegen?)

Doch es ist wohl Walter Kaufmann zuzustimmen, der Cassirer (2007) in Gegensatz zu Popper für ein wissenschaftliches Werk hält, das üblichen akademischen Ansprüchen an einen Gelehrten genügt.

Umso gravierender ist dann folgender Einsprengsel, der gar nicht mit Cassirers sonst differenzierter Behandlung Hegels zusammepasst:
„Unlike Novalis, Hegel is not interested in the beauty of the state but in its ‘truth’. And according to him this truth is not a moral one; it is rather ‘the truth which lies in power’. ‘Men are as foolish as to forget […] in their enthusiasm for liberty of conscience and political freedom, the truth which lies in power.” (Die Verfassung Deutschlands, S. 89) These words written in 1801, about 150 years ago, contain the clearest and most ruthless program of fascism that has ever been propounded by any political or philosophic writer.” (S. 264)
Ernst Cassirer: The Myth of the State. Gesammelte Werke, Band 25 (ECW25). Meiner 2007.

Die polemische Charakterisierung Hegels als Proto-Nazi gibt Cassirers Belegstelle weder her, noch steht diese punktuelle Charakterisierung Hegels mit der übrigen Hegel-Darstellung von Cassirer (2007) in Einklang. Sie steht so wenig in Einklang, dass Kaufmann bedenkenlos Cassirer als Antipode der Hegel-Legende anführen kann. Doch hier an der oben zitierten Stelle scheint Cassirer der Legende selbst nachgeben zu wollen, vielleicht ein unbeabsichtigt gezollter Tribut an die Epidemiologie der Hegel-Phobie.

Dass politische Prozesse von der Macht geprägt sind, das ist seit Machiavelli ein Gemeinplatz, und dieses hat Cassirer (2007) selbst am besten herausgearbeitet. An solchen Stellen rächt sich, dass derlei geistesgeschichtliche Betrachtungen keinen historischen oder empirisch-wissenschaftlichen Begriff von Totalitarismus oder Nationalsozialismus haben. Man muss sich vielmehr fragen, ob der geisteswissenschaftliche Ansatz überhaupt geeignete Instrumente bereitstellt, um sich der neuen Wirklichkeit nach 1914 zu nähern.

Es ist bezeichnend, dass Kaufmanns und Cassirers differenzierte Hegel-Lektüre nicht gehindert haben, dass die Hegel-Legende und nicht die differenzierte Hegel-Kritik heute noch verbreitet werden.
„So war auch der Nationalsozialismus eine Überwältigung des Menschen durch politische Mythen. Cassirer sah die Keime hierzu bereits im Nationalismus der Romantik und in den Ideen des Absoluten im Deutschen Idealismus gelegt, insbesondere bei Hegel, der sowohl den Gedanken der Heldenverehrung als auch den Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln goutierte.“
Ernst Cassirer, Wikipedia.de, 30. März 2011.

Es gilt Greshams Gesetz: das Schlechtere setzt sich stets durch.

Popperizismus und Fallibilismus

Eberhard Döring: Karl R. Popper: ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘. UTB 1920. Paderborn 1996. ISBN 3-8252-1920-8.

Döring (1996) behauptet eine Übereinstimmung von Poppers Methodologie (3) mit seiner politischen Theorie. Er kennzeichnet die eine mit Falsifikationismus, die andere mit dem Abwählbarkeitsprinzip (wie bei John Stuart Mills, On Liberty). Das eine hat aber mit dem anderen wenig zu tun; eine Analogie beider Prinzipien kann nur erkennen, wer diese sehen will.

Zudem jedoch, es ist Poppers Methodologie mit "Falsifikationismus" nicht ausreichend beschrieben. Dies gibt dem Popperizismus zu großen Missverständnissen Anlass.(1)

Poppers wahrlich revolutionäre Wissenschaftstheorie zeichnet sich durch Fallibilismus und Theorienpluralismus aus, wie er durch seine Schüler Bartley, Feyerabend und andere weitergeführt wurde.(5)
Ob indes für die Konzeption des Fallibilismus Peirce die Priorität als Entdecker geltend machen könnte, diese Frage mag zurecht als „Professorengezänk“ gelten.

Poppers als Fallibilismus verstandene Methodologie ist im Rahmen des bisherigen Wissenschaftsverständnisses betrachtet dermaßen kontra-induktiv, dass sie auf Anhieb meist missverstanden wird. Und man muss hinzufügen: von Popper selbst in seiner politischen Philosophie nicht mit eigenen Händen methodisch umgesetzt oder gar exemplarisch vorgeführt wird. Popper folgt stattdessen einer Schattenmethodologie, die sich der herkömmlichen Begriffe und Anschauungen bedient. Es wird Poppers Falsifikationismus als Methodologie zu folgen deklariert; praktiziert wird jedoch die herkömmliche Methodologie mit Rechtfertigung von gesicherten Wissensansprüchen oder definitiv falsifizierten Theorien.

