Freitag, 10. Juni 2011

Dienstag, 7. Juni 2011

Historizismus


Im Jahre 1913 notierte W. I. Lenin, dass J. Segond,(1) in einer Rezension eines Werkes von Antonio Aliotta (2) die Philosophen Rickert, Croce, Münsterberg und Royce zur Richtung des „Historizismus“ zusammengefasst hatte.(3) Außerhalb Deutschlands werden „Historismus“ und „Historizismus“ oft nicht unterschieden, in der deutschen Tradition sehr wohl.(4)

Hans Albert zum Beispiel reservierte mit guten geistesgeschichtlichen Gründen den Begriff „Historismus“ für die Richtung, die in Gegensatz zu den sog. „nomothetischen“ (5) Wissenschaften in der Geschichtswissenschaft keinerlei theoretische Erkenntnis suchte. Während „Historismus“ bei Albert also einen Verzicht auf theoretische Erklärung kennzeichnet, so ist der Begriff des „Historizismus“ von Karl Popper gerade im Gegenteil gegen die Zielsetzung nomologischer Erkenntnis über den Geschichtsprozess gerichtet.
„Die Grundsätze des Historizismus – daß es die Aufgabe der Sozialwissenschaften ist, historische Prophetien hervorzubringen, und daß diese historischen Prophetien für jede rationale Theorie erforderlich sind – sind heute aktuell, da sie einen sehr wichtigen Bestandteil jener Philosophie bilden, die sich selbst gern als ‚Wissenschaftlichen Sozialismus‘ oder ‚Marxismus‘ zu bezeichnen beliebt.“ (6)
Karl Popper will demzufolge den Historizismus und dabei gleichzeitig den Marxismus kritisieren, weil sie seiner Auffassung nach Prophezeiungen für nötig hielten und diese auch zu liefern anstrebten. Dabei behauptet Popper, er wolle seriös vorgehen, treibt aber sogleich mit dem Leser ein Verwechslungsspiel in der Art von Shakespeares Sommernachtstraum, indem er sich bei seiner Kritik nicht auf bestimmte Autoren mit sorgfältig belegten Textstellen bezieht, sondern einen Ismus samt dazugehörigen Neologismus konstruiert. Dem Leser bleibt überlassen, für sich selbst herauszufinden, was dieser Ismus eigentlich bedeute und ob das, was Popper über diesen Ismus behauptet, konsistent sei oder vielmehr in sich inkonsistent sowie dann mit dem übereinstimme, was Popper bei anderen Autoren behauptet gefunden zu haben.

Es ist daher im ersten Schritt einmal zu inventarisieren, was uns an Thesen über Poppers Historizismus in seinem Vortrag aus dem Jahre 1949 alles so begegnet, dem Jahre, da die Menschheit wieder einmal in eine „tödliche Gefahr“ „hineingetaumelt“ sei und Popper sich verantwortungsvoll dem „Gebot der Stunde“ stellt, so salbungsvoll wie unheilsschwanger der Original-Orakelton Popper.(7) (Der Redner hat noch selten eine weltpolitische Katastrophe verschmäht, um auf die Aktualität seines eigenen schicksalhaften Kampfes mit dem Marxismus hinzuweisen. Wer selbst keine Werbung für sich macht, wer dann?)

(a) Eine zentrale Idee des Historizismus sei, dass „die Voraussage von Revolutionen ebenso gut möglich sein müsse wie die Voraussage von Sonnenfinsternissen“. (8)
(b) Die Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht ebenso wie der Naturwissenschaften darin, Prognosen aufzustellen; insbesondere Prognosen über die soziale und politische Entwicklung der Menschheit.
(c) „Sobald solche Prognosen einmal aufgestellt sind, kann man die Aufgabe der Politik festlegen.“ (9)
(d) Der Weltgeschichte liege ein göttlicher Plan (Vorsehung) zugrunde; es gebe zur Mitwirkung hierzu ein auserwähltes Volk.
(e) Die enge Verbindung zwischen Astronomie und Historizismus werde in der Astrologie sichtbar. (10)
(f) Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Prognose, die stets bedingt sei, sei eine Prophezeiung (im Sinne des Historizismus) (notwendigerweise) unbedingt.

