Freitag, 13. August 2010

2.) Ist Theorienvergleich überhaupt möglich?

---

Die Diskussion des Theorienvergleichs droht jedoch zu scheitern, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Es wird nämlich angezweifelt, ob Theorien überhaupt in jedem Falle miteinander verglichen werden können.

Die Inkommensurabilitäts-These lautet in der Explikation von Giesen/Schmid (1978, S. 234) wie folgt:

"1. Ein theoretischer Begriff (oder die Menge aller theoretischern Begriffe) S in einer Theorie T kann nur dann verstanden werden, wenn die zentralen Behauptungen von T bekannt sind:
Die Bedeutung von S ergibt sich aus der Verwendung von S in T.

2. Wenn T durch eine andere Theorie T' modifiziert oder ersetzt wird, ändert sich folglich die Bedeutung von S auch dann, wenn S sowohl in T wie in T' Verwendung findet."

Gegen These 1 lässt sich einwenden, dass sie überzogen erscheint. In der Regel ist bei den meisten Begriffen einer Theorie bereits ein gewisses Vorverständnis vorhanden (S. 235), so dass sich ihre Bedeutung nicht erst aus dem Gebrauch innerhalb der bestimmten Theorie ergibt (es sei denn, man wendet hierbei mit Absicht eine entsprechende Immunisierungsstrategie an!).

Des Weiteren wird die Zusatzthese vertreten, dass jede Theorie T durch ihre Begrifflichkeit S ihren eigenen empirischen Geltungsbereich bestimmte.

Dies ist jedoch ein Fehlschluss aus der (völlig richtigen These), dass die schon die Konstatierung eines singulären Sachverhalts zumindest eine minimale Theorie zur Voraussetzung hat, auf die falsche These, dass allein eine bestimmte Theorie T diese Voraussetzung erfüllen könne. Vielmehr können diese Theoriefunktion auch sog. "Hintergrundstheorien" (wie etwa Mess- oder Beobachtungstheorien) hinreichend erfüllen (S. 235).

Gegen These 2 ist einzuwenden, dass auch sie den Bedeutungswechsel von S in T nach T' in übertriebener Weise dramatisiert. Zum einen kann es sehr wohl vorkommen, dass die Bedeutung eines Begriffs innerhalb einer anderen Theorie T' gegenüber derjenigen in T völlig oder nahezu identisch bleibt.

Zum anderen reicht es für Zwecke vergleichender Kritik meist durchaus aus, wenn die Begriffe S und S' vielleicht nicht in ihrer Intension, jedoch in ihrer Extension übereinstimmen (S. 236).

Die vorgebrachten Argumente sind so schlagend, dass die Inkommensurabilitäts-These zumindest in ihrer radikalen Form nicht aufrechterhalten werden kann. Plausibel werden die Gegenargumente auch durch den Hinweis auf den wissenschaftsgeschichtlich erhärtbaren Fakt, dass intertheoretische Kritik und auf Grundlage derselben eine Abänderung von Theorien immer schon stattgefunden haben. Es scheint recht unwahrscheinlich, dass sich all diese Vorgänge außerhalb oder gar gegen jedwede Logik abgespielt haben sollten.

Sehr viel wichtiger als die Frage, ob es eine absolute Inkommensurabilität gibt oder nicht gibt, ist die Feststellung, dass durch die Beschäftigung mit dieser vordergründigen Frage der Blick auf diese methodologische Entscheidungssituation verstellt wird:

* Wollen wir Kritisierbarkeit von Theorien herstellen?

* Oder wollen wir das Bedeutungs- und Anwendungsgebiet einer Theorie so abschotten, dass sie mit nichts und niemandem kollidieren kann?

Was würde letzteres nutzen, außer dem Theoretiker ein trügerisches Gefühl der Sicherheit zu verschaffen. Und ein kommunikationsloses Hoheitsgebiet, womit man höchstens anderen armen Geistern (scholastische Gelehrte und ihre Dogmatik gläubigen Schüler) imponieren könnte.

Herstellung von Kritisierbarkeit heißt Exposition der eigenen Theorie in einer für intertheoretische Kritik offenen Sprache. In Gegensatz zum Verschanzen hinter einer eigenen, selbst gestrickten esoterischen Sprache.

Letztere Tendenz zu bekämpfen, kann Kommensurabilität und damit Kritikfähigkeit immer durch die Erfindung geeigneter Übersetzungsregeln hergestellt werden.

Selbstverständlich muss eingeräumt werden, dass es durchaus der Fall sein kann, dass in bestimmten Einzelfällen T und T' tatsächlich inkommensurabel sein können. T und T' können insofern aneinander vorbei sprechen, als sie über völlig heterogene Sachgebiete sprechen. Dann ist ein Vergleich sinnvoll kaum möglich. Allenfalls kann man dann versuchen, eine Theorie T'' zu konstruieren, welche sowohl T als auch T' bzw. deren Anwendungsfälle in sich aufzunehmen erlaubte.

Letztlich ist auch noch zuzugeben, dass eine Vergleichbarkeit zweier Theorien T und T' meist nicht ohne weiteres gegeben ist. Die theoretischen Ansätze oder Theorien müssen in der Regel erst sorgfältig rekonstruiert und dabei sprachlich so präzisiert werden, dass eine fruchtbare Diskussion über beide zusammen erst durchführbar erscheint. Dabei entsteht häufig ein Problem der Identifizierbarkeit bzw. des authentischen harten Kerns einer bestimmten Theorie.