Deutlich wird das, wenn man den Begriff des Wissens betrachtet, wie er von Popper und seinem Kommentator Döring (1996) hier verwendet wird. Wenn Döring (1996) von „Wissen“ (bzw. von „wissenschaftlich gesichert“) spricht, so meint er damit wie herkömmlich „gewisses Wissen“, d.h. das in seiner Wahrheit gesichert ist. Gemäß Poppers Fallibilismus ist jedoch alles Wissen, auch wissenschaftliches, konjektural, d.h. hypothetisch. (4) Döring (1996) erkennt die damit verbundene Problematik mitnichten ; er spricht von „Falsifikationismus“ , als ob er eine hierin den herkömmlichen Wegen vergleichbare Methode darstelle, Wissen im Sinne von herkömmlich verstandener Wissenschaft zu produzieren.

Für den Fallibilismus als Erkenntnismethode ist jedoch die Kühnheit in der Aufstellung von Theorien wichtig (also gewissermaßen Spekulation im Hegelschen Sinne! Heute spricht man eher von „brain storming“.) und die anschließende Konfrontation derselben mit kritischen Argumenten. Zur Gewinnung kritischer Alternativen ist Theorienpluralismus gefordert. In seiner politischen Theorie, wenn man Poppers „Offene Gesellschaft“ dafür halten will, tritt Popper jedoch als Theorienmonist auf, der entgegengesetzte Theorien in Schwarzweiß-Manier malt, diffamiert und nach Kräften endgültig (2) widerlegen will. Einen diametraleren Gegensatz zu Fallibilismus und Theorienpluralismus kann man sich schwerlich vorstellen.

Man kann sich nun darüber streiten, inwieweit sich die erkenntnistheoretische Positionen des Fallibilismus und des Theorienpluralismus überhaupt zur Propaganda politischer Überzeugungen eignen. Ein Propagandist, der sich nicht von der Wahrheit der eigenen Ideen überzeugt hält, ist wohl überall ein schlechter Propagandist. Mit einer Ausnahme vielleicht: Wer wie Sokrates intellektuelle Redlichkeit und Bescheidenheit verbreiten will, tut dies am besten mit dem eigenen Vorbild.

(1)
“The problem of demarcation is to find a criterion that permits us to distinguish between statements that belong to the empirical sciences (theories, hypotheses) and other statements, particularly pseudo-scientific, prescientific, and metaphysical statements; but also mathematical statements; but also mathematical and logical statements. The problem of demarcation is to be distinguished from the far more important problem of truth: theories which have been shown to be false - as for example the radiation formulae of Rayleigh-Jeans and of Wien, or Bohr’s atom model of 1913 - can nethertheless retain the character of empirical, scientific hypotheses.

Although, following Tarski, I do not believe that a criterion of truth is possible, I have proposed a criterion of demarcation - the criterion of falsifiability. My proposal was that a statement (a theory, a conjecture) has the status of belonging to the empirical sciences if and only if it is falsifiable.” (S. xix)
(2)
“There are a number of important falsifications which are as ‘definitive’ as general human fallibility permits. Moreover, every falsification may, in its turn, be tested again.” (S. xxiii)
(3)
“I do not regard methodology as an empirical discipline, to be tested, perhaps by the facts of the history of science. It is, rather, a philosophical - a metaphysical - discipline, perhaps partly even a normative proposal. It is largely based on metaphysical realism, and on the logic of the situation: the situation of a scientist probing into the unknown reality behind the appearances, and anxious to learn from mistakes.” (S. xxv)
(4)
“In this sense of the word, ‘knowledge’ always means ‘true and certain knowledge’; and ‘to know’ leans, in addition, to be in possession of sufficient reason for holding that our knowledge is true and certain. But; I said, there was no such thing as scientific knowledge in this sense.” (S. 12)

“On the contrary, measured by the high standards of scientific criticism, ‘scientific knowledge’ always remained sheer guesswork – although guesswork controlled by criticism and experiment. … I ended by saying that merely by recognizing that scientific knowledge consists of guesses or hypotheses, we can solve the problem of induction without having to assume a principle of induction, or any limits to empiricism.

If we assume that what is called ‘scientific knowledge’ consists only of guesses or conjectures, then this assumption is sufficient for solving the problem of induction – called by Kant ‘the problem of Hume’ – without sacrificing empiricism; that is to say, without adopting a principle of induction and ascribing to it a priori validity.” (S. 13).

“We never address ourselves to completely open minds. However open minded an audience may be, they cannot help harbouring, if only subconsciously, connected theories, views, and expectations about the world, and even about the ways in which we learn to know it. They have adopted positions; usually typical positions: ‘isms’.

One of the oldest, more interesting and perhaps more important tasks of philosophy is the critical examination of such ‘positions’ and the theories or views they involve – especially those which are uncritically taken for granted. In doing so it is often found that there are clusters of related views related by common assumptions, by common preferences, or by common dislikes.” (S. 4)

(5)
“Yet I differ from both the sceptic and the irrationalist in offering an unambiguously affirmative solution of another, third, problem, which, though similar to the problem of whether or not we can give valid positive reasons for holding a theory to be true, must be sharply distinguished from it. The third problem is the problem whether one theory is preferable to another – and, if so, why. (I am speaking of a theory’s being preferable in the sense that we think or conjecture that it is a closer approximation to the truth, and that we even have reasons to think or to conjecture that it is so.)

I will call such reasons critical reasons, in order to distinguish them from those positive reasons which are offered with the intention of justifying a theory, or in other words, of justifying the belief in its truth.

But although critical reasons can never justify a theory, they can be used to defend (but not to justify) our preference for it: that is, our deciding to use it, rather than some, or all, of the other theories so far proposed. … Our preferences are ‘justified’ only relative to the present state of our discussion.

… I will now give Bartley’s view of the new problem situation which has arisen. He describes the situation very strikingly by saying that, after having given a negative solution to the classical problem of justification, I have replaced it by the new problem of criticism, a problem for which I offer an affirmative solution.” (S. 20)

Karl Popper: Realism and the Aim of Science. From the Postcript to the Logic of Scientific Discovery. Edited by W. W. Bartley, III. Rowman and Littlefield Totowa, New Jersey.1983. ISBN: 0-8476-7015-5.

Das Elend des Popperizismus

Sonntag, 27. März 2011

Historizismus, wie ihn deutsche Soziologen 1991 begriffen haben

„Es geht nicht nur um die Überprüfung der Anwendungsbedingungen eines bestimmten Modells (z. B. die Erklärung der Organisation einer Revolution als Kollektivgutproblem), sondern – meist – um die Kombination ganz unterschiedlicher Situationstypen (und deren aggregierter Folgen), wobei diese Kombination ‚historisch‘ eher auf ‚Zufall‘ als auf einen ‚ gesetzmäßigen‘ Verlauf insgesamt zurückzuführen ist. Es war wohl der zentrale Irrtum des Historizismus (und analoger makroskopischer Theorien sozialen Wandels), die konkreten Abläufe insgesamt aus einem Modell erklären zu wollen und als eine Art von gigantischem, komplett endogenisierbaren Ablauf zu verstehen, wobei es sich tatsächlich lediglich um die zufällige Kombination ganz verschiedener Abläufe handelt. Einzelne Teil-Prozesse und –Konstellationen lassen sich dann – möglicherweise – im o. a. Sinne modellieren; die gesamte Kombination des empirischen Einzelfalls indessen (in aller Regel) nicht.“

Hartmut Esser, Klaus G. Troitzsch: Einleitung: Probleme der Modellierung sozialer Prozesse. In: Hartmut Esser, Klaus G. Troitzsch: Modellierung sozialer Prozesse. Informationszentrum Sozialwissenschaften, Bonn 1991. ISBN 3-8206-0075-2. ISSN 0934-5469. S. 9-12.

1.) Im Jahre 1991 sind sich demnach geschworene Popperianer anscheinend immer noch nicht sicher, was „Historizismus“ eigentlich genau meint. Es liegt demnach der Verdacht sehr nahe, dass es sich hierbei eher um einen Gummibegriff und polemischen Kampfbegriff handelt als um eine methodologisch taugliche Kategorie.

2.) Die Historizismus-Begriff hatte sich zuvor insbesondere gegen die Erklärung gesamtgesellschaftlicher Entwicklung („Entwicklungsgesetze“; Paul Weisengrün: Die Entwicklungsgesetze der Menschheit. Eine socialphilosophische Studie. Verlag von Otto Wigand, Leipzig 1888.) gerichtet. Nun dürfen und können gesamtgesellschaftliche Prozesse anscheinend wissenschaftlich erklärt werden. Das ist ja gewissermaßen schon ein Fortschritt; wenn man dabei jedoch auch anmerken muss, dass dieser Gummibegriff sich scheinbar dazu eignet, bewegliche Ziele anzugreifen.

3.) Die Unklarheit des Begriffs hängt wohl auch damit zusammen, dass Popper nicht klar seine diesbezügliche Problemstellung umrissen hat, bzw. dabei offensichtlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte: 1. Eine methodologische Frage erörtern; 2. Den Marxismus wissenschaftlich erledigen, indem er ihm eine methodologische Todsünde nachweisen will. Nun ist eine Untersuchung, die beide Zielsetzungen von vornherein kombiniert, nicht mehr unbedingt ergebnisoffen. Argumente und Begriffe müssen sich also notfalls nach der Decke strecken. Dass dennoch Poppers Texte bis heute als „Klassiker“ gelten, beweist nichts weiter, als dass sie bis heute in der wissenschaftlichen Gemeinde einen Bedarf abdecken, und zwar nicht nach einer wissenschaftlich-kritischen Diskussion marxistischer Thesen, sondern nach deren Abhalfterung, d.h. nach dem Ersparnis eines dergleichen kritischen Bemühens. Erkennen lässt sich dies daran, dass Wissenschaftler, die Poppers Texte zitieren, in der Regel dessen Thesen nicht mehr weiter hinterfragen, sondern ihn lediglich dazu benutzen, um scheinbar wissenschaftlich legitimiert die betreffenden Fragen als schon erledigt abzuhaken. Helmut F. Spinner (Helmut F. Spinner, Popper und die Politik. Rekonstruktion und Kritik der Sozial-, Polit- und Geschichtsphilosophie des kritischen Rationalismus. I. Geschlossenheitsprobleme, Bonn 1978 ) hat in diesem Sinne von einem „Jedermanns-Popper“ gesprochen, welcher gerade in der Bundesrepublik eine ideologische Funktion erfüllt hat, zu gewissen Zeiten etwa gegenüber der Studentenbewegung oder innerhalb der SPD gegen aufmüpfige Jungsozialisten.

Poppers Sozialphilosophie, die man in ihrer Vulgärform „Popperizismus“ nennen könnte, bildet nicht nur keine Einheit mit Poppers methodologischer Konzeption (Fallibilismus, Theorienpluralismus, Aussagen sind empirisch, wenn sie durch Beobachtungen falsifiziert werden können), sondern stehen in ihrer populären Anwendungsweise in direktem Gegensatz dazu. Denn der Fallibilismus schließt keinerlei Problemstellungen oder theoretische Lösungsversuche a priori aus, sondern beurteilt sie erst hinterher, d.h. nach der kritischen Prüfung. Der Popperizismus geht jedoch von der Überzeugung aus, dass er präzise Kriterien vorzuweisen habe, wonach bestimmte Ansätze, Theoreme oder methodologische Verfahren von vornherein aus der Wissenschaft auszuschließen seien. Poppers „Demarkationsproblem“ wird im Popperizismus zu einer Ausgrenzungsmetawissenschaft. Daher dessen Beliebtheit beim Publikum. Wie der Popperizismus praktisch zu handhaben ist, hat Popper in seiner Polemik zu Marx und insbesondere Hegel selbst vorgeführt. Popperizismus ist also Poppers „Schattenmethodologie“, und es nimmt wenig wunder, dass Popperizisten Poppers Methodologie nicht zu kennen brauchen, um den Popperizismus einigermaßen getreu und rhetorisch geschickt zu handhaben.

4.) Da für den Popperizismus Popper als Vorbild und Autorität gilt, stellen sich Popperizisten auch nicht die Frage, ob Popper in seiner Marx- oder Hegel-Kritik überhaupt wissenschaftlich sauber gearbeitet hat. Also ob die wenigen Zitate oder Belegstellen, die er dabei beibringt, auch wirklich ordentlich nachweisbar sind und eine ausreichende Rekonstruktion der Problemstellungen und Lösungsansätze der kritisierten Autoren darstellen. Wenn Poppers „Historizismus-Kritik“ tatsächlich eine Marx-Widerlegung darstellen soll, ist nichts weniger gefragt; sogar mehr, sondern nicht nur Marx, sondern auch den Marxismus insgesamt will Popper widerlegt haben. Es genügt demnach nicht, die Widerlegung zu behaupten und von ihrem Erfolg persönlich überzeugt zu sein, sondern dieses Verfahren und sein Ergebnis auch einsichtig zu machen. Freilich gibt es recht viele Leute, die nur an dem Ergebnis interessiert sind, egal wie wissenschaftlich fragwürdig es zustande gekommen sei. Nur der polemische Erfolg eines Beststellers zählt hier; freilich entspricht dies nicht Poppers eigenem Kriterium von Wissenschaft.

Der Popperizismus übersieht auch, dass es sich bei „Dogmatismus“ oder „Pseudowissenschaft“ nicht um (logische) Eigenschaften von Aussagen handelt, sondern um die (pragmatische) Art und Weise, wie bestimmte Personen mit Aussagen (methodologisch) verfahren, also etwa ob sie dieselben mit kritischen Argumenten und Alternativen konfrontieren. Freilich mag es viele Hegelianer oder Marxisten geben, die häufig unkritisch verfahren. Dasselbe darf man freilich auch von den Popperizisten behaupten; denn genau damit sind sie hier definiert, was ihnen als unkritisch angekreidet wird.

5.) Essert/Troitzsch identifizieren also „Historizismus“ mit der Voraussage von Geschichte durch ein einziges Modell. Dies kommt wohl dem Verständnis Poppers von „Prophezeiung“ nahe oder der herkömmlichen Auffassung von Astrologie (vgl. Pierre bayle [Johann Christoph Gottsched (Übers.), Johann Christoph Faber (Hrsg.)]: Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist (= Reclams Universal-Bibliothek, Band 592). Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1975). Es gibt wohl kaum ein Politiker oder Leitartikler, der nicht diesem methodischen Fehler wenn nicht verfallen, so doch nahe gekommen ist. Zweifellos lassen sich auch beim politischen Journalisten und Leitartikler Marx derartige Belegstellen finden. Die Frage im Zusammenhang mit Poppers Marx-Widerlegung ist jedoch, ob Marxens wissenschaftliche Problemstellung, etwa im „Kapital“, sich auf eine derartige futurologische Problemstellung reduzieren lasse. Ist es nicht vielmehr so, dass Marx in der Fortführung von Ricardos Modellierungen, diese indes angereichert um eine dialektische sowie historisch-materialistische (politisch-ökonomische bzw. soziologische) Dimensionen, ein dynamisches Gesellschaftsmodell entwickelt hat, das explizit sich beruft auf eine Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten.

Mit anderen Worten: Marxens Darstellung beginnt eingestandenermaßen mit den Abstraktionsergebnissen (denen unverstandenerweise von Böhm-Bawerk etwa Apriorismus vorgeworfen wurde oder von Joan Robinson funktionsloser Dogmatismus bzw. „hegelian stuff and nonsense“) und bedarf einer zunehmenden Konkretisierung, um empirisch-historische Prozesse annähernd zu erfassen (man vgl. zur methodischen Herangehensweise sinnigerweise Siegwart Lindenberg: Die Methode der abnehmenden Abstraktion: Theoriegesteuerte Analyse und empirischer Gehalt. In: Hartmut Esser, Klaus G. Troitzsch: Modellierung sozialer Prozesse. Informationszentrum Sozialwissenschaften, Bonn 1991. ISBN 3-8206-0075-2. ISSN 0934-5469. S. 29-78. Anscheinend haben sich einige moderne Wissenschaftler dazu entschlossen, selbst von Marx zu lernen; wenn auch nicht immer Marx dabei als Quelle zitiert wird.)

Es ist damit aber zumindest dies offenkundig, dass hier von Prophezeiung nicht die Rede sein kann bzw. nur derjenige eine solche hier erblicken kann, der sich nicht davon befreien kann, in aus Modellen abgeleiteten Aussagen per se historische Voraussagen zu erblicken.

Montag, 7. März 2011

Friedrich Carl Christian Ludwig Büchner, Verfasser von „Kraft und Stoff“



Friedrich Karl Christian Ludwig Büchner wurde geboren in Darmstadt am 29. März 1824 als dritter Sohn des großherzoglichen Physikatsarztes und späteren Obermedicinalraths Dr. Ernst Büchner und als jüngerer Bruder des durch sein Trauerspiel „Danton’s Tod“ berühmt gewordenen und im dreiundzwanzigsten Lebensjahre als politischer Flüchtling und Privatdocent in Zürich verstorbenen Georg Büchner. Nachdem er das Gymnasium seiner Vaterstadt besucht und bei seinem Abgange von demselben am 5. April 1842 im Alter von 18 Jahren in seiner Maturitätsbescheinigung das Zeugnis erhalten hatte: „Inhaber dieses Zeugnisses hat sich durch tiefeindringende literarisch-philosophisch-poetische Studien ausgezeichnet und in seinen stilistischen Productionen ein vorzügliches Talent bekundet“, bezog er die höhere Gewerbeschule zu Darmstadt, um daselbst Physik, Chemie, Botanik und Mineralogie zu studieren, und ein Jahr danach (Frühjahr 1843) die Landesuniversität Gießen, auf der er sich zunächst allgemeinen philosophischen Studien widmete. Auf den Wunsch seines Vaters vertauschte er dieselben jedoch ein Jahr später mit dem speziellen Studium der Medizin, zu einer Zeitperiode, während welcher gerade die neuere, durch Chemie und Mikroskop gestützte und durch Liebig und Bischof vertretene Richtung der Naturwissenschaften und der Medizin die ältere naturphilosophische Schule unter Wilbrand, Ritgen usw. zu verdrängen begann. Neben den medizinischen setzte jedoch Büchner seine philosophischen und ästhetischen Studien unter Hillebrand, Adrian, Carriere und Krönlein fort. Als Student beteiligte er sich lebhaft an den damals in der deutschen Studentenschaft auftauchenden Reformationsbestrebungen und befand sich unter den Gründern und Leitern der in Gießen gestifteten und bald mehrere hundert Mitglieder zählenden Fortschrittsverbindung Alemannia. Nachdem Büchner auch in Straßburg ein halbes Jahr lang medizinische Vorlesungen in französischer Sprache gehört hatte, bestand er im Frühjahre 1848 sein Fakultätsexamen in Gießen „magna cum laude“. Der Sommer dieses stürmischen Jahres teilte sich für ihn zwischen der Abfassung seiner Inauguralabhandlung: „Beiträge zur Hall’schen Lehre von einem excitomotorischen Nervensystem“ (Gießen 1848), sowie der Vorbereitung zu seiner öffentlichen Disputation und der Teilnahme an den politischen Bewegungen der damaligen Zeit. Aus dem „Vorparlament“ in Frankfurt a. M. schrieb er Berichte für ein in Gießen erscheinendes politisches Blatt, war auch bei den zahlreichen, damals in und um Gießen gehaltenen Volksversammlungen sowie bei Errichtung der Bürgerwehr tätig.

Im Herbst 1848 verließ Büchner nach Druck seiner Abhandlung und Bestehung seiner Disputation, in welcher er unter andern den Satz verteidigte: „Die persönliche Seele ist ohne ihr materielles Substrat undenkbar“ – die Universität Gießen, um als Doctor promotus in seine Vaterstadt zurückzukehren. Hier setzte er im Verein mit seinen jüngeren Studien- und Gesinnungsgenossen und anlehnend an die damals in Darmstadt unter Redaktion von Dr. Otto Lüning’s erscheinende „Neue deutsche Zeitung“ seine politischen Bestrebungen auf einem allerdings sehr unsichern Boden fort, bis die Niederschlagung des Aufstandes in Baden aller politischen Agitation ein Ende machte und eine nun folgende schwere Zeit für alle, die sich politisch eifrig gezeigt hatten, begann. Den Nachteilen, welche seine Freunde und Gesinnungsgenossen betrafen, entging Büchner einigermaßen durch seine Stellung als Arzt und dadurch, dass er nicht lange darnach behufs weiterer Berufsausbildung eine Reise nach Würzburg und Wien unternahm, nachdem er noch vorher die Herausgabe der „Nachgelassenen Schriften“ seiner Bruders Georg (Frankfurt 1850) besorgt und die Lebensbeschreibung desselben als Einleitung dazu geschrieben hatte. In Würzburg war es namentlich Virchow, dessen damals mehr und mehr emporkeimender Ruhm ihn fesselte und er zum Teil seine spätere Richtung bestimmte. Nach der Rückkehr von Wien befasste sich Büchner teils mit der ärztlichen Praxis in seiner Vaterstadt, teils nach Wunsch und Anleitung seines Vaters mit der Abfassung gerichtlich-medizinischer Arbeiten und Obergutachten, welche größenteils Aufnahme in die „Vereinte deutsche Zeitschrift für die Staatsarzneikunde“ von Schneider, Schürmayer usw. (Freiburg im Breisgau) und einen solchen Beifall fanden, dass der Verein badischer Ärzte für Förderung der Staatsarzneikunde den Verfasser im Jahre 1855 zu seinem korrespondierenden und Ehrenmitgliede ernannte.

Inzwischen hatte Büchner eine Stellung als Assistenzarzt an der unter Leitung des Professors Rapp stehenden medizinischen Klinik in Tübingen und als Privatdocent daselbst angenommen. Während der drei Jahre, welche er in Tübingen zubrachte, hielt er, abgesehen von den ihm als Hospitalarzt obliegenden Geschäften, besuchte und mit Beifall aufgenommene Vorlesungen über Syphilis, Receptirkunde, physikalische Diagnostik, medizinische Enzyklopädie und gerichtliche Medizin. Die letztere, deren humane Seite Büchner’s Neigung anzog, bildete sein Hauptfach, in welchem er namentlich durch Verwertung der neueren Resultate der Physiologie und pathologischen Anatomie zu wirken suchte. Seine Antrittsvorlesung als Privatdocent über „Das Nachtleben der Seele in Beziehung auf Staatsarzneikunde“ erschien später in der schon genannten badischen Zeitschrift. Ferner lieferte er während dieser Zeit zahlreiche medizinische Aufsätze in die „Deutsche Klinik“, das Virchow’sche „Archiv“, die Prager „Vierteljahresschrift“, Vierordt’s „Archiv“ usw., sowie auch einige naturwissenschaftliche Arbeiten populärer Tendenz in Zeitschriften für allgemeine Bildung. Im Jahre 1854 fand die Versammlung deutscher Naturforscher in Tübingen statt, nach allgemeinem Urteil eine der schönsten und angeregtesten. Büchner schrieb die Berichte über dieselbe für den „Staatsanzeiger für Württemberg“ und für die „Allgemeine Zeitung“. Diese Arbeiten, sowie die Lektüre von Moleschott’s „Kreislauf des Lebens“ gaben ihm die Idee zu seinem so bekannt gewordenen Buche: „Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien“, in welchem er den kühnen Versuch unternahm, die bisherige theologisch-philosophische Weltanschauung auf Grund moderner Naturkenntnis umzugestalten. Tendenz und Art der Darstellung gewannen dem zuerst 1855 (bei Meidinger in Frankfurt a. M.) erschienen Werke eine solche Teilnahme, dass schon nach wenigen Wochen eine neue Auflage veranstaltet werden konnte. Für den Verfasser selbst hatte dasselbe die persönlich unangenehme Folge, dass er seinen Lehrstuhl in Tübingen aufgeben und in die Heimat zurückkehren musste, wo er seine frühere Tätigkeit als praktischer Arzt wieder aufnahm. Das Buch erlebte inzwischen immer neue Auflagen, rief einen wahren Sturm in der Presse und eine große Menge anfeindender Kritiken, wie geharnischter Gegenschriften hervor und verwickelte Büchner in eine Reihe literarischer Streitigkeiten, denen er teils durch die Vorreden zur dritten und vierten Auflage von „Kraft und Stoff“, teils durch Journalartikel zu begegnen suchte, in welchen er außerdem noch andere, seiner Richtung verwandte Gegenstände in den Kreis der Besprechung zog.