Ein kurzer Blick über die Thesen (a) bis (f) zeigt, dass sie zwar vielerlei Berührungspunkte untereinander aufzuweisen scheinen, dass sie sich aber dennoch auf grundsätzlich verschiedene Dinge oder Sachgebiete beziehen, nämlich auf Astronomie, auf Sozialgeschichte, auf politische Gestaltungsaufgaben, auf Heilslehren sowie auf Astrologie. Schließlich soll u. a. hier auch noch (außer dem Alten Testament mit seinen Propheten) die Theorien von Platon, Hegel, Comte, Marx und John Stuart Mill im Bunde sein. Popper mag mit seinem Begriff von „Historizismus“ vielleicht Plan und Absicht verfolgen, selbst eine allumfassende Geschichtsphilosophie zu liefern; den zwischen den genannten Aspekten existenten gemeinsamen Begriffsinhalt aufzuzeigen ist ihm aber mit einer solchen Aufreihung noch keinesfalls gelungen. Wie denn auch, da er sich nur auf Unterstellungen angibt, nicht aber Nachweise der Sache bei den genannten Autoren. Es reicht insbesondere nicht aus, rhetorisch eine Äquivokation zu benutzen und etwa beim Marxismus wie im Alten Testament von „Prophezeiung“ oder von „Astrologie“ zu reden.

Popper bezieht sich hilfsweise dann noch auf die anderen zwei von ihm bekannten „sozialphilosophischen“ Schriften. Folgende Fragestellungen werden aber von Popper in der „Problemexposition“ seines Vortrags ziemlich wirr durcheinander geworfen:
1. eine philosophische Deutung von Geschichte
2. Annahme von Gesetzmäßigkeit in der Geschichte (11)
3. der Begriff der "Entwicklung" (Organismus-Analogie; bei Aristoteles „Entelechie“)
4. die Zielsetzung der Voraussage
5. die Ableitung politischer Handlungsanleitungen.

Schon bei der begrifflichen Bestimmung der Standpunkte, die Popper zu widerlegen unter-nimmt, fällt auf, dass sein Begriff für seine Erkenntnisabsichten nicht trennscharf genug ist, sondern eher eine Äquivokation darstellt, d. h. ein und dasselbe Wort wird mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Dies erlaubt es auf unmerkliche Weise, zwischen verschiedenen Fragen hin- und herzuwechseln, und dabei das, was an einer Stelle bewiesen zu sein scheint, auf andere Stellen zu beziehen, wo dies alles andere als bewiesen ist. Ein solches Begriffsragout mag agitatorisch äußerst zweckmäßig sein, aber nicht dazu, uns auf dem sichersten Weg in der Erkenntnis voranzubringen. Popper ist natürlich listig genug, diesen grundlegenden Einwand gegen seine rhetorische Methode vorauszusehen, und wehrt ihn ab. Das heißt aber nicht, dass sein wirkliches Vorgehen genau darauf aufbaut – was selbst einige Popper-Schüler später, meist nach dem Ende Schülerschaft, nicht anstanden zu beanstanden.

Poppers Abhandlung von „Prognose“ und „Prophezeiung“ erfüllt eine Doppelfunktion: 1. geht es ihm um wissenschaftliche Methodologie,(12) 2. um Ideologiekritik im Sinne von „Aufklärung“.(13) Diese doppelte Art von Zielsetzung ist jedoch alles andere als frei von einem Zielkonflikt.

Denn die Ideologiekritik erfolgt keineswegs ergebnisoffen, sondern ist von vornherein darauf festgelegt, den Marxismus zu desavouieren. Nur so ist es zu verstehen, dass Popper nicht den gewöhnlichen Gang einschlägt, zuerst die Theorie mit ihrer Problemstellung zu rekonstruieren und sodann zu prüfen, was haltbar und nicht haltbar ist. Er geht vielmehr anders vor: Er konstatiert, dass der rationale Kern des Marxismus in seiner Irrationalität liege; wenn jedoch der historizistische Kern des Marxismus zerstört sei, sei auch der wissenschaftliche Anspruch des Marxismus vernichtet.(14) Poppers Ausgangspunkt hierbei ist damit aber selbst höchst irrational, denn der rationale Kern einer Theorie kann nicht in deren Irrationalität liegen. Hier hat sich Popper selbst in den Holzwegen des von ihm verdammten absoluten Idealismus vergaloppiert: wo die Vernunft aufhört, wird als Grenzbegriff das Absolute als das Irrationale postuliert und zur Grundlage des Rationalen gemacht.

