Samstag, 30. Mai 2009

Umstülpung

Im Nachwort zur 2. Auflage des Ersten Bandes des KAPITAL sagt Marx, seine dialektische Methode sei das direkte Gegenteil derjenigen Hegels:

„Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ (I:27)

Allerdings beansprucht Marx, Hegels Dialektik nicht einfach abstrakt negiert, d. h. als widerlegt und erledigt in den Müll geworfen zu haben, sondern er will sie im dialektischen Sinne "aufgehoben" haben.

„Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.“ (I:27)

Obwohl Marx immer wieder auf Hegels Stellenwert für seine Arbeiten deutlich und ausdrücklich hinwiesen hat, ist von Ökonomen wie Joseph A. Schumpeter und Joan Robinson behauptet worden, Marxens explizit dialektische Darstellungsweise berühre die Sache nicht bzw. trage nichts zum Inhalt seiner theoretischen Analysen bei. Schumpeter konzediert immerhin einen Beitrag zur „Vision“ des Gesamten, d.h. vor-analytischen Anschauungsweise. Die Einschätzung der Dialektik als irrelevant für Marxens politische Ökonomie hängt damit zusammen, dass beide Interpreten das Marx-Werk bewusst oder unbewusst "ökonomistisch", d.h.unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen fachökonomischen Tradition lesen und somit in Marx, was das anbetrifft, kaum mehr als einen Schüler und Fortsetzer von Ricardo erblicken können. Dies setzte aber voraus, dass Marx in Problemstellung; Methoden von Forschung, Analyse und Darstellung; Wahl der Basiskategorien und ihrer logischen Verknüpfung von Ricardo nur unwesentlich abweichen würde. Das, darf man sagen, ist mitnichten der Fall (SCHMEE 2001); und sich dieser Diskrepanzen wie Robinson als „Metaphysik“ entledigen zu wollen, ist nicht nur Positivismus reinsten (unkritischen) Wassers, sondern von Grund auf unseriös.

So schrieb bei Gelegenheit des Erscheinens einer kritischen Rezension des KAPITAL durch Eugen Dühring Karl Marx am 6. März 1868 aus London an seinen Freund Kugelmann:

"Der sonderbar verlegene Ton des Herrn Dühring in seiner Kritik ist mir jetzt klar. Dieser ist nämlich ein sonst sehr vorlauter schnoddriger Knabe, der sich als Revolutionär in der politischen Ökonomie aufwirft. Er hatte zweierlei getan. Erstens (von Carey ausgehend) eine "Kritische Grundlegung der Nationalökonomie" (about 500 pages) und eine neue "Natürliche Dialektik" (gegen die Hegelsche) veröffentlicht. Mein Buch hat ihn nach beiden Seiten hin beerdigt. Aus Haß gegen die Roscher etc. hat er es angezeigt. Übrigens begeht er halb aus Absicht, halb aus Mangel an Einsicht Betrügereien. Er weiß sehr wohl, daß meine Entwicklungsmethode nicht die Hegelsche ist, da ich Materialist, Hegel Idealist. Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form, und dies gerade unterscheidet meine Methode. Quant à Ricardo, so hat das den Herrn Dühring grade gekränkt, daß bei meiner Darstellung die schwachen Punkte, die Carey und 100 andere vor ihm gegen Ricardo geltend machen, nicht existieren. Er sucht mir daher mit mauvaise foi die Ricardoschen Borniertheiten aufzubürden. But never mind. Ich muß dem Manne dankbar sein, da er der erste Fachmann ist, der überhaupt gesprochen hat." (Karl Marx: Briefe an Kugelmann. Verlag JHW Dietz Nachf. Berlin)

BECKER (1972) hinwieder sucht Marx beim Wort zu nehmen, dies aber, um über den logischen Nachweis der Irrationalität von Hegels Dialektik auch Marxens Theorie zu destruieren. Wer gemäß der Katastrophentheorie der Kontradiktion ein Theoriegebäude destruieren will, muss eine logisch geschlossene, um nicht mit Kant zu sagen: "dogmatische" Konstruktion voraussetzen. Abgesehen aber davon, dass in den Wissenschaften keinerlei endgültigen Widerlegungen einer Theorie möglich sind - noch weniger einer Problemstellung oder eines Forschungsprogramms (1)-, so setzt Beckers Widerlegungsstrategie voraus, dass ihm der Nachweis der logischen Inkonsistenz der Dialektik gelungen sei. Da ein gelingender Nachweis hinwieder eine überzeugende Rekonstruktion der Dialektik Hegels und Marxens voraussetzt, darf man wohl sagen, dass wir auch heute noch von diesem Ziel meilenweit entfernt sind. So hält HORSTMANN (1990:9) es für geradezu kurios, dass Hegels Philosophie bis heute einerseits als unzugänglich gilt, andererseits als wegweisend gehalten und in Einzelheiten als Zitatenschatz herhalten muss.

Das näher zu ergründen, fällt zusammen mit dem Forschungsprogramm vieler Marxisten. FRITSCH (1968:24) oder ZELENY (1968:11) halten wie Becker dafür, dass Marxens Vorgehen ohne seine Hegel-Kritik nicht zu begreifen sei, und bestreben sich, die dadurch gestellte Interpretationsaufgabe zu bewältigen. "Man kann das 'Kapital' von Marx und besonders das erste Kapitel nicht vollkommen begreifen, wenn man nicht die ganze 'Logik' Hegels durchstudiert und begriffen hat. Folglich hat nach einem halben Jahrhundert keiner der Marxisten Marx begriffen."(LENIN 1954:99) Für BACKHAUS (1974:67) ist diese so von Lenin aufgestellte, bislang unerfüllte Anforderung noch keine hinreichende Bedingung. Auch ein Hegel-Kenner müsste erst noch die materialistische "Umstülpung" Hegels verstehend nachvollziehen.

ALTHUSSER (1962) müht sich ab, Marxens Metaphern „Umstülpung“ und „von der Hülle befreien“ zu interpretieren. Die Gefahr liegt nahe, in der methodologischen Reflexion dieser Metaphern allzu lange bei dem gebrauchten Bilde zu verweilen und sich dadurch gefangen nehmen zu lassen.