In die im Jahre 1856 in Hamburg gegründete Wochenschrift „Jahrhundert“ lieferte Büchner unter andern die Aufsätze: Geschichte der Erde, Licht und Leben, Der Gottesbegriff und seine Bedeutung für die Gegenwart, die Positivisten, Keine spekulative Philosophie mehr, Die Kraft- und Stoffpoesie, Die Unsterblichkeit der Kraft, Professor Schleiden und die Theologen, Erde und Ewigkeit usw.; in die in Leipzig erscheinenden „Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft“ die Aufsätze: Der Kreislauf des Lebens, Erde und Ewigkeit, Aus und über Schopenhauer, Zur Naturlehre des Menschen, Materialismus, Idealismus und Realismus, Zum Seelenleben des neugeborenen, Zur Schöpfungsgeschichte und zur Bestimmung des Menschen, Geist und Körper; in die „Stimmen der Zeit“: Professor Agassiz und die Materialisten, Philosophie, Zur Philosophie der Gegenwart, Die Fortentwickelung des „Freien deutschen Hochstifts“ in Frankfurt a. M., Wille und Naturgesetz, Eine neue Schöpfungstheorie; in die „Gartenlaube“ die populären Abhandlungen: Das Alter des Menschengeschlechtes, Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf ums Dasein, Die organische Stufenleiter oder der Fortschritt des Lebens. Außerdem hatte Büchner einer großen, mitunter aus den entferntesten Winkeln der Erde aus Anlass seiner Schrift ihm zufließenden Korrespondenz zu genügen, welche oft mit den sonderbarsten Anforderungen verbunden war. Übersetzt wurde „Kraft und Stoff“ bisher in das Holländische, Russische und Amerikanisch-Englische. Eine dänische Übersetzung wird veranstaltet von G. Nódskou, und eine französische von L. F. Gamper ist im Erscheinen begriffen.

Anmerkung: Diese französische Ausgabe ist inzwischen bei Thomas in Leipzig erschienen und hat bereits die vierte Auflage erlebt unter dem Titel: „Force et matière. Études populaires d’Histoire etv de Philosophie naturelle etc. Quatr. Édition. Revue et augmentée d’après la neuvième édition allemande. Trad. Nouvelle (1872)“; eine englische Übersetzung von S. F. Collingwood ist 1864 bei Trübner in London erschienen; eine italienische von Stefanoni Luigi in Parma erschien 1867 bei G. Brigola in Mailand; eine spanische von A. Avilés bei Alfonso Düran in Madrid, 1868; eine schwedische 1869 bei G. D. Malmberg in Stockholm; eine polnische von L. Mulsky bei K. Berezowsky in Lember, 1869; eine ungarische von Ludwig Lang u. Genossen in Pest, 1870; eine rumänische von S. Alex. Samourcassi in Bukarest steht bevor oder ist bereits erschienen. Auch sind zwei deutsch-amerikanische Ausgaben erschienen, eine bei Steiger in Newyork, eine bei Th. Thomas in Leipzig.

Im Jahre 1857 veröffentlichte Büchner sodann die Schrift „Natur und Geist oder Gespräche zweier Freunde über den Materialismus und über die realphilosophischen Fragen der Gegenwart“, in welcher er den Versuch unternahm, die beiden in der materialistischen Streitfrage sich bekämpfenden Standpunkte einander gegenüberzustellen und durch einen gegenseitigen Meinungsaustausch die Grenzen zu bestimmen, bis zu denen zur Zeit die menschliche Erkenntnis auf Grund realer Prinzipien vorzuschreiten vermag. Verstimmung über die dadurch hervorgerufenen Missverständnisse und die Erkenntnis, dass die Gesprächsform keine für das große Publikum geeignete sei, ließen den Verfasser das Werk nicht fortsetzen, so dass nur der erste Band (Makrokosmos) vorliegt, der zweite aber, welcher den Mikrokosmos behandeln sollte, fehlt.

Anmerkung: Nichtsdestoweniger ist eine erneute Auflage dieses ersten Bandes nötig geworden und 1865 in der G. Grote’schen Buchhandlung (Hamm), jetzt E. Müller in Berklin, als „zweite verbesserte Auflage“ erschienen.

Nachdem sich der Sturm etwas gelegt, erschienen die späteren Auflagen von „Kraft und Stoff“ ohne weitere Vorreden, und Büchner benutzte seine Zeit wieder mehr zur Fortsetzung seiner fachwissenschaftlichen Studien. Eine Arbeit über Häminkristalle und deren gerichtlich-medizinische Bedeutung, welche in Gemeinschaft mit Dr. Simon in Darmstadt (jetzt Professor in Heidelberg) vollendet wurde, fand in dem Virchow’schen „Archiv“ Veröffentlichung und trug ihm, im Verein mit fortgesetzten gerichtlich-medizinischen Aufsätzen, im November 1860 die Erteilung der silbernen Preis- und Verdienstmedaille von Seiten des badischen staatsärztlichen Vereins ein. Bald darnach ernannte ihn das „Freie deutsche Hochstift“ in Frankfurt a. M., in dessen Sitzungen er mehrere Vorträge gehalten hatte, zu einem seiner Meister und Ehrenmitglieder. Diese, sowie einige im Verein hessischer Ärzte in Darmstadt gehaltene Vorträge gaben in Verbindung mit einigen in Zeitschriften veröffentlichten populärwissenschaftlichen Aufsätzen den größten Teil des Materials für das Buch „Physiologische Bilder“ (Leipzig 1861), von dem der erste (1872 in zweiter Auflage erschienene) Band zum Inhalt hat: das Herz, das Blut, Wärme und Leben, Die Zelle, Luft und Lunge, Das Chloroform; während der zweite (noch nicht erschienene) enthalten wird: Das Gehirn, Die Nerven, Die Seele der Tiere, Die Geschlechter, Die Lebensalter, Der Tod. Die neueste Publikation Büchners, umfassend eine Auswahl der genannten Journalaufsätze und eine Anzahl noch ungedruckter Arbeiten, führt den Titel: „Aus Natur und Wissenschaft. Studien, Kritiken und Abhandlungen. In allgemein verständlicher Darstellung u. s. w.“ (Leipzig 1862). Aus diesen Abhandlungen, welche gewissermaßen eine Erläuterung und Vervollständigung seiner Schrift „Kraft und Stoff“ bilden, sind unter andern hervorzuheben: Die organische Stufenleiter oder der Fortschritt des Lebens, Materialismus und Spiritualismus, Ewigkeit und Entwicklung, Philosophie und Erfahrung, Zur Entstehung der Seele, Physiologische Erbschaften, Instinkt und freier Wille etc.

Im Januar 1860 verheiratete sich Büchner mit einer geborenen Thomas aus Frankfurt a. M. Eine Schwester von ihm ist Louise Büchner, die Verfasserin von „Die Frauen und ihr Beruf“, „Dichterstimmen“, „Aus Heimat und Fremde“, „Schloß Wimmis“, „Weihnachtsmärchen“, „Praktische Versuche zur Lösung der Frauenfrage.“ Ein jüngerer Bruder, Professor Alexander Büchner in Caen, früher in Valenciennes, ist Verfasser der „Geschichte der englischen Poesie“, der „Französischen Literaturbilder“, der Übersetzung von Byron’s „Childe Harold“, der Novelle „Der Wunderknabe von Bristol“ und „Lord Byron’s letzte Liebe“.

Die späteren Auflagen von „Kraft und Stoff“ haben so zahlreiche Zusätze und Bereicherungen erhalten (während zugleich einige frühere, die Konsequenzen vielleicht zu weit verfolgende Stellen weggefallen sind), dass das Werk in seiner gegenwärtigen Gestalt fast als ein neues angesehen werden kann. Noch mehr Licht auf die ganze Richtung werfen die erwähnten, später als selbständige Schrift erschienen Abhandlungen Büchner‘s, indem sie das reiche, inzwischen angesammelte Material nach verschiedenen Stellen hin in gedrängter und übersichtlicher Weise verarbeiten. Das Studium dieser Abhandlungen (sowie auch der „Physiologischen Bilder“, der „Vorlesungen über Darwin“, usw.) dürfte für denjenigen unerlässlich sein, der sich ein weiteres Urteil in der Sache bilden will. Die Literatur, welche „Kraft und Stoff“ teils unmittelbar, teils mittelbar hervorgerufen hat, ist sehr groß, und die dadurch erzeugte Bewegung auf geistigem Gebiete kann epochemachend genannt werden. Eine ruhige und unparteiische Beurteilung wird freilich erst der Zukunft vorbehalten bleiben.

Aus: „Unsere Zeit, Jahrbuch zum Conversationslexikon“, Brockhaus, 1863, 75. Heft oder Bogen 10 – 13 des siebenten Bandes, Seite 199 u. fg.;
Hier entnommen aus: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Zwölfte, vermehrte und verbesserte, mit sechs Vorworten versehene Auflage. Verlag von Theodor Thomas, Leipzig 1872.