Die Exposition der Methodologie von „Prognose“ ist keinesfalls unabhängig vom Ziel der Ideologiekritik. Denn mit seiner Definition von „Wissenschaft“ grenzt Popper alternative Wissenschaftskonzeptionen per fiat aus (etwa eine „Revolutionswissenschaft“). So ist auch die Gegenüberstellung von „Prognose“ und „Prophezeiung“ nicht aus reiner Methodologie heraus zu rechtfertigen. Aus Poppers Methodologie ergibt sich lediglich eine rationale Rekonstruktion der logischen Grundlage des Verfahrens einer wissenschaftlichen Prognose und darin negativ impliziert der Ausschluss von Verfahren, die diese Kriterien gar nicht oder nur unvollständig erfüllen. Keineswegs ist die Residualkategorie „Nicht-Prognose“ begriffslogisch damit identisch, was Popper oder andere bislang (mit Sicherheit unabhängig davon) unter „Prophezeiung“ verstanden haben. „Prophezeiung“ ist ein religionsgeschichtlicher Begriff, der gemeinhin auf das Alte Testament zurückgeführt wird. Später wurde es üblich, diesen Begriff in polemisch abwertender Weise und in ideologiekritischer Absicht zu verwenden, was jedoch keineswegs die Ableitung hergibt, dass dieser polemisch-ideologiekritische Begriff der „Prophezeiung“ von Umfang und Bedeutungsinhalt identisch sei mit dem logischen Gegenteil des popperschen Begriffs von „Prognose“. Da diese ideologisch instrumentalisierte Ideologiekritik Poppers methodologische Analyse unnötig einschränkt, aber zudem mit dem positiven Bekenntnis zu einem historischen Individuum, nämlich zur „offenen Gesellschaft des Westens“,(15) verbunden auftritt, muss bei Popper auf eine „Gegenideologie“ geschlossen werden. Methodologie wird so bei Popper zu einer Identität von geglaubter und praktisch angewandter Ideologie, welche sich in der Tat vor allem gegen alternative Positionen in Politik und Wissenschaftstheorie kehrt.

Auf Grundlage einer derart popperschen Dämonologie des Historizismus erscheint es indes psychologisch nachvollziehbar, dass Poppers Leitfaden nicht die Theoriekritik und Theoriekonstruktion ist, sondern dass er der Reihe nach die unterschiedlichsten, wenn auch disparaten Argumente zu finden sucht, um den Feind einzukreisen und möglichst wissenschaftlich und/oder ideologisch zu treffen. Nachdem er anfänglich geglaubt hatte, ihm sei dies zur Zufriedenheit gelungen, hat er schließlich im Vorwort zu seiner eigenen „wissenschaftlichen“ Schrift „Das Elend des Historizismus“ noch einen „definitiven Beweis“ nachgeschoben. Wenn dieser Beweis gelungen wäre, so könnten wir uns also viel Mühe und Zeit sparen und bräuchten Poppers andere Argumente nicht mehr so genau zur Kenntnis zu nehmen. Es sei daher mit diesem Beweis zuerst begonnen. Die anderen mit Poppers Argumenten angeschnittenen Themenkomplexe folgen daran im Anschluss.