Zum Beispiel der Historische Materialismus: Was sagt dieser denn über das Klassenbewusstsein? Was ist überhaupt seine zentrale Aussage, womit er seine Identität verlöre, wenn man sie aufgäbe?

Häufig mag der Fall sein, das sich die Anwendungsbereiche zweier Theorie abstrakt gesehen überschneiden mögen. Es liegen jedoch die betreffenden Theorien formal in unterschiedlich gut ausgearbeiteter Form vor. Wenn man beide geziemend vergleichen möchte, muss man erst beide auf dasselbe Niveau der Formalisierung heben. Das ist keine prinzipielle Schwierigkeit; wohl aber kann die praktische Umsetzung umständlich sein sowie Zeit und Mühe erfordern.

Die Inkommensurabilitäts-These weist ferner auch eine wissenssoziologische Dimension auf. Unterschiedliche Theorien sind aus unterschiedlichen Lebens- und Sinnzusammenhängen heraus entstanden; allein schon daraus erwachsen in sprachlich-pragmatischer Hinsicht Kommunikationsschranken.

"Wenn wir ein Paradigma verstehen wollen, müssen wir in ihm sein, d.h. wir müssen es 'praktisch' übernehmen: mittun beim Handeln derer, die es besitzen, miterleben, was für sie problematisch ist, wie sie Probleme lösen usw.; es bedarf in der Tat eines Übergangs in eine fremde Wirklichkeit. Ohne diesen lässt sich der Sinn der aus ihr geborenen Theorien nicht angemessen erfassen." (Klinkmann, zit. bei Matthes 1978, S. 20)

Auch hier gilt, dass hier unzulässiger Weise eine praktische Schwierigkeit zu einer prinzipiellen Unmöglichkeit überhöht wird.

Klinkmann deutet diese Einsicht selber an, wenn er sagt, dass "gegenwärtig" keine Gruppe von Wissenschaftlern existiere, die in mehreren Paradigmata zu Hause sei. Was "gegenwärtig" nicht existiert, kann gestern existiert haben bzw. morgen existieren!

Wenn dies Argument wahr wäre, dürft es auch völlig unmöglich sein, aus einer lebendigen Sprache in eine andere zu übersetzen. Oder überhaupt eine Fremdsprache als Fremdsprache zu lernen. Denn auch hier gilt das Argument vom unterschiedlichen Sinn- und Lebenszusammenhang, etwa der Deutschen und der Chinesen.

Dass eine solche Übersetzbarkeit praktisch immer nur bis zu einer bestimmten Grenze zu bewältigen sein wird, das kann zugestanden werden. Der mit praktisch vertretbarem Aufwand erzielbare Grad an Verständigung dürfte aber in der Regel stets hinreichen, um eine fruchtbare wechselseitige Kritik zwischen beiden Welten austauschen zu können.

Unterschiedliche Erkenntnisinteressen können zu unterschiedlichen Problemstellungen für die wissenschaftliche Forschung führen. Wissenschaftliche Probleme unterscheiden sich meistens dadurch, dass sie in unterschiedlichen Intentionszusammenhängen stehen. Damit ist jedoch nicht notwendiger Weise eine "Partikularisierung" (S. 14) des Geltungsbereiches der einzelnen Theorien verknüpft. Die Beziehung auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse sowie die relevante Problemstellung sollte in jedem Fall aber expliziert werden. Damit ist dann aber nicht die Geltungsproblematik einer Theorie angesprochen, sondern die Relevanz von Forschung und Forschungspolitik für die Wissenschaft in deren jeweiliger Gesellschaft.

Man kann aus unterschiedlichen, ja sogar aus gegensätzlichen Interessen auf dasselbe Forschungsproblem stoßen. Schwerwiegende Probleme für eine intertheoretische Kritik entstehen hieraus grundsätzlich nicht. Wenn auch gegenläufige Interessen zum Ansteigen des Rauschens im Kommunikationskanal wegen sachfremder Polemiken oder Vertauschen von Sachargumenten mit Werturteilen führen mögen.

Es ist auch die Möglichkeit einer fruchtbare Kritik zwischen T und T' vorstellbar, welche zwar aufgrund unterschiedlicher Problemstellungen P bzw. P' gebildet wurden, nichtsdestoweniger eine Schnittmenge eines gemeinsamen Objektbereich aufweisen können. Hierbei dreht es sich also darum, die Meinungsdifferenzen auf dem Felde auszutragen, wo sie effektiv vorhanden sind. Und nicht sogleich das Kind des Theorienvergleichs mit dem Badewasser der divergierenden Erkenntnisinteressen auszuschütten.

---

Giesen/Schmid 1978: Bernard Giesen, Michael Schmid, Methodologische Modelle und soziologische Theorien, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 232-254.

Hondrich/Matthes 1978: Karl Otto Hondrich, Joachim Matthes (Hrg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt Neuwied 1978.

Matthes 1978: Joachim Matthes, Die Diskussion um den Theorienvergleich seit dem Kasseler Soziologentag 1974, in: Hondrich/Matthes 1978, S. 7-20.

---

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen