Mittwoch, 22. April 2009

Der Erklärungsanspruch der Marxschen Arbeitswerttheorie

„Ökonomische Theorien sterben nicht, sie werden vergessen.“ (Niehans 1989:15)

Doch: “Wer zwingt uns eigentlich, das pseudo-kausale Denken der Neoklassik als die einzig mögliche Form theoretischer Analyse zu deklarieren?” (Albert, 1959:32)

Und wer denkt hier nicht sofort an neoklassische Ökonomen:
„So haben wir es bis zur Gegenwart häufig mit Soziallehren zu tun, in denen Handlungsanweisungen und Werturteile im Gewande von Aussagen über objektive Tatsachen auftreten und Aussagen über die empirische Realität den Anspruch auf den Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis erheben, ohne das Risiko der Widerlegung auf sich zu nehmen, das bei der Erwerbung von Informationen unumgänglich ist. Diese Theorien – oder Pseudotheorien – wollen absolute Wertbegründung, Unwiderlegbarkeit und wissenschaftliche Wahrheit in sich vereinigen.“ (Topitsch 1967b:24)

Als ich 1972 bei Hans Albert meine Diplomarbeit über methodologische Aspekte der Arbeitswerttheorie von Karl Marx schrieb, suchte ich darin nachzuweisen, dass die Arbeitswerttheorie (die ich fortan mit “AWT” abkürzen werde) durchaus als eine empirische Theorie aufgefasst werden könne. Das damals wie vielerorts noch heute vernichtende Urteil der Fachökonomen über die AWT ward etwa von Joan Robinson (1966:22) so auf den Punkt gebracht:

„As I see it, the conflict between Volume I and Volume III is a conflict between mysticism and common sense. In volume III common sense triumphs but must still pay lip-service to mysticism in its verbal formulations.” - “I hope that it will become clear, in the following pages, that no point of substance in Marx’s argument depends upon the labour theory of value. Voltaire remarked that it is possible to kill a flock of sheep by witchcraft if you give them plenty of arsenic at the same time. The sheep, in this figure, may well stand for the complacent insight and bitter hatred of oppression supply the arsenic, while the labour theory of value provide the incantations.”
[Zu Habermas und seiner Gewährsfrau Robinson siehe die Kritik von Wolfgang Müller: Habermas und die Anwendbarkeit der Arbeitswerttheorie. Sozialistische POLITIK, 1. Jg. Nr. 1 April 1969]

Karl R. Popper (1980b:209) verfehlte nicht, sich einer so verbreiteten Ansicht anzuschließen und daraus sogar einen wohlmeinenden Ratschlag für Marxisten abzuleiten:
„Ich halte die Werttheorie Marxens, die gewöhnlich bei den Marxisten sowie bei den Gegnern des Marxismus als ein Eckstein des marxistischen Gebäudes gilt, für einen ziemlich unwichtigen Bestandteil (…) … würde sich die Position des Marxismus nur verbessern, wenn man zeigen könnte, daß sich seine entscheidenden historisch-politischen Lehren völlig unabhängig von einer so umstrittenen Theorie entwickeln lassen.“
M.a.W.: Marxisten sollten aufhören, zu behaupten, was Nicht Marxisten nicht akzeptieren können! (Vielleicht am besten völlig auf ihre „marxistischen Lehren“ bzw. Ketzereien verzichten?!) Im vorliegenden Falle hält Kritischer Rationalist Popper anscheinend die Umstrittenheit einer Theorie für ein Negativkennzeichen, den wissenschaftlichen Fachkonsens hingegen für ein offenkundiges Indiz der Wahrheit einer Theorie. Max Weber [GAWisslehre, UTB 1492, S. 496] indes sprach im Falle solch eines Mainstream-Denkens von einem „Priesterseminar“.