(1) Wir wissen nicht, was wir noch wissen werden

(2) Prognose

(3) Utopismus

(3) Vorsehungsglaube und Teleologie

(4) self-fulfilling prophecy

(5) Revolutionsprognosen

Anmerkungen

(1) J. Segond: Review in Revue Philosophique, Ribot, Paris 1912, Nr. 12, S. 644-646.
(2) Antonio Aliotta: La reazione idealistica contro la sicenzia. Casa editrice Optima, Palermo 1912.
(3) W. I. Lenin, Werke, Bd. 38. Philosophical Notebooks. Foreign Languages Publishing House, Moskau 1961. S. 401.
(4) Manfred Riedel: Historizismus und Kritizismus. Kants Streit mit Georg Forster und Johann Gottfried Herder. http://www.deepdyve.com/lp/de-gruyter/historizismus-und-kritizismus-kants-streit-mit-g-forster-und-j-g-f8mOh502rN
(5) Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. Straßburg: Heitz, 3. Auflage 1904. / Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 7. Aufl. 1988 (zuerst: 1922). S. 3ff.
(6) Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln Berlin 1965. S. 113ff. (Prediction and prophecy in the social sciences. Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy, Bd. I, Amsterdam 1949, S. 82ff. Wiederabgedruckt in Karl R. Popper: Conjecture and Refutations. Routledge and Kegan Paul, London 1963; übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel). S. 113.
(7) Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln Berlin 1965. S. 113ff. (Prediction and prophecy in the social sciences. Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy, Bd. I, Amsterdam 1949, S. 82ff. Wiederabgedruckt in Karl R. Popper: Conjecture and Refutations. Routledge and Kegan Paul, London 1963; übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel). S. 114.
(8) Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln Berlin 1965. S. 113ff. (Prediction and prophecy in the social sciences. Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy, Bd. I, Amsterdam 1949, S. 82ff. Wiederabgedruckt in Karl R. Popper: Conjecture and Refutations. Routledge and Kegan Paul, London 1963; übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel). S. 115.
(9) „Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist - und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen -, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern." (Karl Marx: MEW 23:15f.)
(10) Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln Berlin 1965. S. 113ff. (Prediction and prophecy in the social sciences. Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy, Bd. I, Amsterdam 1949, S. 82ff. Wiederabgedruckt in Karl R. Popper: Conjecture and Refutations. Routledge and Kegan Paul, London 1963; übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel). S. 116.
(11) „Für die holistische Sozialplanung der Utopie müßten Voraussetzungen historischer Gesetzmäßigkeit erfüllt sein, die einer rationalen Kritik nicht standzuhalten vermögen. Die Antizipation einer offenen Zukunft ist durch keine vernünftige Methode zu leisten.“ (Eberhard Döring: Karl R. Popper: ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘. UTB 1920. Paderborn 1996. ISBN 3-8252-1920-8. S. 87.)
(12) „Fragen der Methodologie richten sich darauf, wie solche Sprachspiele beschaffen sein müssen, um für ihren Zweck brauchbar zu sein.“ (Hans Albert: Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften (zuerst: 1957). In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln Berlin 4. Aufl.1967. S. 126.)
(13) „Die Funktion der Ideologien besteht nicht in der Erklärung bestimmter Vorgänge, sondern in ihrer Rechtfertigung, nicht in der Vorhersage bestimmter Handlungskonsequenzen, sondern in der Vorentscheidung von Handlungen, nicht in der Beschreibung von Ereignissen, sondern in ihrer Bewertung.“ (Hans Albert: Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften (zuerst: 1957). In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln Berlin 4. Aufl.1967. S. 127.)
(14) „Die Aufgabe der historizistischen Doktrin zerstört den Marxismus vollständig, soweit es um seine wissenschaftlichen Ansprüche geht.“ (Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln Berlin 1965. S. 113ff. (Prediction and prophecy in the social sciences. Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy, Bd. I, Amsterdam 1949, S. 82ff. Wiederabgedruckt in Karl R. Popper: Conjecture and Refutations. Routledge and Kegan Paul, London 1963; übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel). S. 121.)
(15) Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1: Der Zauber Platons. München 6. Aufl. 1980 (zuerst: 1944). S. XIV.

Prognose

Wir wissen nicht, was wir noch wissen werden


Ob praktisch brauchbare Prognosen faktisch möglich sind, ist eine Frage, die zusammen von empirischer Wissenschaft und technischer Praxis beantwortet werden muss. Methodologische Betrachtungen allein reichen zur Beantwortung dieser Frage nicht aus. Vor allem existiert kein gültiger logischer Beweis, dass bestimmte zukünftige Ereignisse, z.B. das Eintreten prognostizierter Resultate, nicht eintreten können. Genau dies hatte Karl Popper aber zu beweisen unternommen.
Otto Neurath hat die folgende grundlegende Grenze für Prognose darin gesehen:
"Prognostizieren, was Einstein für Berechnungen machen werde, hieße selbst Einstein sein. (...) Hier ist eine wesentliche Grenze aller soziologischen Prognosen gegeben. Es ist die Grenze der persönlichen Erfindungskraft gegenüber der Erfindungschance der jeweils beschriebenen Gruppe." (1)
Unter anderem dienten Max Horkheimer diese Ausführungen Neuraths als Angriffsfläche für seine Positivismuskritik.(2) Eben dasselbe Argument hat später Popper neuerdings systematisch ausgebaut:
„Mittlerweile ist es mir gelungen, eine strenge Widerlegung des Historizismus anzugeben: Ich habe gezeigt, dass es uns aus streng logischen Gründen unmöglich ist, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorherzusagen. (...) Mein Gedankengang lässt sich in den folgenden fünf Sätzen zusammenfassen:

(1) Der Ablauf der menschlichen Geschichte wird durch das Anwachsen des menschlichen Wissens stark beeinflusst. (...)