“We cannot go on reiterating indefinitely approximations such as the difference between system and method, the inversion of philosophy or dialectic, the extraction of the ‘rational kernel’, and so on, without letting these formulae think for us, that is, stop thinking ourselves and trust ourselves to the magic of a number of completely devalued words for our completion of Marx’s work.” (ALTHUSSER 1962)

Man kann Marxens Dialektik als theoretische Forschungsweise am besten als praktizierter Theorievergleich deuten, worauf ja schon der Titel „Kritik der politischen Ökonomie“ explizit hinweist.(2) Das heißt, man muss also den Diskurs-Kontext der von Marx gebrauchten Begriffe aufsuchen und ganz praktisch fragen, mit welchen Alternativtheorien bzw. Theorie-Vorgängern er sich auseinandergesetzt hat. Und man braucht hier auch nicht weit zu suchen, da Marx hieraus ja keine Geheimnisse gemacht hat. So ist die „Umstülpung“ wohl eine Anspielung auf Ludwig Feuerbachs Religionskritik. Bekanntlich läuft diese in ihrem Kern darauf hinaus, dass die Theologie (und damit verbunden die idealistische Philosophie eines Hegel) die irdischen Verhältnisse in den Himmel verlege bzw. auf Gott projiziere. Er macht diesen uralten Anthropomorphismus geltend: Die Menschen machen ihre Götter nach ihrem eigenen Bilde. An ihren jeweiligen Göttern kann man also die spezielle Sorte Mensch (bzw. Gesellschaft) erkennen. Um die schiefe Perspektive der Theologie bzw. der idealistischen Philosophie wieder gerade zu rücken, muss man den Mensch vom (theologischen bzw. spekulativ philosophierenden) Kopf wieder auf die Beine (d.h. auf die – durchaus irdische - Erde) stellen.

Hier setzt Marxens Übernahme der Metapher an, deren Anwendungsbereich er nur noch abzuändern hat.

"Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht." (Kapital, I:649)

Hegels Dialektik stelle nicht nur die realen Verhältnisse auf den Kopf, sondern ist als „falsches Bewusstsein“ ebenso auch reale Widerspiegelung „falscher“ Verhältnisse.

„Wenn Marx jedoch gegen die dialektischen Ableitungen Hegels einwendet, sie gingen nicht aus der Sache selbst hervor, sondern aus der vorausgesetzten Logik des Geistes, und wenn er die schon in der Dissertation anklingende Forderung wiederholt, die Logik, die Idee einer Sache aus ihr selbst zu entwickeln, dann bergen diese Bemerkungen ebensowohl eine gewisse Distanzierung von der Feuerbachschen Anthropologie des Menschengeschlechts wie den Keim zur späteren, durch die Kritik der politischen Ökonomie vermittelten Rückkehr zu Hegels ‚übergreifendem Subjekt‘. Marx wird einmal als falschen Schein einer falschen Wirklichkeit entlarven, was er hier noch als bloß philosophischen Schein denunziert; und bereits in der Dialektik der entfremdeten Arbeit, wie sie in den Pariser Manuskripten entworfen wird, erkennt Marx jenes abstrakt-allgemeine Subjekt wieder, das er in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts als Mystifikation verwirft.“ (SCHÄFER 1968:939)

Der der von Hegel gepflegte Wertplatonismus ist womöglich eine unreelle Philosophie, aber in den Augen von Marx eine ausgezeichnet geeignete soziologische Theorie, die verdinglichte Strukturen der arbeitsteilig prozessierenden Tauschwirtschaft darzustellen und zu erklären. (Hans Albert lernte so etwas Ähnliches von Ernest Gellner.)

(1) "... die ganze Auffassungsweise von Marx ist nicht eine Doktrin, sondern eine Methode. Sie gibt keine fertigen Dogmen, sondern Anhaltspunkte zu weiterer Untersuchung und die Methode für diese Untersuchung." [Engels an Werner Sombart, 11. März 1895 (MEW 39:428)]

(2) "Was derselbe Lange über Hegelsche Methode und meine Anwendung derselben sagt, ist wahrhaft kindisch. Erstens versteht er rien von Hegels Methode und darum zweitens noch viel weniger von meiner kritischen Weise, sie anzuwenden. In einer Hinsicht erinnert er mich an Moses Mendelssohn. Dieser Urytp eines Seichbeutels schrieb nämlich an Lessing, wie es ihm einfallen könne, 'den toten Hund Spinoza' au sérieux zu nehmen! Ebenso wundert sich Herr Lange, daß Engels, ich usw. den toten Hund Hegel au sérieux nehmen, nachdem ja doch Büchner, Lange, Dr. Dühring, Fechner usw. längst begraben haben. Lange ist so naiv, zu sagen, daß ich mich in dem empirischen Stoff "mit seltener Freiheit bewege". Er hat keine Ahnung davon, daß diese 'freie Bewegung im Stoff' durchaus nichts andres als Paraphrase ist für die Methode, den Stoff zu behandeln - nämlich die dialektische Methode." (London, 27. Juni 1870)[Karl Marx: Briefe an Kugelmann. Verlag JHW Dietz Nachf. Berlin]

== Literatur ==
Hans-Georg Backhaus: Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 1. es695 Frankfurt 1. Aufl. 1974. S. 52-77
W. I. Lenin: Aus dem philosophischen Nachlaß. Berlin 1954.
Louis Althusser: Contradiction and Overdetermination. Notes for an Investigation. Aus: For Marx. 1962
Werner Becker: Kritik der Marxschen Wertlehre – Die methodische Irrationalität der ökonomischen Basistheorien des 'Kapital‘. Hoffmann und Campe : Hamburg 1972
Bruno Fritsch: Die Geld- und Kredittheorie von Karl Marx. Frankfurt Berlin 1968
Rolf-Peter Horstmann: Wahrheit aus dem Begriff. Eine Einführung in Hegel. Anton Hain : Frankfurt am Main 1990. ISBN 3-445-06006-1.
Joan Robinson: An Essay on Marxian Economics. London 1942
Gert Schäfer: Zum Problem der Dialektik bei Karl Marx und W. I. Lenin. Studium Generale, 21, 1968, S. 934-962
Josef Schmee: Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur marxschen Ökonomiekritik. Aus: Die Arbeit. Das Monatsmagazin des GLB (Gewerkschaftlicher Linksblock im ÖGB, N° 9 / September 2001
Joseph A. Schumpeter: Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte. In: Grundriß der Sozialökonomik. Bd. I, Tübingen 1941
Jindrich Zeleny: Die Wissenschaftslogik bei Marx und ‚Das Kapital‘. Frankfurt Wien 1968

Montag, 25. Mai 2009

Institutioneller Marxismus

Gesellschaftliche Entwicklung sieht sich Wolfgang Schluchter zufolge 4 Positionen gegenüber; davon die erste:

"1. den aus dem 19. Jahrhundert überkommenen objektivistischen Geschichtsphilosophien, die Entwicklung und Geschichte letztlich aufeinander reduzieren, ihre universalhistorischen Ansprüche mit der Idee einer Notwendigkeitskausalität verbinden und nach einem Geschichtsgesetz suchen, das die Formulierung einer universalen Stufentheorie erlaubt. Sie unterscheiden sich untereinander vor allem danach, ob sie die Stufentheorie mit retrospektiven oder auch mit prospektiven Ansprüchen versehen, wieviele Stufen sie nennen, welche Richtungskriterien sie auszeichnen und welches Subjekt sie wählen, an dem und durch das das Geschichtsgesetz sich vollzieht,.." (Schluchter 1979:1)

Hierzu die Fußnote 2:

"Solche Positionen werden heute vor allem im orthodoxen Marxismus vertreten, der mit dem institutionellen Marxismus und seinem Dogmatismus nicht identisch sein muß. Vgl. dazu unter anderem URS JAEGGI und AXEL HONNETH (Hrsg.), Theorien des Historischen Materialismus, Frankfurt 1977, bes. Teil I. Die 'klassische' Kritik an den verschiedenen Versionen des Geschichtsobjektivismus findet sich in meinen Augen nach wie vor bei KARL S. POPPER, Das Elend des Historizismus, 4 Tübingen 1974, sowie DERS., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I und II, 5 Bern/München 1977, bes. II, 15. Kap. Daß dieser Standpunkt keineswegs evolutionstheoretische Fragen und Antworten ausschließt, zeigen Poppers jüngere Arbeiten. Vgl. insbesondere KARL R. POPPER, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973; bes. Kap. VI." (1, Anm. 2)" (Schluchter 1979:1, Anm. 2)

Nun zuerst die Begriffsklärung. In dieser Theorieklärung müssen erst einmal die Sortieretiketten genauer betrachtet werden. Was ist "institutioneller Marxismus"? Ist denn Prof. Wolfgang Schluchter als Angehöriger der Heidelberger Universität, ist denn überhaupt universitär betriebene Wissenschaft "außer-institutionell"? Auf die "frei schwebende Intelligenz" möchte ich weiter unten noch zurückkommen.

Man hat natürlich zuallererst einmal den Verdacht, dass hier wieder einmal, auch von Wolfgang Schluchter, das gewöhnliche akademische Ritual im Umgang mit dem Marxismus gepflegt wird, funktional äquivalent etwa der Verwendung des Kreuzzeichens oder bio-dynamisch von Knoblauch bei der Annäherung an Vampire oder bei einer Teufelsaustreibung.
In den akademischen Gepflogenheiten drückt sich das gemeinhin darin aus, dass standesgemäße Distanzierungssignale und auch Seitenhiebe, wenn sie sich denn nicht vermeiden lassen, in separate Fußnoten verwiesen werden. Also gewissermaßen am Dienstboteneingang für die Philosophen von der Gosse oder quasi eine Auseinandersetzung en passant, wie es der lästigen Mühe ansteht, so unerquicklich wie das Naserümpfen, wenn man einer Fliege kaum was zuleide tun will. Doch fällt auch dem Bücherverschlinger Schluchter, der sich der Max Weber-Industrie bemächtigt hat, auf, dass Weber sich niemals direkt mit Hegel, Marx oder Dilthey, sondern explizit ausschließlich mit deren Epigonen (Roscher, Knies, Stammler, Wundt, Croce u. a.) abgibt (Schluchter 1979:34). Anscheinend waren auch für Weber nur akademische Standesgenossen satisfaktionsfähig.

Das wäre hier im Falle Wolfgang Schluchter aber übertrieben zu sagen. Wie Hegels Ausspruch über die Vernünftigkeit des Wirklichen zeigt, kann man deutsche Professoren beim Wort nehmen, wenn man nur weiß, wie. (Gemeinhin unterscheidet man die exoterische und von der esoterischen Lehre.) Oder nehmen, wie man will. Entweder man stellt fest, dass das Glas halb leer ist. Oder man sieht mit Erleichterung, dass es halb voll ist. So kann man auch hier "institutioneller Marxismus" so verstehen, wie es Leszek Kolakowski getan hat.

"Der Begriff 'Marxismus' wurde zu einem Begriff mit institutionellem und nicht intellektuellem Inhalt - wie das übrigens mit jeder kirchlichen Doktrin geschieht." (Kolakowski 1976:14)

Für den "institutionellen Marxismus" ist die Sachlage aber die:

"Das Wort 'Marxismus' sollte keinesfalls eine auf ihren Inhalt hin bestimmte Doktrin bedeuten, sondern eine Doktrin, die ausschließlich formal, und zwar durch das jeweilige Dekret einer unfehlbaren Institution, bestimmt wurde, die in einer gewissen Epoche von der Welt 'größtem Sprachforscher', 'größtem Historiker', 'größtem Philosophen', 'größtem Wirtschaftsexperten' verkörpert worden ist." (Kolakowski 1976:14)

Nun zur "frei schwebenden Intelligenz". Diese Berufsideologie von Ideologen, die von Karl Mannheim herrührt, ist so verführerisch, wie eine Ideologie nur sein kann. Heute sollte man besser von in McDonalds-Jobs der Workflows der Informationsökonomie beschäftigten oder unbeschäftigten "Wissensproletariern" sprechen. Denn die Freiheit, Frechheiten zu äußern, muss in unserer rauen ökonomischen Wirklichkeit ihre Belohnung in sich selbst darstellen. So viel über "Wissensökonomie" und dem "Weg nach Lissabon"! Die Bildung starb in Bologna. Die 68er Bewegung sprach hier noch von "intrinsischer Motivation", also Studieren, ohne auf Klausurnoten und Karriere zu schielen. Es heißt aber die Frechheit zu verdoppeln, wenn Intellektuelle für die Ausübung ihrer gesetzlich streng abgemessenen Gedankenfreiheit auch noch Barzahlung verlangen.

Wissen ist Macht. Der unverbesserliche Optimismus eines Roger Bacon wurde von Besitz- und Bildungsbürgertum fast seit jeher unterschiedlich aufgefasst. Und selbst das Bildungsbürgertum hat sich differenziert 1. in eine scheinbar "frei schwebende Intelligenz", wo der Geist weht, wo er will, und 2. eine bürokratische Elite, wo die Bildungspatente die Karriere eröffnen. Hier dreht sich dann der Satz um in seine bürokratisch passende Version: Macht macht dumm. Denn wer die Macht hat, glaubt 1. ohne besseres Wissen auskommen zu können. 2. sehen diejenigen, die es besser wissen, keine große Aussicht darin, ihr Wissen demjenigen mitzuteilen, der mit seiner Entscheidungsmacht davon Gebrauch machen könnte. Mit dem Amt kommt der Verstand. Mit anderen Worten: Wer seine Amtsmacht einsetzen kann, hat damit Zugang zu Herrschaftswissen, sofern er die betreffenden Wissensträger, die ihm zuarbeiten sollten, zur Kooperation zu bewegen weiß. Die Ausübung von Macht verführt indes zu dem Irrglauben (und das ist die spezifische Arroganz, die sie erzeugt), man könne sich über entgegenstehende Information hinwegsetzen oder brauche nicht die Leute zu fragen, die es besser wissen, und zwar allein aus dem Grunde, weil man mächtiger ist. Spektakulärer aktueller Musterfall für diese moderne Hybris ist G. W. Bush und sein erzrepublikanischer Freundeskreis. Doch bleiben wir in Deutschland!

"Crozier kommt auf Grund seines Ansatzes zu einer Zweiphasentheorie der Bürokratisierung zwischen bürokratischer Verhärtung einerseits und sozialen oder politischen Umschmelzungsprozessen mehr oder weniger großer Reichweite andererseits. Das ist aber nur ein erster Schritt. Darin liegt auch beschlossen, daß die Kulturen, die - wie etwa dies Erlebnis des Widerstandes als einer kollektiven sozialen Bewegung niemals gehabt haben, heute Schwierigkeiten haben, ihren 'restaurativen Besitzstand' zu retten angesichts einer anbrandenden neuen Wirklichkeit. So war auch am Kriegsende 1945 Deutschland zwar sicher zerstört, aber die deutsche Bürokratie war völlig unangetastet und ging kontinuierlich und ohne Unterbruch über in die Nachkriegsperiode, was in bekannter Weise zu vielen Problemen geführt hat, während das Ausland staunte über die Widerstandsfähigkeit der deutschen Bürokratie." (König 1979:360)

König liefert implizit eine Erklärung für das große Reservoir an Popperizisten in der Bundesrepublik und warum die kontra-faktische Theorie des piecemeal engineering gerade in Deutschland nicht nur so großen Anklang gefunden hat, sondern gerade innerhalb der herrschenden Elite bei CDU-Sozialdemokraten wie bei SPD-Christdemokraten und deren zuarbeitenden ideologischen Vertretern in den Medien einen so seelenverwandten Nerv gestreichelt hat. Popper geriet fast außer sich, dass Aristoteles als Berater am Hofe Alexanders des Großen von demselben Herrscher literarisch keinerlei Notiz genommen hat. René König saß in Köln und hat vom Klüngel vor seiner Haustür zumindest in einer "spekulativen Überlegung" im Stammtischgespräch unter Fachkollegen Notiz genommen und sich Luft gemacht. Wie groß ist heute doch Köln gegenüber dem damaligen Athen!

Da wir gerade das Jubiläum des Bonner Grundgesetzes feiern, sei hier exemplarisch lediglich auf den Fall Theodor Maunz hingewiesen.

== Literaturverzeichnis ==

René König: Gesellschaftliches Bewusstsein und Soziologie. Eine spekulative Überlegung. In: Günther Lüschen, (Hg.): Deutsche Soziologie seit 1945. Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug. Westdeutscher Verlag Opladen 1979. ISBN 3-531-11479-4.

Leszek Kolakowski: Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein. K. Piper & Co. Verlag, München Zürich Neuausgabe 1976. ISBN 3-492-00440-7. S. 14

Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) :Tübingen 1979. ISBN 3-16-541532-3

Freitag, 22. Mai 2009

Revolutionsprognosen

"Die zentralen Ideen der historizistischen Methode, und besonders des Marxismus, scheinen folgende zu sein:

a) Es ist eine Tatsache, daß wir Sonnenfinsternisse mit großer Genauigkeit und auf lange Zeit voraussagen können. Weshalb sollten wir nicht imstande sein, Revolutionen vorauszusagen? Hätte ein Sozialwissenschaftler im Jahre 1780 nur halb soviel von der Gesellschaft verstanden, wie die alten babylonischen Astrologen von der Astronomie, so hätte er die Französische Revolution voraussagen können.

Diese grundsätzliche Idee, daß die Voraussage von Revolutionen ebensogut möglich sein müsse wie die Voraussage von Sonnenfinsternissen, führt zu folgender Ansicht von der Aufgabe der Sozialwissenschaften:

b) Die Aufgabe der Sozialwissenschaften ist grundsätzlich die gleiche wie die der Naturwissenschaften - Prognosen aufzustellen, und im besonderen historische Prognosen, d.h. Prognosen über die soziale und politische Entwicklung der Menschheit.

c) Sobald solche Prognosen einmal aufgestellt sind, kann man die Aufgabe der Politik festlegen. Diese besteht in der Minderung der 'Geburtswehen' (wie Marx es ausdrückte), die notwendigerweise mit den als unmittelbar bevorstehend vorausgesagten politischen Entwicklungen verknüpft sind.

Diese einfachen Ideen, und besonders den Anspruch, daß die Aufgabe der Sozialwissenschaften in der Aufstellung historischer Prognosen, z. B. Prognosen über soziale Revolutionen besteht, werde ich als historizistische Doktrin der Sozialwissenschaften bezeichnen."

(Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch Köln Berlin 1965. S. 115)

Popper kämpft wie Don Quijote gegen ein Phantom, das wahrhafte Existenz nur in seiner Phantasie zu gewinnen vermag. Weder hat der "Marxismus" jemals ein Buch geschrieben, mit oder ohne Prophetengabe, noch hat der "Marxismus" jemals Politik gemacht. Wir kennen nur einige Individuen, die als Marxisten bezeichnet werden und sich manchmal auch selbst so genannt haben.(1) Nehmen wir Friedrich Engels, den man wohl als Musterexemplar für solche Sorte Mensch nehmen darf. Tatsächlich hat sich der Mann gelegentlich unverhohlen auch der Prognose von Revolutionen schuldig gemacht. Sehen wir einmal zu, wie es dabei zuging:

"Kein Zweifel, Rußland steht am Vorabend einer Revolution. Die Finanzen sind zerrüttet bis aufs äußerste. Die Steuerschraube versagt den Dienst, die Zinsen der alten Staatsschulden werden bezahlt mit neuen Anleihen, und jede neue Anleihe stößt auf größere Schwierigkeiten; kann man sich doch das Geld nur noch verschaffen unter dem Vorwand des Eisenbahnbaues! Die Verwaltung von jeher durch und durch korrumpiert; die Beamten mehr von Diebstahl, Bestechung und Erpressung lebend als vom Gehalt. Die ganze ländliche Produktion - die bei weitem wesentlichste für Rußland - vollständig in Unordnung gebracht durch die Ablösung von 1861; der große Grundbesitz ohne hinreichende Arbeitskräfte, die Bauern ohne hinreichendes Land, von Steuern erdrückt, von Wucherern ausgesogen; der Ackerbauertrag von Jahr zu Jahr abnehmend. Das Ganze mühsam und äußerlich zusammengehalten durch einen orientalischen Despotismus, von dessen Willkürlichkeit wir im Westen uns gar keine Vorstellung zu machen vermögen; einen Despotismus, der nicht nur von Tag zu Tag in schreienderen Widerspruch tritt mit den Anschauungen der aufgeklärten Klassen und namentlich denen der rasch wachsenden hauptstädtischen Bourgeosie, sondern der auch unter seinem jetzigen Träger irre geworden ist an sich selbst, der heute dem Liberalismus Konzessionen macht, um sie morgen erschrocken wieder zurückzunehmen, und der sich damit selbst mehr und mehr um allen Kredit bringt. Dabei unter den in Hauptstadt konzentrierten aufgeklärteren Schichten der Nation eine zunehmende Erkenntnis, daß diese Lage unhaltbar, daß eine Umwälzung bevorstehend ist, und die Illusion, diese Umwälzung in ein ruhiges konstitutionelles Bett leiten zu können. Hier sind alle Bedingungen einer Revolution vereinigt, einer Revolution, die von den höheren Klassen der Hauptstadt, vielleicht gar von der Regierung selbst eingeleitet, durch die Bauern weiter und über die erste konstitutionelle Phase rasch hinausgetrieben werden muß; einer Revolution, die für ganz Europa schon deswegen von der höchsten Wichtigkeit sein wird, weil sie die letzte, bisher intakte Reserve der gesamteuropäischen Reaktion mit einem Schlag vernichtet. Diese Revolution ist im sichern Anzug. Nur zwei Ereignisse könnten sie länger hinausschieben: ein glücklicher Krieg gegen die Türkei oder Österreich, wozu Geld und Alllianzen gehören, oder aber - ein vorzeitiger Aufstandsversuch, der die besitzenden Klassen der Regierung wieder in die Arme jagt."
(Geschrieben im April 1875; erstmalig veröffentlicht in: Der Volksstaat, Leipzig, 16.-21.April 1875)
Friedrich Engels: Soziales aus Rußland. In: Marx/Engels: Ausgewählte Schriften. Bd. II. Berlin 1968.S. 49f

Vermutlich hat Engels hier übersehen, dass er als Marxist zur Abgabe einer "historistizistischen Prophetie" verpflichtet ist; d.h., laut Popper, mit einem Schlage, mit Datum und Uhrzeit, die Geschichte der Menschheit vorherzusagen. Er hätte sich, so wie Popper es für einen Historizisten zünftig hält, wie ein Wetterprophet im Fernsehen hinstellen sollen und sagen: In 30 Tagen geht in Rußland die Sonne der Revolution auf. Dann hätte Popper behaglich mit berechtigtem "Unbehagen auf soziale Pseudowissenschaften" (S. 114) herabsehen können.

Engels zeigt sich auch überhaupt nicht bewusst, dass er als vorgeblicher Historizist dazu verpflichtet ist, eine unbedingte Prognose zu machen. Popper: "Ich stelle zwei Behauptungen auf. Die erste besteht darin, daß der Historizist seine historischen Prophetien in der Tat nicht aus bedingten wissenschaftlichen Prognosen ableitet." (S. 117). Stattdessen spricht er langatmig über "Bedingungen für eine Revolution", ja hält es sogar für möglich, dass diese nicht ausreichen könnten und/oder andere Bedingungen entgegenwirken könnten. Das soll "Prophetie" sein?! Wie konnte Engels aber auch Popper so enttäuschen! Gottseidank ist Popper gestorben, bevor er diese Engels-Prognose je zu Gesicht bekommen konnte.

Leider hat Popper mit seinem Anti-Prophetentum (das indessen selbst ein alter Hut ist; vgl. Marx gegen Proudhon) die Sozialwissenschaftler noch bis heute dermaßen eingeschüchtert, dass sie sich noch nicht mal wagen, eine "Rezession", geschweige denn eine "Wirtschaftskrise" vorherzusehen. Sie warten lieber erst ab, nicht nur bis die Wahlen vorbei sein werden, sondern bis zu dem Tage, da es einige wagemutige Historiker in ihren Büchern verzeichnet haben werden.

Popper: "Die zweite (aus der die erste folgt) lautet: Der Historizist kann dies auch gar nicht, da langfristige Prophetien aus bedingten wissenschaftlichen Prognosen nur dann abgeleitet werden können, wenn sie sich auf Systeme beziehen, die als isoliert, stationär und zyklisch beschrieben werden können. Solche Systeme sind jedoch in der Natur sehr selten; und die moderne Gesellschaft gehört sicherlich nicht dazu." (S. 117)

Während andernorts Popper behauptet, den Historizismus allein per logischen Beweis besiegt zu haben, muss uns hier lediglich seine empirische Intuition bzw. seine persönliche Versicherung darüber aus der Patsche helfen: "Solche Systeme sind jedoch in der Natur sehr selten; und die moderne Gesellschaft gehört sicherlich nicht dazu." Das müssen wir unbesehen glauben; denn Popper ist ja nunmal kein empirischer Sozialforscher oder Historiker, der die Quellen studieren muss. Wie ein Don Quijote kämpft er sehenden Auges gegen ein Phantom, das seinem Wesen gemäß nur unbestimmbar sein kann, und sich öfters als einmal eine Tarnkappe überzieht. Keine beneidenswerte Aufgabe!

Marx hat seine politische Ökonomie bekanntlich auf das Tableau économique von Quesnay aufgebaut; dessen Reproduktionsschema war auch für Schumpeter oder die Input-Output-Tabellen von Leontjew ein Musterbeispiel für ein stationäres zyklisches System in der Wirtschaft, die man ja wohl auch zur menschlichen Gesellschaft zählen darf. Soweit sich solche Kreislaufmodelle in der Geschichte der Menschheit anwenden lassen, soweit lassen sich also langfristige Vorhersagen bzw. Erklärungen im Prinzip machen. Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ist offenbar keine exakte Wissenschaft.

Ich indes schaue mit Unbehagen auf Propheten, deren Defätismus gegenüber sozialwissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen darauf gründet, dass sie mit Unbehagen auf Prognoseversuche von Revolutionen oder Krisen sehen. Mit piecemeal engineering zu hoffen, dass sich alles von selbst einrenken und zumindest die Lage sich nicht verschlimmern werde, ist auch nur eine Prophezeiung, aber die man als solche kenntlich zu machen vergisst.

== Anmerkungen ==

(1) "Einige Namen sind Eigennamen und gehören allein einem einzigen Ding zu, wie Peter, Johannes, dieser Mensch, dieser Baum. Manche sind vielen Dingen gemeinsam, wie Mensch, Pferd, Baum. Obwohl nur ein Name, ist jeder von ihnen dennoch der Name verschiedener Einzeldinge, der, betrachtet man sie alle zusammen, allgemein genannt wird. Es ist nämlich auf der Welt nichts allgemein außer den Namen, denn jedes Ding ist individuell und einzeln." (Thomas Hobbes: Leviathan. S. 26)

Dienstag, 19. Mai 2009

Zweierlei Interpretationsweisen sind möglich

Ökonomische Schriften, Theorien oder Modelle bedürfen der Interpretation.

Sie müssen dem heutigen Leser erst als sinnvolles Ganzes rekonstruiert werden, weil sie unvollständig, unübersichtlich oder dem heutigen Sprachgebrauch oder der heutigen Problemperspektive nicht (mehr) angemessen sind.

Die Anzahl möglicher Interpretationen ist prinzipiell unendlich; denn eine Interpretation ist bedingt nicht nur durch das evtl. einmal gegebene gegebene Textmaterial, sondern auch von den denkbaren Sichtweisen aller möglichen Leser.

Nun gibt es logisch gesehen zweierlei Möglichkeiten, eine solche Interpretation zu gestalten:

(a) Die historische Betrachtungsweise strebt danach, die ursprüngliche Problemstellung des betreffenden Autors aufzudecken und die von ihm angebotene Lösung darzustellen; ggf. werden alternative Lösungsmöglichkeiten von Vorgängern und Nachfolgern mitherangezogen. Schließlich ergibt sich eine Art Problemgeschichte bzw. Geschichte der Problemstellungen der Ökonomie als Fachdisziplin.

(b) Man kann jedoch umgekehrt von aktuellen theoretischen Fragen der heutigen Ökonomie ausgehen und danach fragen, was die Vorgänger in diesem Fache oder anderswo schon vorgeleistet haben. Zielsetzung ist hierbei nicht eigentlich eine Geschichte der ökonomischen Problemstellungen und/oder Lehrmeinungen, sondern den historisch überlieferten Theoriebestand auszubeuten als Steinbruch für die Konstruktion eigener Theorien.