Jürgen Habermas (1968:9f) schloss sich in seiner Ablehnung der AWT der positivistischen Kritik Joan Robinsons an und verwies auf fehlende empirische Forschung:
„Marx hatte seine Krisentheorie aus Grundannahmen der Arbeitswerttheorie abgeleitet. Ich kenne keine empirische Untersuchung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems, die auf einer Anwendung der Arbeitswerttheorie beruht. Deren Geltung müssen wir dahingestellt sein lassen.“

Solch breite Ablehnungsfront hat auch neuere Marxisten dazu gebracht, den erfahrungswissenschaftlichen Erklärungsanspruch Marxens anzuzweifeln – im Übrigen ein bekanntes Vorgehen in der Volkswirtschaftslehre, eine Theorie beizubehalten , selbst wenn hierzu der empirische Informationsgehalt vollends verloren geht.
„Neuerdings scheint sich gerade bei methodisch reflektierten Marxisten die Meinung zu verbreiten, daß es in Marx‘ Intention nicht gelegen habe, empirische Phänomene aus seiner Theorie kausal zu erklären.“ (Eberle, 1973c:363)

Charakteristisch aber für das Vorherrschen konventionalistischer Strategien bis hin zum völligen Aufgeben empirischer Erklärungsabsichten im ökonomischen Mainstream-Denken (die nur Habermas fordert, allerdings gegenüber der AWT!) ist die wissenschaftstheoretische Vorlage von Joachim Weimann (1989:260), der aus der Unbestimmtheit des ökonomischen Untersuchungsgegenstandes einerseits und aus der sozialen Verbindlichkeit heraus von veranstalteter Wissenschaft andererseits wundersamer Weise das neoklassische Paradigma als die erkenntnistheoretisch geforderte Norm für nationalökonomisches Denken sich gebären lässt und somit offen und frei von der Leber weg ausplaudert, was für Mainstream Ökonomen theoretischer business as usual bedeutet:
„Offensichtlich muß die durch spezielle Eigenschaften des Erkenntnisobjekts provozierte Unbestimmtheit von Forschungsgegenstand und –methode durch ein wissenschaftsintern definiertes Regulativ korrigiert werden, und dieses notwendige Regulativ besteht in der Festschreibung eines für die ökonomische Theorie verbindlichen Theoriebegriffs.“ (254)
„Das Kriterium der Wissenschaftlichkeit nicht-empirischer Theorien besteht darin, daß eine solche Theorie eine zulässige Anwendung der paradigmatischen Theorie sein muß.“ (255)
„Gegeben die Voraussetzung, daß es eine wissenschaftliche Gemeinschaft neoklassischer Ökonomen gibt und daß diese mit der allgemeinen Gleichgewichtstheorie über eine paradigmatische Theorie T verfügt, bedarf es als letztes der Unterstellung eines bestimmten Erkenntnisinteresses, bezüglich dessen die in T fixierten Annahmen über Motive rationalen Handelns funktional sind. Ein solches Erkenntnisinteresse könnte darin bestehen, die grundsätzliche Funktionsfähigkeit und die Optimalität dezentraler Allokationssysteme nachzuweisen.“ (260)
[Zur Krypto-Normativität von „Rationalität“ vgl. Gunnar Myrdal und Hans Albert! Entscheidungslogik oder empirische Theorie? Oder Ideologie (vgl. Theodor Geiger)?!]

Weimann entwickelt keine Wissenschaftstheorie, sondern eine Vereinssatzung. Gemäß deutschem Vereinsgesetz könnten sich daneben auch Vereine von marxistischen Ökonomen oder Keynes-Anhängern bilden … Alles zur Pflege des Brauchtums und der Förderung des auserkorenen Theorieparadigmas. Was hat all das aber bloß mit „Wissenschaft“ zu tun?!

„Ökonomische Theorien sterben nicht, sie werden vergessen.“ (Niehans 1989:15)
Jürgen Niehans (1989:4) korrigiert sich aber sofort insofern, dass im Falle der AWT noch nicht einmal vom Sterben einer Theorie gesprochen werden könne. Denn:
„Daß die klassische Nationalökonomie die Arbeitswerttheorie gelehrt habe, gehört ins Reich der Mythologie.“
Denn „klassisch“ ist ja das, was Niehans bzw. der „heutige Stand der Wirtschaftswissenschaft“ dafür hält. So vertritt Niehans nicht nur eine subjektive Ökonomie, sondern auch eine subjektive Erkenntnistheorie: esse est percipi. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Darauf antwortete schon der unverbesserliche Rationalist Spinoza: ignoratio non est argumentum.

Der Definitionstrick ist so einfach wie wirkungsvoll. Niehans‘ Kurzgeschichte der Nationalökonomie enthüllt sich als retrospektive Nabelschau.

Eine retrospektive Theoriengeschichtsschreibung haben sich viele heutige Autoren angewöhnt; zur Kritik These der J. S. Mills einer Kontinuität der klassischen Tradition siehe Bharadwaj 1989, Kap. III; zur Vorgehensweise von S. Hollander, welcher David Ricardo für die Neoklassik zu annektieren versuchte, siehe Bharadwaj 1989, Kap. IV.

„Geschichts-‚Wissenschaft‘ soll die Betrachtung des Jetzt im Spiegel der Vergangenheit sein, oder die Interpretation der Vergangenheit in der Perspektive des Jetzt. Daraus folgt dann, daß die Geschichte vergangener Epochen immer aufs neue wiedergeschrieben werden muß - ein wahrscheinlich von Goethe zum ersten Male ausgesprochener Gedanke.“ [Theodor Geiger: Ideologie und Wahrheit.
Eine soziologische Kritik des Denkens. Luchterhand : Neuwied und Berlin 2. Aufl. 1968. S. 33]

Diese Art retrospektiver Theoriengeschichtsschreibung lässt die „modernen“ (siehe Goethe!) gegenüber der Tatsache blind werden (die zu sehen womöglich eine alternative Theorie erforderlich ist!), dass die klassische Nationalökonomie, wozu die AWT zu rechnen ist, eine völlig andere Problemperspektive sich gestellt hat als die neoklassische Preistheorie (und allgemeine Gleichgewichtstheorie in der Nachfolge von Léon Walras; Negishi 1985:1; Bharadwaj, 1989:1 nennt letztere „DS“ = „demand-and-supply-based equilibrium theories“). Laut Skourtos, 1985: Wie hoch ist der Surplus, der in dem sich reproduzierenden kapitalistischen Wirtschaftssystem geschaffen wird, und wie verteilt er sich zwischen Lohnarbeit, Kapitaleigentümern und Grundbesitzern?

Es ist grundlegend, dass eine Theorie zuvörderst immer als Lösungsversuch auf die Fragen bzw. die Problemstellung hin gelesen werden muss, die sie sich selbst gestellt hat. Das sagt selbst Popper; wenn er das auch bei seinen problematischen Interpretationsversuchen kaum beachtet.

„The classical theory we here refer to had its beginnings in the works of William Petty in England and the Physiocrats in France. It advanced significantly through the contribution of Adam Smith and David Ricardo and found its comprehensive developments through radical reconstructions in Karl Marx. The DSE theories emerged in the third quarter of the nineteenth century, around the 1870s, spearheaded by the writings of Jevons, Menger and Walras. They rose to dominance eclipsing the classical approach not only for reasons of the logical and analytical hurdles the latter theory met with, but also because of the unacceptability of its sharp theoretical positions stressing the conflict-ridden dynamics of capitalist distribution and accumulation. The approach was prematurely abandoned and was superseded even while the logical problems remained insufficiently explored and hence unresolved.” (Bharadwaj, 1989:1)

Daraus erhellt, dass die Rationierung des nationalökonomischen Theorienangebots, wie es die Vertreter von DSE wie etwa Weimann und Niehans nahezulegen scheinen, weder für sehr verbraucherfreundlich noch für eine überzeugende Strategie des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts gehalten werden kann. Ein solcher Erkenntnisfortschritt lässt sich am ehesten erhoffen auf Grundlage einer Methodologie, die sich von den Prinzipien des Fallibilismus und des Theorienpluralismus, d.h. miteinander konkurrierende Theorienalternativen, leiten lässt. Meiner Auffassung nach besteht nämlich die „wissenschaftliche“ Methode darin, dass Theorien durch theoretische und empirische Argumente widerlegt werden, und nicht darin, dass eine Gruppe von wissenschaftlichen Autoritäten darüber befindet, welche Theorien oder Probleme wissenschaftlich „interessieren“ und/oder „modern“ sind.

„… the history of science is studied to develop new theories that are heretical to the current ones.“ (Negishi, 1985:1)

„Modern economics, as practiced by professional scholars, embodies confusions that are fundamental methodological. These have their historical foundations in the failure of economists to establish an effective synthesis between the objective and the subjective theories of value.” (Buchanan, 1987:49)

Albert 1959: Hans Albert: Der logische Charakter der theoretischen Nationalökonomie. Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, 171, 1959
Albert 1980: Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. 4. Aufl. Tübingen 1980
Bharadwaj 1989: Krishna Bharadwaj: Themes in Value and Distribution. Classical Theory Reappraised. London 1989
Buchanan 1987: James M. Buchanan: Economics. Between Predictive Science and Moral Philosophy. Texas 1987
Eberle 1973c: Friedrich Eberle: Bemerkungen zum Erklärungsanspruch der Marxschen Theorie. In: Friedrich Eberle, (Hg.): Aspekte der Marxschen Theorie 1. Zur methodologischen Bedeutung des 3. Bandes des ‚Kapital‘. Frankfurt/M. 1973
Habermas 1968: Jürgen Habermas: Die Linke antwortet Jürgen Habermas. Frankfurt/Main 1968
Myrdal 1965: Gunnar Myrdal: Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft. Hannover 1965
Negishi 1985: Takashi Negishi: Economic theories in a non-Walrasian tradition. Cambridge New York New Rochelle Melbourne Sydney 1985
Niehans 1989: Jürgen Niehans: Thünen-Vorlesung. Klassik als nationalökonomischer Mythos. Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. 109, 1989, S. 1-17
Popper 1980b: Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II: Falsche Propheten – Hegel, Marx und die Folgen. 6. Aufl. München 1980 (zuerst: 1944)
Robinson 1966: Joan Robinson: An Essay on Marxian Economics. 2. Aufl. London, Basingstoke 1966 (zuerst: 1942)
Skourtos 1985: Michalis Skourtos: Der ‘Neoricardianismus’. V. K. Dmitriev und die Kontinuität in der klassischen Tradition. Pfaffenweiler 1985
Spinner 1974: Helmut F. Spinner: Pluralismus als Erkenntnismodell. Frankfurt/M. 1974
Topitsch 1967b: Ernst Topitsch: Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. In: Ernst Topitsch, (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. 4. Aufl. Köln Berlin 1967, S. 17-36
Weimann 1989: Joachim Weimann: Überlegungen zum Theoriebegriff der Wirtschaftswissenschaften. Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. 109(2), 1989, S. 233-264

Montag, 13. April 2009

Hayek

(*1) Friedrich August Hayek: Der Weg zur Knechtschaft (engl.: The Road to Serfdom.). ISBN 3-423-01170-X

(*2) Individualismus und wirtschaftliche Ordnung. Eugen Rentsch Verlag : Erlenbach-Zürich 1952

Eine politische Ideologie wird dem Publikum mit dem Nobelpreis für Wirtschaft angepriesen (siehe Umschlag des DTV-Taschenbuchs, Mai 1976, Umschlaggestaltung: Celestino Piatti). Das ist ein klarer Fall von "Prestigesuggestion":
"Das Akzeptieren von Behauptungen und die Bewertung künstlerischer Produkte hängt vom Prestige der Person ab, der sie zugeschrieben werden (SAADI & FARNSWORTH, 1934; SEARS, 1937)."
[Fritz Heider: Soziale Wahrnehmung und phänomenale Kausalität. In: Martin Irle (Hg.), zusammen mit Mario von Cranach und Hermann Vetter: Texte aus der experimentellen Sozialpsychologie. Luchterhand : 1969. S. 38]

Die passende Bemerkung dazu findet sich bei Platon: „Weil er seine Kunst gründlich erlernt hatte, wollte jeder auch in den andern wichtig­sten Dingen sehr weise sein; und diese ihre Torheit verdeckte jene ihre Weisheit.“ [Platon, Des Sokrates Verteidigung, S. 18]

Woher aber denn Hayeks "bedeutende Rolle"?

Der Nobelpreis, den Hayek reichlich spät zusammen mit Gunnar Myrdal erhalten hat (einem seiner zahlreichen ideologischen Gegner), wird mit bahnbrechenden Leistungen in der Konjunkturtheorie gerechtfertigt. Über letztere ist der wikipedia.de allerdings nur Dürftiges bekannt und liegen vielleicht allzulange zurück. Seine wichtigsten Lehren befinden sich, wie aufgeführt, auf ideologischem Gebiet (anti-sozialistisch, anti-keynesianisch, ...). Und diese werden wie eine Ikone vor Änderungen des Zeitgeistes bewahrt. Dies darf als Indiz gelten, dass Hayeks Rolle in Zusammenhang zu sehen ist mit den bei den Herrschenden herrschenden Ideen, auf Neudeutsch belief systems [Gerhard Lehmbruch: The Institutional Embedding of Market Systems. In: Wolfgang Streeck, Kozo Yamamura: The Origins of Nonliberal Capitalism. Germany and Japan in Comparison. Cornell University Press : Ithaca and London 2001. ISBN 0-8014-3917-5. S. 40f].

Es ist also nicht Machtgier oder Dummheit, worauf Albert Müller verzweifelte Versuche hinauslaufen, zu erklären, warum die Politik in Deutschland oder anderswo immer wieder versagt. Es ist schlicht die eigene Ideologie. Dass man aber mit Moral weder Politik machen noch erklären kann, darauf hat Marx wiederholt aufmerksam gemacht. Die deutschen Bischöfe versuchen sich zwar unverdrossen mit politischem Moralisieren, ist es doch ihr ureigenes Ressort, den Kapitalismus dadurch zu retten, dass sie Kapitalisten an den Ohren ziehen möchten. Das beruhigt ungemein, ist aber auch nur Opium für das Volk. Aber auch diese Droge ist volkswirtschaftlich billiger einzusetzen als Rebellieren zuzulassen und die Kosten für die damit verbundenen Polizeieinsätze zu übernehmen.

Ideologie ist: Werturteile werden für Erkenntnis ausgegeben (Theodor Geiger). Wenn auch Hans Albert bemerkt hat, dass Geigers Ideologie-Konzeption sich selbst widerlegt, so trifft sie hier doch genau den Punkt.

Eine Argumentationsstrategie, deren Rhetorik mit binärer Logik (scheinbar) zwingend voranschreitet, aber überhaupt nichts mit der Wechselwirkung von Ideengeschichte und sozialer Geschichte zu tun hat, wie sie etwa Robert K. Merton in seiner wissenschaftssoziologischen Untersuchungen musterhaft vorgeführt hat). Es ist vielmehr ein praktischer Manichäismus, der Kampf des Lichtes mit der schwärzesten Schwärze des Teufels.

Übrigens Kants streng dogmatischen Demonstrationsweise viel näher verwandt als hegelscher Dialektik, obwohl Vulgärhegelianer auch in diese Schwarz-Weiß-Malerei auf ihren ideologischen Kreuzzügen gerne zurückverfallen (vgl. Poppers Alternativ-Radikalismus). Selbst wenn Hegels Dialektik sich schließlich als von Grund auf gescheitert herausstellen sollte (ein solcher Nachweis ist Popper trotz aller Liebe (ira) mitnichten gelungen; eine bisschen mehr Hegel(studium) hätte vielleicht geholfen), so ist bei Hegel eine Negation immer eine "bestimmte", ein "Aufheben" der positiven Seiten des Widerlegten, ein Fortschreiten, welches auch die Tradition wahrt. Die Ideologen präferieren mit ihrer Scheinlogik das argumentative Steigern der Konflikteskalation: Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein! Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich (d.h. selber ein Terrorist oder Helfershelfer; so die alttestamentarische Bibelweisheit eines G.W. Bush - mit Sicherheit lässt sich der Koran auf dieselbe Weise auslegen.).

Die Warnung vor der "Unausbleiblichkeit des Schrittweisen" [(*2), S. 9] gilt vermutlich nicht der popperschen Stückwerkstechnologie. Oder doch?!

Alternativradikalismus (Hans Albert) ist Erpressung mit einer einzigen (ungeliebten) Alternative (Leszek Kolakowski).

Entweder: Sozialismus=Kommunismus=Stalinismus=Planwirtschaft=Totalitarismus=Faschismus= böse

Oder:
Liberalismus=Marktwirtschaft=Freiheit=Konkurrenz=gut

"Wahrer und falscher Individualismus" [(*2), S. 9ff.]
Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen (Brüder Grimm, Aschenputtel).

Die Guten: John Locke, Bernard Mandeville, David Hume, Josiah Tucker, Adam Ferguson, Adam Smith, Edmund Burke. Tocqueville, Lord Acton.

Die Bösen: frz. Enzyklopädisten, Rousseau, Physiokraten. Saint-Simon etc.

Auguste Comte sei allemal der "Vertreter des Totalitarismus im 19. Jahrhundert" (*1), S. 29

Die Strategie der Diffamierung beruht sozialpsychologisch auf so bekannten Mechanismen wie Stimuluskontiguität, Wahrnehmungskongruität, kognitives Gleichgewicht. Aktuelle Beispiele für derlei Methoden von Volksverhetzung liefert Paul Krugman in seinem Bericht über die US-Republikaner, die z.B. ihren neuen Präsidenten für nichts anderes als "sozialistisch" beschimpfen zu können glauben, usw. [Tea Parties Forever. The New York Times 12.04.2009].

Essentialismus = der "echte" Liberalismus ((*1), S. 20) ist nur der richtige!
Gegenüber dem ideologischen Feind stellt Hayek wie Popper den Nominalismus dem Essentialismus entgegen. Hayeks hausgemachter Essentialismus ist aber vom Feinsten, und zwar sowohl (krypto-)normativ wie dogmatisch: Es gibt nur einen wahren Liberalismus, und welcher das ist, weiß absolut gewiss F.A. Hayek! Diskussion überflüssig.

Dennoch, man muss ja flexibel bleiben (Nichts geht über den praktischen Nutzen einer Leerformel!):
"Die Grundsätze des Liberalismus enthalten keine Elemente, die ihn zu einem starren Dogma machten, und es gibt keine strenge Regeln, die ein für allemal festständen." (*1), S. 30
...
Es besteht im besonderen ein himmelweiter Unterschied zwischen der bewußten Schaffung eines Systems, in dem die freie Konkurrenz sich mit dem denkbar größten Nutzen auswirken wird, und dem passiven Sichabfinden mit den nun einmal bestehenden Einrichtungen. Nichts dürfte der Sache des Liberalismus mehr geschadet haben wie das starre Festhalten einiger seiner Anhänger an gewissen groben Faustregeln, vor allem an dem Prinzip des Laissez-faire."
> Wo sind hierfür die Abgrenzungskriterien?

Feststellbar ist eine reaktionäre Verklärung der Zeiten des aufkommenden Bürgertums:
Toleranz ((*1), S. 27); aufblühender Handel; Gewerbefreiheit ((*1), S. 28)
> Die Ideologie der kleinen Warenproduzenten wird projiziert auf eine völlig anders gestaltete sozio-ökonomische Wirklichkeit.

Hayek schablonisiert seinerzeit progressive bürgerliche Theorien mit gegenrevolutionären (bezogen auf die Französische Revolution) Theorien der Gegenaufklärung ("Grenzen der Vernunft") und des Traditionalismus (vgl. Herbert Marcuse: Ideengeschichtlicher Teil. In: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut for Sozialforschung. Librairie Félix Alcan. Paris 1936. S. 136 ff.). Wenn man Vorläufer des Totalitarismus sucht, dann liegen solche reaktionären Theoretiker, die die Ergebnisse der Französischen Revolution zurückzurollen versuchten, noch am nächsten; eher Haller denn Hegel. "Nicht die durch menschliche Einsicht erarbeitete Wahrheit, sondern der Glaube ist das erhaltende Prinzip in Staat und Gesellschaft: Vorurteil, Aberglaube, Religion, Tradition werden als die wesentlichen gesellschaftlichen Tugenden des Menschen gefeiert." (Marcuse, S. 193) Marcuse sieht die grundlegenden Widersprüche des "kapitalistischen Geistes" schon in den nach Max Weber einschlägigen Vorläufern Luther und Calvin am Werke.

"Während dieser ganzen Neuzeit der europäischen Geschichte verlief die soziale Entwicklung in der allgemeinen Richtung auf eine Befreiung des Individuums von den Fesseln, die seine Bewegungsfreiheit im täglichen Leben in bestimmter Weise eingeengt hatten. Die Erkenntnis, daß die spontane und ungelenkte Betätigung von Einzelwesen ein verwickeltes und geordnetes System von Wirtschaftsakten hervorzubringen vermochte, konnte sich erst einstellen, nachdem diese Entwicklung einen bestimmten Punkt erreicht hatte. Wenn man hinterher daranging, die Wirtschaftsfreiheit systematisch zu begründen, so war das der freien Entfaltung des Wirtschaftslebens zu verdanken, die ein unbeabsichtigtes und unerwartetes Nebenprodukt der politischen Freiheit gewesen war." (*1), S. 28
> Idylle der Spontaneität!

"Die Entwicklungstendenz zum Monopolismus und zur Planwirtschaft ist nicht das Resultat irgendwelcher 'objektiver Gegegenheiten', auf die wir keinen Einfluss haben, sondern von Ansichten, die ein halbes Jahrhundert lang begünstigt und propagiert wurden, bis sie schließlich für unsere gesamte Politik bestimmend geworden sind." (*1), S. 55
> = politischer Voluntarismus. Wer indes ist "wir"? Der einfache Wähler? Die herrschende Klasse bzw. Machtelite?

Konkurrenz ist eine Utopie. Das impliziert dieses Motto:
"Unser Programm beruht auf dem Grundgedanken, daß das System der freien Konkurrenz in unserer Generation nicht versagt hat, sondern daß es eigentlich noch gar nicht versucht worden ist." (F.D. Roosevelt) (*1), S. 23

Dass die neoklassische Ökonomie nichts mit der Realität im Diesseits zu tun hat, wenn nicht als ideologische Verdrehung, ergibt sich aus der hilflosen Reaktion auf die gegenwärtige Wirtschaftskrise (vgl. jetzt die Kapitulationserklärung des DIW, welche im Grunde ein offenes und ehrliches Eingeständnis des eigenen wissenschaftlichen Versagens ist). Max Weber sprach völlig adäquat ausgedrückt von einem "Priesterseminar", zu welchem eine Mainstream Doktrin verkommt, sobald theoretische Alternativen aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden.

"Zwar finden im jetzigen Augenblick die verschiedenen Ideale ihre Verkörperung in den feindlichen Nationen, die um ihre Existenz ringen, aber wir dürfen nicht vergessen, daß dieser Konflikt aus einem Kampf der Ideen innerhalb einer noch vor kurzem einheitlichen europäischen Kultur entstanden ist und daß die Tendenzen, die in der Schaffung der totalitären System gipfelten, nicht auf die Länder beschränkt waren, die ihnen erlegen sind." (*1), S. 24

vgl. Popper: war of ideas; neuerdings heißt dies: clash of civilizations.
Ideologen führen Konflikte auf ideologische Divergenzen zurück (vgl. Marxens Kritik an der deutschen Ideologie, welche geradewegs der theologischen Religionskritik entsprungen war). Dass Ideen der entscheidende Faktor der Weltgeschichte sind, ist die Berufsideologie der Berufsideologen. Dieser ökonomisch nicht immer unpraktische Idealismus gründet auf der Mission der Ideologen innerhalb der psychologischen Kriegführung (Kalter Krieg). Konflikte leben von denen, die von den Konflikten leben.

Diversion des Gegners, Demoralisierung; Stärkung der eigenen Kampfmoral (vgl. Fichtes Reden an die deutsche Nation, nach der Niederlage der deutschen Kleinfürsten gegen Napeoleon!). Frontlinien werden gezogen. Feindbilder müssen erst einmal sinnfällig konstruiert werden, bevor sie erfolgreich und massenwirksam in Umlauf gebracht werden können.

"Nicht nur ein Erfolg oder ein Mißerfolg als solcher, sondern vor allem das Erlebnis der Zugehörigkeit dieser Wirkungen zur eigenen Person, die Tatsache, daß die Leistung als der Ausdruck des eigenen Wertes betrachtet wird, ist von dynamischer Bedeutung.
...
Eine der Methoden, die Moral zu heben, ist, die Struktur des Feldes so zu ändern, daß eine Niederlage nicht der eigenen Minderwertigkeit zugeschrieben werden muß. Niederlagen demoralisieren eine Nation oder eine Person nur dann, wenn ihre Ursache der eigenen Schwäche zugeschrieben wird; wenn man die Schuld dagegen einem 'Dolchstoß in den Rücken' oder einem anderen Faktor, der das Verhältnis der eigenen Macht zu der des Gegners nicht betrifft, zuschreiben kann, wird die Selbstbewertung, auf der die Moral basiert, nicht betroffen."
[Fritz Heider: Soziale Wahrnehmung und phänomenale Kausalität. In: Martin Irle (Hg.), zusammen mit Mario von Cranach und Hermann Vetter: Texte aus der experimentellen Sozialpsychologie. Luchterhand : 1969. S. 44]

Das ist die Funktion von Ideologie: Die Wahrnehmung zu strukturieren, den Kampfgeist der eigenen Truppe zu heben und die politische Schlagkraft herzustellen. Wenn das keine Leistung ist!

Darin wird die zu diesem Glauben Bekehrten auch eine Wirtschaftskrise nicht erschüttern. Zumal die Gewinner der Krise noch am wenigsten Ursache haben, an ihrem Glauben zu zweifeln.

spontan

Spontanität ist angeblich eine Charaktereigenschaft.

Im wirklichen Leben jedoch wird Spontanität dem Handelnden von den Mitmenschen durch Prozesse der sozialen Wahrnehmung zugeschrieben. Es hängt von der Zuschreibung des Beobachters ab, ob er den Ursprung des Handelns in dem Handelnden selbst bzw. dessen Charakter sieht oder in der Umgebung des Handelnden. Der Sozialpsychologe Fritz Heider fasst dieses Problem unter dem Titel "phänomenale Kausalität".

"Wenn wir ein in Bewegung befindliches Objekt A sehen, können wir diese Bewegung entweder A selbst oder einem anderen Objekt B zuschreiben. Im ersten Fall sehen wir die Bewegung als spontane Aktivität von A, im zweiten Fall als passive, von B herbeigeführte Bewegung. Wenn wir ein unangenehmes oder ein angenehmes Erlebnis haben, können wir seinen Ursprung in uns selbst, in einer anderen Person oder in unserem Schicksal sehen."

[Fritz Heider: Soziale Wahrnehmung und phänomenale Kausalität. In: Martin Irle (Hg.), zusammen mit Mario von Cranach und Hermann Vetter: Texte aus der experimentellen Sozialpsychologie. Luchterhand : 1969. S. 26]

Ob ein "Volksaufstand" "spontan" erscheint, hängt vom Betrachter ab. Und ggf., wie eine politische Inszenierung derartiger "Events" in den Massenmedien präsentiert wird. Geläufig sind die Straßenbefragungen durch Fernsehreporter, anscheinend, um dem Volk aufs Maul zu schauen. Von Repräsentativität im Sinne der statistischen Stichprobentheorie mit Sicherheit meilenweit entfernt.

Bei den US-Republikanern schon längstens beliebt sind in Erinnerung an die Boston Tea Party Remakes dieses historischen Anti-Steuer-Events. Anders als Theodor Heuß, der 1932 in seiner Hitler-Biografie die Gefährlichkeit des kommenden Diktators entsetzlich unterschätzt hat, erkennt Paul Krugman in seinem Kolumnenbeitrag nicht nur die lächerliche Seite der Aufführung der Republikaner.

"Last but not least: it turns out that the tea parties don’t represent a spontaneous outpouring of public sentiment. They’re AstroTurf (fake grass roots) events, manufactured by the usual suspects. In particular, a key role is being played by FreedomWorks, an organization run by Richard Armey, the former House majority leader, and supported by the usual group of right-wing billionaires. And the parties are, of course, being promoted heavily by Fox News.
But that’s nothing new, and AstroTurf has worked well for Republicans in the past. The most notable example was the “spontaneous” riot back in 2000 — actually orchestrated by G.O.P. strategists — that shut down the presidential vote recount in Florida’s Miami-Dade County."
[Paul Krugman: Tea Parties Forever. The New York Times 12.04.2009]