(2) Wir kön¬nen mit rational-wissenschaftlichen Methoden das zukünftige Anwachsen unse¬rer wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht vorhersagen. (...)

(3) Daher können wir den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte nicht vorhersagen.

(4) Das heißt, dass wir die Möglichkeit einer theoretischen Geschichts¬wissen-schaft verneinen müssen, also die Möglichkeit einer historischen Sozialwissenschaft, die der theoretischen Physik oder der Astronomie des Sonnensystems entsprechen würde. Eine wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Entwicklung als Grundlage historischer Prognosen ist unmöglich.

(5) Das Hauptziel der historizistischen Methoden (...) ist daher falsch gewählt und damit ist der Historizismus widerlegt." (3)
Hiermit vertritt Popper die These, dass die Zukunft neues menschliches Wissen bringen wird, das die bisher bekannten Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung hinfällig machen wird. Unseren zukünftigen Wissensstand können aber heute nicht voraussagen, weil er dann schon heute zu unserem Wissensbestand rechnen würde. Dabei überschreitet Popper jedoch das Gebiet logischen Analysierens und Beweisens und sucht, eine empirische Frage durch den ausschließlichen Einsatz logischer Mittel zu lösen bzw. als empirisch beantwortbare zu beseitigen.

Dieses Argument setzt nämlich voraus, dass Wissen von Wissen immer total, 100%-ig identisch sein muss.(3) Nur in dieser trivialisierenden Interpretation (4) ist Prämisse (2) logischerweise wahr. Doch kein Historizist hat je behauptet, dass wir heute schon wissen, was wir erst morgen wissen werden, noch ist es denknotwendig, über dieses Wissen insgesamt zu verfügen, um brauchbare Prognosen über wissensmäßig beeinflusste zukünftige Entwicklungen abgeben zu können. Unser Wissen über das zukünftige Wissen der Menschheit muss keinesfalls total sein, um Prognosen zu ermöglichen. Eine Prognose muss nicht die logische Identität oder Informationsgleichheit von Aussagenmengen voraussetzen, um partielle Beschreibungen zukünftig möglicher Erkenntnisleistungen zu erlauben. Auch hier gilt, dass nicht die konkret-reale Totalität der Weltgeschichte prognostiziert, sondern nur theoretisch selektierte Trends wissenschaftlicher Analyse zugänglich gemacht werden sollen.

Wie bei Problemstellung (c) liegt hier ebenfalls ein Fehlschluss der misplaced concreteness (6) vor; denn Wissens¬be¬stände werden behandelt, als ob sie durch eine einzige abstrakte Beschreibung hinreichend gekennzeichnet seien und keine andere Aussagen darüber hinaus mehr möglich seien. Dies ist jedoch mit Sicherheit abwegig. Wenn sich über zukünftige Leistungen der Wissenschaft keine praktisch brauchbaren Voraussagen treffen ließen, so wäre bereits ein jeder Forschungsantrag nur vertane Liebesmüh. Es ist hier grundsätzlich zwischen "Wissen" als einem kognitiv-psychischen Tatbestand einerseits und andererseits den verschiedenen Möglichkeiten zu unterscheiden, derlei Wissensbestände zu beschreiben. Was im Hinblick auf eine bestimmte Art, Wissen zu beschreiben, bewiesen werden kann, gilt nicht für alle Wissens-Tatbestände schlechthin. Popper ist bei seinem "Beweis" unmerklich von Logik zu Psychologie hinüber- und herübergewechselt, was die Schlüssigkeit seiner Argumentation zerstört.