Nun sind beide Möglichkeiten mit Sicherheit legitim. Die Gefahr liegt einfach in dem Missverständnis, wenn beiderlei miteinander vermischt wird: Problemgeschichte und Theoriekonstruktion.(1) Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn um der eigenen Theorieproduktion einen höheren Status zu verleihen, deren Theoreme schon in die Texte der Klassiker des Faches nachträglich hineininterpretiert werden.(2) Es ist hier allerhöchste Vorsicht geboten; denn wer von seiner eigenen Theorie überzeugt ist, wird überall Indizien für diese entdecken. Jedenfalls muss derjenige, der das beliebte Spiel spielen will, Adam Smith oder Marx oder … zu widerlegen, sich zuvor der Mühe unterziehen, herauszufinden, was der entsprechende Autor überhaupt behauptet hat; d.h. er muss sich der Mühe unterziehen, eine Rekonstruktionsarbeit nach Fall (a) zu leisten, falls andere das nicht schon zuvor für ihn getan haben. (Rein logisch gesehen, widerlegt er dann nicht den Autor, sondern genau genommen die ausgewählte Interpretation desselben; wobei laut Popper definitive Widerlegungen auf dem Gebiet der empirischen Wissenschaften grundsätzlich unmöglich zu führen sind.)

Für Fall (a) können folgende Paradebeispiele angeführt werden:

Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse. Bd. 1, Göttingen 1965 (zuerst: 1952)
John Kennedy Galbraith: A history of economics. The past and the present. London 1987
Ernesto Screpanti, Stefano Zamagni: An Outline of the History of Economic Thought. Oxford 1993
Edgar Salin: Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Platon bis zur Gegenwart. 5. erw. Aufl. 1985
Joachim Starbatty: Die englischen Klassiker der Nationalökonomie. Lehre und Wirkung. Darmstadt 1985

Für Fall (b) können folgende Paradebeispiele angeführt werden:

Mark Blaug: Economic theory in retrospect. 5. Aufl. Cambridge 1997
Takuo Dome: History of Economic Thought. A Critical Introduction. Aldershot/Vermont 1994
Samuel Hollander: The economics of Adam Smith. Toronto 1973
Samuel Hollander: The economics of Thomas Robert Malthus. Toronto 1996
Samuel Hollander: The economics of David Ricardo. Toronto Buffalo 1979
Samuel Hollander: The economics of John Stuart Mill. Toronto Oxford 1985

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Nachtrag
Wenn man die Analyse von Morishima betreffend Ricardo, Marx, Walras und Keynes betrachtet, so muss man den Eindruck gewinnen (insbesondere wenn man bedenkt, dass derlei Analysen stets auch unter anderen interpretatorischen Blickwinkeln möglich sind!), dass nicht nur zwei alternative Arten der Betrachtung der Theoriengeschichte möglich sind, sondern unendlich viele.

Insofern ist auch das "neo-hegelianische" Schema von POPPER (in seinem Artikel "Was ist Dialektik?") mit dem Übergang von P1 zu P2 zu simpel, weil uni-linear. Wenn Poppers Historizismuskritik sich gegen Unilinearität von Entwicklung richtet, warum dann lediglich P1-P2-P3... annehmen?!

Wir haben in den Sozialwissenschaften nicht nur Multiparadigmität, sondern auch eine komplexe Evolutionsmöglichkeit aus den Bausteinen dieser Paradigmata heraus (ähnlich der Kombinatorik der Gene in der natürlichen Evolution). SCHUMPETER (1965:35) erkennt in seiner Geschichte der ökonomischen Analyse auf eine Filiation der wissenschaftlichen Ideen - die verbunden sind mit entsprechenden Problemstellungen.

Das soll jedoch bitte nicht legitimieren, den Unterschied zu leugnen oder zu ignorieren zwischen der historischen Wahrheit (dessen, was ein historischer Autor gesagt und gewollt hat) und dem, was man aus dessen Theoriebausteinen logisch und theoretisch machen, d.h. herauskonstruieren bzw. reinterpretieren kann).

== Anmerkungen ==

(1) "The attractive but fatal confusion of utilizable sociological theory with the history of sociological theory - who said what by way of speculation or hypothesis? - should long since have been dispelled by recognizing their very different functions." (Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure. The Free Press, Glencoe, Ill. 1957. S. 4)

(2) „The attempt to claim a privileged position vis-a-vis a scholarly competitor through the creation of a myth of scientific legitimacy is an old tactic. Those who call themselves Sociologists of Science, and those who study the social contours of the scientific enterprise, will be well acquainted with such attempts to creatively write history. And let there be NO DOUBT that attempts such as these are attempts to write for oneself a privileged position in the documentary record. No less than a ploy to gain immediate legitimacy at the expense of a competitor, it is a maneuver to ensure history is written in a specific way and from a specific position with a specific champion of science, objectivity, neutrality, and rigour on top."

(To the Editors of Sociological Research Online (SRO), EJS COLLECTIVE)

Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse. (hrg. Elizabeth B. Schumpeter). Erster Teilband. Göttingen Vandenhoeck Ruprecht 1965.

Dienstag, 12. Mai 2009

Metaphysik und Ökonomie

Mit der Philosophie ist es wie mit der Ideologie: Man bemerkt den Splitter im Auge des Andern, doch das eigene Brett vorm Kopf sieht man nicht.

Ein ganz besonderer Fall sind seit jeher die Ökonomen vom Fach. Denn die "reine Ökonomie" wurde ureigens zu dem Zweck erfunden, diesen Herren ein eigenes professionelles Betätigungsfeld zu eröffnen (was man getrost mit der Verhaltensforschung als Territorialverhalten kennzeichnen darf). Es ist die Fachideologie der Ökonomen, dass ihre ökonomischen Aussagen rein sachlich-objektiv seien und unabhängig nicht nur von jedweder anderen Wissenschaftsdisziplin, sondern insbesondere auch von Philosophie, Metaphysik oder Ideologie.

So wiederholt sich auch auf der Bühne bei dem Lehrstück "Arbeitswerttheorie" das gewöhnliche Schauspiel.

1965 schrieb Joan Robinson (1966:vii):

"The academics did not even pretend to understand Marx. It seemed to me, that, apart from prejudice, a barrier was created for them by his nineteenth-century metaphysical habits of thought, which are alien to a generation brought up it inquire into the meaning of meaning. I therefore tried to translate Marx's concepts into language that an academic could understand. This puzzled and angered the professed Marxists, to whom the metaphysics is precious for its own sake."

Demzufolge war es nicht schwierig für Wolfgang Müller (1969:40), Positivismus bei Robinson zu erkennen und eine entsprechende Retourkutsche zu fahren:

"Bereits das Einleitungskapitel dieser Arbeit läßt erkennen, daß der wesentliche Mangel der Robinson'schen Marx-Auffassung ihre naiv-positivistische Methode, oder besser Methodenlosigkeit, ist, mit der sie alles dem gesunden Menschenverstand nicht Verdauliche als 'Hegelian stuff and nonsense' eliminiert."

Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall.

Hier "Metaphysik" und Vernarrtheit in Begriffe (Die Argumentation in Kapital, Bd. I beginne mit einer "rein dogmatischen Aussage"; Robinson 1966:12), dort "Positivismus" und Theorieverleugnung und methodenlose Reflexionsverweigerung.

Wenn man indes von der polemischen Rhetorik abstrahiert, muss man bei einem Theorievergleich erkennen, dass es sich hier weniger um Streit über Theoreme und diesen entsprechende Daten handelt, sondern zuvorderst einen um die jeweiligen metatheoretischen Standpunkte. Mit dem wesentlichen Unterschiede, dass Wolfgang Müller glaubt, eine so geforderte Metatheorie bei Marx ausweisen zu können, während Joan Robinson glaubt, dass der Ökonom vom Fach grundsätzlich bei seinem Geschäfte ohne eine solche Metatheorie auskommen zu können glaubt, solange es sich nur um die "Sache" der Ökonomie handele. Letzteres ist gewiss ein Irrglaube, der aber kennzeichnend ist für die Fachideologie der Fachökonomen und gewiss auf deren akademisch anerzogene Unfähigkeit zu lernen zurückgeführt werden darf. Um es ironisch auszudrücken: Was ein Ökonom vom Fach braucht, ist eben keine ökonomische Theorie, sondern eine mathematische Formelsammlung und das entsprechende statistische Handwerkszeug; alles weitere liefert sodann der Arbeitgeber. Einen gewissen Vorgeschmack auf diese Berufssituation gibt schon Schumpeter (1952).

Es liegt natürlich eine ungeheurliche Unverfrorenheit von Marxisten darin, von englischen Ökonomen zu erwarten, den Beitrag Hegels in "Das Kapital" zu würdigen, wenn schon die meisten deutschen Philosophen ebenso wie Karl Popper es vorgezogen haben, Hegel auch dann zu widerlegen, selbst wenn sie ihn eingestandenermaßen gar nicht verstanden haben. Andere noch verkehren Spinozas Ausspruch Ignoratio non est argumentum ins gerade Gegenteil. Eine Theorie, die man nicht kennt, muss deswegen aber nicht falsch sein. Wieder andere spielen uns das Lied vom "toten Hund", mit dem Fehlschluss von der fehlenden Akzeptanz auf die Falschheit einer Theorie. Es ist die Konsenstheorie der Wahrheit. Sie wurde von Jürgen Habermas vertreten und vom Kritischen Rationalismus strikt abgelehnt. Die Praxis in den Wissenschaften (peer review und andere Formen der Gläubigkeit an wissenschaftliche Autoritäten und den von ihnen verkörperten "Stand der Wissenschaft"; der allein selig machende main stream bzw. wie man in echten Priesterseminaren sagt: (extra ecclesiam nulla salus), etc.) kommt dieser Wahrheitstheorie indes recht nahe. Und es steht die Frage, ob Poppers Annäherungstheorie doch auch nichts anderes sei als eine religiöse Glaubenshoffnung, dass letzten Endes irgendwann die Wahrheit (bzw. das Wahrere) ans Tageslicht trete. Yes, we can! ist auch der Glaube der Wissenschaft.

Wolfgang Müller (1969:40) stellt schockiert fest, dass für Robinson Definitionen "beliebige Veranstaltungen des forschenden Subjekts" seien; selbst wenn es sich etwa um den Wertbegriff handeln sollte.

"Whatever inward meaning the conception of value may have for a student of Hegel, to a modern English reader it is purely a matter of definition. The value of a of a commodity consists of the labour-time required to produce it, including the labour-time required by subsidiary commodities which enter into its production." (Robinson 1966:13)

Robinson rechnet grundsätzlich in Preisen, wobei "Werte" für sie "Produktionspreise" darstellten (Wolfgang Müller 1969:41). Für Marxens Erkenntnistheorie sei aber die Dialektik von Wesen und Erscheinung grundlegend:

"Der innere Zusammenhang des 1. mit dem 3. Band, die Übergänge von der Ebene des Wertes und seiner quantitativen und qualitativen Analyse über verschiedene Stufen zu den Erscheinungsformen der Marktpreise, also die strukturell-genetische und dialektisch-materialistische 'Darstellung' des Kapital, sind von ihr in keiner Weise als Problem erkannt worden." (Wolfgang Müller 1969:40)

Robinson (1966:22) urteilt hingegen:

"... no point of substance in Marx's argument depends upon the labour theory of value."

Und noch Robinson (1966:xi) wiederholt:

"As a logical process, the ratio of profits to wages for each individual commodity, can be calculated when the rate of profit is known. The transformation is from prices into values, not the other way.
Therefore, in spite of the offence which it has given, I cannot withdraw the remark at the end of Chapter III. (s.o.) The concept of value seems to me to be a remarkable example of how a metaphysical notion can inspire original thought, though in itself it is quite devoid of operational meaning."

Der Haken beim Positivismus ist halt der, dass der Positivist eine implizite Metatheorie anwendet, welche er für Logik reinsten Wassers (oder mathematische Wahrheiten) hält, wenn sie ihm überhaupt bewusst wird. Marxens Metatheorie sei Metaphysik; wenn Robinson hingegen Werte aus Preisen ableitet, so folgt sie damit "nur" der Logik der Mathematik. Sodann hält sie es ebenso für völlig überflüssig, genauer auszuführen, was in ihren Augen (bzw. gemäß der von ihr implizit angewandten Metatheorie!) eine "operationale" Bedeutung von Begriffen sei. Und ob es überhaupt erforderlich sei, dass jedweder Begriff einer Theorie eine solche operationale Bedeutung aufzuweisen habe. Kurioserweise werden solche operationalistischen oder empiristischen Anforderungen gegen kaum eine ökonomische Theorie geltend gemacht, mit Ausnahme der Marxschen. Wenn sich Marxisten durch derlei hohe Erwartungen auch geehrt fühlen, so sollten sie doch nicht unrealistisch hoch sein.

Der Punkt ist also: Wenn Robinson den Wertbegriff ablehnt oder für überflüssig hält, dann liegt dies mehr an Robinsons eigentümlicher Metatheorie, bzw. was sie für eine fachökonomisch relevante Problemstellung und angemessene Methodologie hält als an besonderen ökonomischen "Fachargumenten". Die Marxsche Theorie ist demnach schon zugerichtet, bevor sie hingerichtet wird.


Joseph A. Schumpeter: Staatsreferendare und Staatsassessor. In: Aufsätze zur ökonomischen Theorie. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) : Tübingen 1952. S. 566 ff. (Aus: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft. Jg. 52, 1928, S. 703-720)

Joan Robinson: An Essay on Marxian Economics. London Basingstoke 2. Aufl. 1966

Wolfgang Müller: Habermas und die Anwendbarkeit der Arbeitswerttheorie. Sozialistische POLITIK, 1. Jg. Nr. 1 April 1969. S. 39ff.

„Hier fehlt die historische Distanz und eine kritische Auseinandersetzung“

So Stauffen betreffend die Arbeitswerttheorie in der diesbezüglichen Diskussion.

Bevor man sich auf die Sache einlässt, wird auf diese Weise schon eine Theorie nicht erledigt, sondern abgefertigt, bevor man sie überhaupt zur Kenntnis genommen hat bzw. den Versuch dazu für wert hält. Dazu hat schon Joseph A. Schumpeter, dieser Altmeister der Geschichtschreibung der ökonomischen Theorien, alles Notwendige gesagt:

„Jeder wirklich durchdachte Gedankengang hat einen Anspruch darauf, in allen seinen Einzelheiten nachgedacht zu werden. Nicht allein, um ihn kritisch zu prüfen und weiterzubauen, ist das nötig, sondern auch, um ihn bloß wirklich zu verstehen. Mit der bloßen Lektüre ist es nicht getan, und ein Gedankengang, dem nicht mehr wird als das, muß steril bleiben für jedermann mit Ausnahme seines Schöpfers. Nur eine auf den Grund gehende Analyse läßt uns seinen Inhalt und dessen Bedeutung vollständig verstehen; nur wenn wir das Gefühl haben, zu wissen, was seinen Autor zu gerade seiner Stellungnahme in jedem Detail veranlaßte, haben wir uns ihn zu eigen gemacht; nur dann können wir wirklichen Nutzen aus ihm ziehen und ihn beurteilen.“ (Schumpeter 1952:266)

Schumpeter zieht dann den Vergleich mit einem Bridgespieler: Einem Beobachter erschließt sich nur dann den vollen Sinn seines Vorgehens, wenn er sowohl die Spielregeln als auch seine Strategie kennt.

„Fast könnte man dasselbe von einem theoretischen Gedankengange sagen: Was will sein Schöpfer mit jedem seiner Glieder? Erreicht er, was er will und wieso? Ist ein bestimmtes dieser Glieder Resultat von Beobachtungen oder eine Annahme? Ist es eine Aussage über Tatsachen oder lediglich eine methodologische Maßregel? Alle diese Fragen muß man beantworten können; kann man das nicht, so ist man der betreffenden Theorie nicht gewachsen.“ (Schumpeter 1952:266)

Wer eine Theorie kritisieren möchte, der muss sie erst kennen (ihre Problemstellung sowie ihre Lösungsversuche, außerdem bekannte Alternativen hierzu, vgl. Theorievergleich). Dass diese Kenntnis bei der Arbeitswerttheorie überhaupt nicht gegeben ist, zeigt nicht nur die genannte Diskussionsseite, sondern auch der Blick in die sog. „Fachliteratur“.

„Und wer für solche Dinge keinen Sinn hat, keinen Geschmack daran findet, wird niemals die Faszination verstehen, die die trockenste Materie für den Theoretiker haben kann, ganz unabhängig von irgend welcher praktischen Bedeutung – die Faszination theoretischer Arbeit selbst ohne Rücksicht auf ihr konkretes Substrat; er wird der Tätigkeit des Theoretikers ebenso verständnislos gegenüberstehen, wie einem Sporte, den er nicht selbst ausübt.“ (Schumpeter 1952:266)

Die Angewohnheit, eine Theorie oder Wissenschaft nach dem (voraussichtlichen) Nährwert für sich selbst bzw. für den eigenen Geschmack abzuurteilen, ist weit verbreitet und altbekannt, wie folgender Kurzdialog [CLAUDIUS (1775) 1, 207) aus Grimms Wörterbuch] beweist:

Hinz. bist auch für die philosophei?
Kunz. was ist sie denn? so sags dabei.
Hinz. sie ist die lehr, dasz Hinz nicht Kunz und Kunz nicht Hinze sei.
Kunz. bin nicht für die philosophei.

Auch Schumpeter bemerkt, dass seine Empfehlung insbesondere auf dem Gebiet der Nationalökonomie wenig Beachtung geschenkt wird- ganz im Gegenteil. Man kümmert sich in der Regel kaum um die präsentierte Theorie an sich.

„Der Vorgang ist meist ein anderer: man späht in einer Theorie nach ihren praktischen, womöglich politischen, Spitzen und urteilt über sie, je nachdem man dieselben billigt oder verwirft. Höchstens fällt dem Leser noch irgend eine scharf formulierte Grundannahme, ein blinkender Satz, ein wohlbekanntes Schlagwort oder sonst ein besonders hervorstechender Zug auf. Und aus diesen Einzelheiten wählt man sich einen Zankapfel aus, um den dann erbittert gestritten wird, mit aprioristischen Obersätzen, Philosophien jeder Art, mit Analogien und Metaphern – obgleich so gar nie Klarheit erlangt werden kann und obgleich jener Zankapfel möglicherweise ganz nebensächlich ist.“ (Schumpeter 1952:267)

Schumpeter leitete mit diesen seinen Bemerkungen seine Analyse der Zurechnungstheorie von Eugen Böhm-Bawerk und Friedrich von Wieser ein. Sie sind jedoch allgemeiner Natur, indem sie auf die Unsitten der wissenschaftlichen Kommunikation zwischen Ökonomen sowie dem interessierten Laienpublikum hinweisen. Und sie werfen gewiss ein erhellendes Schlaglicht gerade auch auf den öffentlichen Umgang mit der Arbeitswerttheorie, wie er seit Jahrzehnten eingerissen ist. Mittlerweile existieren über ihre Problemstellung wie ihren angebbaren Inhalt so viele Lesarten und Legenden, Kritiken und Widerlegungen, wie Marx-Kritiker und Marx-Verteidiger.

Fast könnte man meinen, dass das Marxsche KAPITAL genauso wie die Bibel ein Buch ist, über das jeder mitreden und eine feste Meinung haben kann, ohne es je gelesen zu haben. Auf diesem Hintergrunde kann man nachvollziehen, dass Joan Robinson, nachdem auch sie das Buch einmal zur Hand genommen hatte, ganz überrascht war, was sie tatsächlich darin gefunden hatte.

„I began to read Capital, just as one reads any book, to see what was in it; I found a great deal that neither its followers nor its opponents had prepared me to expect.” (Robinson 1966:vi)

Freilich ist Joan Robinson bei ihrem ersten Versuch, dem Marxschen Opus gerecht zu werden, auch nicht weit gekommen. Aber immerhin, in Gegensatz zu vielen anderen Akademikern, die Marx (oder Hegel) amtspflichtsgemäß en passant in einer Fußnote „erledigen“, hat sie nicht nur selbst den Versuch unternommen, sondern ihn auch sogar veröffentlicht.

Joseph A. Schumpeter: Bemerkungen über das Zurechnungsproblem. In: Aufsätze zur ökonomischen Theorie. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) : Tübingen 1952. S. 266 ff. (Aus: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd. 18, 1909, S. 79-132)

Joan Robinson: An Essay on Marxian Economics. London Basingstoke 2. Aufl. 1966