Über die Frage der mehr oder weniger vollständigen oder konkreten Beschreibung eines Wissensbestandes hinaus stellt sich insbesondere für den Fallibilisten Popper die Frage, inwieweit ein derart substanzieller Wissensbegriff (7) in Übereinstimmung gebracht werden könne mit demjenigen seiner Wissenschaftslogik, handele es sich nun um „Wissen" als ein System falsifizierbarer oder empirisch bewährter Aussagen. Es ist noch nicht einmal völlig ausgeschlossen, dass es sich hierbei auch um kontradiktorische Aussagensysteme handelt. Wie dem auch sei, Popper vermochte kein praktikables Verfahren angeben, wie ein so verstandenes Wissen in seinem Informationsgehalt exakt zu messen, kaum wie es zu vergleichen sei:
„... although the measure functions of content, truth content and falsity content are in principle comparable (because probabilities are in principle comparable) we have in general no means to com¬pare them other than by way of comparing the unmeasured contents of competing theories, possibly just intuitively." (8)
Hinzu kommt, dass Popper im Lichte seiner 3-Welten-Theorie auch noch zwischen subjektivem und objektivem Wissen unterscheidet. So ergibt sich, dass die geradezu triviale Überzeugungskraft seiner Argumentation nur oberflächlich bestechen kann, da sie letztlich auf einer Konfusion zwischen logischer und empirischer Analyse sowie zwischen subjektivem und objektivem Wissen beruht:
„If there is growth of knowledge in this sense, then it cannot be predictable by scientific means. For he who could so predict today by scientific means our discoveries of tomorrow could make them today; which would mean that there would be an end to the growth of knowledge." (9)
Es ist frappierend, wie Popper alle die wichtigen Begriffsunterscheidungen im Hinblick auf „Wissen", die er selbst so gewinnbringend geltend gemacht hat, bei seinem „Beweis" einfach über Bord wirft oder zumindest ignoriert.(10) Die Frage, inwieweit Popper in seinen persönlichen Ansichten über Wissen konsistent ist, ist hier allerdings uninteressant. Wichtiger ist, dass dieses ein fundamentaleres Problem zu signalisieren scheint: Es ist eines, „Wissen" so zu fassen, dass es für einen logischen Beweis adäquat ist; etwas anderes, mit demselben Begriff vollständig alle möglichen Begriffsvarianten von „Wissen" abzudecken, die in relevanten empirischen Prognosen vorkommen mögen. Wie soll der Beweislogiker im Voraus wissen, welche empirisch relevanten „Wissen"-Begriffe noch alle erfunden werden mögen? M. a. W.: Der Versuch, eine empirische Fragestellung durch einen logischen Beweis abzuschneiden, scheitert schon daran, dass dem Logiker nicht a priori alle denkbaren Bedeutungen empirischer Begriffe zur Verfügung stehen.
Vielleicht sind über bestimmte Aspekte der zukünftigen Entwicklung eines so verstandenen Wissens falsifizierbare Prognosen möglich, die sich evtl. sogar bewähren. Logisch unmöglich erscheint vielmehr der Beweis seiner Nichtprognistizierbarkeit, weil es sich hier grundsätzlich um empirisch kontingente Zusammenhänge handelt. Vielmehr ist Poppers These der „unpredictability in principle" (11) sogar selbstwidersprüchlich, weil diese eine Prognose darstellt, die ihre eigene Nichtprognostizierbarkeit behauptet. Im Grunde hat sich Popper mit diesem Beweis in dieselbe Grube manövriert, in die Bacon saß:(12) Eine Entdeckung muss zufällig sein, sonst kann sie keine Entdeckung sein, ging des letzteren Argument. Und ebenso nun Popper: Neues Wissen kann nicht vorausgesagt werden, sonst ist es nicht neu. Man kann aber nur etwas finden, was man (zumindest so ungefähr) gesucht hat. Einem völlig unvorbereiteten Geiste wird überhaupt niemals was Neues zustoßen, schon weil dieser den Unterschied zwischen Alt und Neu nicht kennt.

Wie es sich für einen echten Fallibilisten gehört, liefert Popper auch selbst noch ein Gegenargument:
„Widerlegt ist nur die Möglichkeit der Vorhersage geschichtlicher Entwicklungen, insofern diese durch das Anwachsen unseres Wissens beeinflusst werden können." (13)
Wie auch Werner Habermehl feststellt, ist schon damit die Beweiskette von der Prognose des Wissensfortschritts hin zum gesamten Geschichtsablauf abgerissen:
„... um die Unmöglichkeit einer theoretischen Geschichtswissenschaft beweisen zu können, genügt es nicht, wenn wir zu zeigen vermögen, dass wir den zukünftigen Verlauf der Geschichte, soweit er durch das Wachstum unseres Wissens beeinflusst wird, nicht vorhersagen können. Wir müssten vielmehr entweder dartun können, dass es unmöglich ist, den zukünftigen Verlauf der Geschichte vorherzusagen, unabhängig davon, ob er vom Wachstum unseres Wissens beeinflusst wird oder nicht, oder, dass alle geschichtlichen Abläufe dem Einfluss unseres Wissens unterliegen." (14)

Anmerkungen

(1) Otto Neurath: Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und Nationalökonomie, Wien 1931. S. 129f.
(2) Hans-Joachim Dahms: Positivismusstreit. Die Auseinandersetzung der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus. Frankfurt 1994 . S. 101.
(3) Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 6. Aufl. 1987 (zuerst: 1957). S. XIf.
(4) „Als ich ihn dann fragte, woher es komme, daß auf diese Weise doch oft Künftiges richtig vorausgesagt werde, antwortete er, so gut er konnte, das bringe wohl das Ahnungsvermögen so mit sich, das überall in der Natur anzutreffen sei. Geschehe es doch oft, daß jemand, der Rat suche, das Buch eines Dichters aufschlage, der ganz etwas anderes singe und sage, und ihm dann doch ein Vers in die Augenspringe, der wunderbar zu seinem Anliegen stimme.“ (Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme. Editions Rencontre, Lausanne Köln 1970. S. 92.)
(5) Werner Habermehl: Historizismus und Kritischer Rationalismus. Einwände gegen Poppers Kritik an Comte, Marx und Platon. Freiburg München 1980. S. 56ff.
(6) The Whiteheadian fallacy of misplaced concreteness: „the fallacy of assuming that the particular concepts we employ to examine the flow of events capture their entire content." (Robert K. Merton, (ed. and with an Introduction by Norman W. Storer): The Sociology of Science. Theoretical and Empirical Investigations. Chicago London 1973. S. 131.)
(7) Popper (Objective Knowledge. An Evolutionary Approach. Oxford 1973 (zuerst: 1972) S. 62.) kennzeichnet damit gerade eine der Grundthesen der irreführenden common sense theory of knowledge (Locke, Berkeley, Hume): „Knowledge is conceived of as consisting of things, or thing-like entities in our bucket ..." Dieser empiristische Wissensbegriff spielt auch im Zusammenhang von Hume Induktivismuskritik eine maßgebliche Rolle: "Der unendliche Regress ('Induktionsregress') präzisiert Humes Argument gegen die Zulässigkeit der Induktion. Er besagt, dass der reine Induktionsschluss sich logisch nicht rechtfertigen lässt, dass aus besonderen Beobachtungen niemals allgemeine Sätze abgeleitet werden können, kurz, er besagt etwas (mindestens für jeden Empiristen) ganz Selbstverständliches: dass man nicht mehr wissen kann, als man weiß." "Klarer formuliert: dass man nicht mehr weiß, als man weiß." (Karl R. Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930-1933. Tübingen 2. verbess. Auflage 1994. S. 39. Anm.*11) Aber wir wissen ständig mehr, als wir wissen, d.h. als uns bewusst ist. Schon dadurch, dass unsere Wissenselemente untereinander verknüpft sind und immer schon auf andere verweisen, die nicht aktuell in unserem Kurzzeitgedächtnis verfügbar sind, ist unser Wissen potentiell unendlich (was von Allwissenheit zu unterscheiden ist).
(8) Karl R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Approach. Oxford 1973 (zuerst: 1972). S. 52, Anm. 29.
(9) Karl R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Approach. Oxford 1973 (zuerst: 1972). S. 298.
(10) Was gewissermaßen auch verständlich ist: einmal diese Begriffskomplikationen zugegeben, sinkt die Plausibilität des Beweises bzw. schon eines Beweisversuchs rasch gegen Null.
(11) Karl R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Approach. Oxford 1973 (zuerst: 1972). S. 298.
(12) Joseph Agassi: Science in Flux, Dordrecht Boston 1975. S. 76.
(13) Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 6. Aufl. 1987 (zuerst: 1957). S. XII.
(14) Werner Habermehl: Historizismus und Kritischer Rationalismus. Einwände gegen Poppers Kritik an Comte, Marx und Platon. Freiburg München 1980. S. 25.

Vorsehungsglaube und Teleologie