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Dienstag, 23. Juni 2009

Popper und Max Weber

"Die Theorie, daß sich zwar die physikalischen Wissenschaften auf einen methodologischen Nominalismus gründen, daß aber in den Sozialwissenschaften essentialistische ('realistische') Methoden angewendet werden müßten, wurde mir im Jahre 1925 von K. Polanyi klargemacht; Polanyi hat damals darauf verwiesen, daß sich durch Aufgeben dieser Theorie möglicherweise eine Reform der Methodologie der Sozialwissenschaften erreichen ließe.- Die Theorie wird in gewissem Ausmaße von den meisten Soziologen vertreten, insbesondere von J. ST. MILL (z.B. in seiner Logik, Bd. VI, Kapitel VI,2; vgl. auch seine historizistischen Formulierungen, z. B. in Bd. VI, Kapitel X, letzter Absatz: 'Das Grundproblem ... der Sozialwissenschaft besteht in der Auffindung von Gesetzen, nach denen jeder Zustand der Gesellschaftsordnung einen ihm nachfolgenden Zustand hervorbringt...", K. Marx (siehe unten), Max Weber (vgl. z. B. seine Definitionen 'Soziologische Grundbegriffe', in Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. I, S. 1ff., auch in den Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre), G. Simmel, A. Vierkandt, R. M. MacIver und vielen anderen. - Der philosophische Ausdruck all dieser Tendenzen findet sich in Husserls 'Phänomenologie', die eine systematische Wiederbelebung des platonischen und aristotelischen methodologischen Essentialismus ist." (POPPER 1992:262, Anm. 41:30)

In einer Art anti-essentialistischem Rundum-Verfolgungswahn sieht Popper Essentialismus in der Soziologie allerwegen und allerorten. Dabei wirft er wahllos die unterschiedlichsten Metatheorien in einen und denselben Topf, "Essentialismus" genannt. Auf diese Weise werden etwa Marx, Weber und Husserl alle in denselben Käfig gesperrt (vielleicht damit sie sich gegenseitig totbeißen?!).

Anscheinend hat Popper schon ausgereicht, dass Max Weber in bewährter juristischer Manier Definitionen entworfen und zusammengestellt hat, um ihn als Essentialisten zu identifizieren. Wie aber etwa eine Rechtswissenschaft ohne Definitionen auskommen könnte, das hat Popper nicht erforscht.

Wer nach der Manier essentialistisch=überholt=falsch=übel die Theoretiker rubriziert, hat es einfach, "Ideengeschichte" zu schreiben. Der Erkenntnisfortschritt wird dadurch blockiert, weil diese Art von Ideengeschichte nicht über ideologisches Etikettieren hinauskommt und darüber hinaus aufgrund dogmatischer Setzungen wissenschaftliche Erkenntnisperspektiven abgeschnitten werden, weil aus anti-marxistischem Eifer heraus ideologisch gegründete Denk- und Forschungsverbote errichtet werden.

Wenn man Popper glauben will, so darf Sozialwissenschaft nicht erforschen, wie gesetzmäßig ein Zustand der Gesellschaft aus einem anderen folge. Denn das wäre dann sogleich "Historizismus" (d.h. also: Prophetie, Orakeln, ...). Gescheiterte Ökonomen werden freilich erleichtert mit Popper sagen können, dass jedwede Konjunkturtheorie nur Unsinn sein könne, und sich auf ihre bewährte reine Theorie zurückziehen können. Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist!

Es ist jedoch erfreulich festzustellen, dass ernsthafte Soziologen und Politologen hier das Beste machen, was sie tun können, nämlich Poppers idiosynkratische Phobien ignorieren.

"The pivotal assumption of this analysis is that social science research, including comparative inquiry, should and can lead to general statements about social phenomena. This assumption implies that human or social behavior can be explained in terms of general laws established by observation. Introduced here as an expression of preference, this assumption will not be logically justified.
It is this kind of assumption that accompanied the development of comparative inquiry during the last two centuries. The corollary of this assumption is that social behavior conforms to a limited number of recognizable patterns. One of the major patterns identified by social scientists such as Comte, Marx, Durkheim, Weber, and Spencer is that societies undergo a structured process of development." (PRZEWORSKI/TEUNE 1970:4)

Notabene: Popper maskiert seine ideologische Präferenz als "Ziel der Erfahrungswissenschaft" oder als "Abgrenzung von empirischer Wissenschaft gegen Pseudowissenschaft und Metaphysik" (WENDEL 1998:41). - Unsere zitierten Sozialwissenschaftler sprechen stattdessen unverhüllt von ihren eigenen, logisch unabgeleiteten Präferenzen, die sie zum Startpunkt ihres Forschungsprogramms wählen. Wer ist hier Fallibilist?! Wer ist hier Dogmatiker?!

== Literaturangaben ==
Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd1: Der Zauber Platons. Tübingen 7. Aufl., 1992 (zuerst: 1944).
Adam Przeworski, Henry Teune: The Logic of Comparative Social Inquiry. Wiley-InterscienceNew York, London, Toronto, Sydney 1970. ISBN 471-70142-4.
Hans Jürgen Wendel: Das Abgrenzungsproblem (I. Kap., Abschn. 4). In: Herbert Keuth, (Hg.): Logik der Forschung. Akademie Verlag Berlin 1998. ISBN 3-05-003021-6.

Sonntag, 21. Juni 2009

Schizophrener Essentialismus und dogmatischer Kritizismus

Die dogmatisch-kritizistische Methode des schizophrenen Essentialismus

„Der Essentialismus geht in Anlehnung an die Ideenlehre von Plato davon aus, daß es einen Kosmos idealer Wesenheiten real gebe, auf den Begriffe a priori bezogen seien, und daß es die Aufgabe der Wissenschaft sei, die irdischen Erscheinungen jenen idealen Gegenstandsklassen begrifflich zuzuordnen. Dabei wird angenommen, daß den idealen Wesenheiten bestimmte innere Zielsetzungen und Bewegungstendenzen innewohnten, denen dann auch die vom Wissenschaftler qua Definition zugeordneten empirischen Erscheinungen folgen. Das Verhalten von Gegenständen wird also dadurch ‚erklärt‘, daß man sie den abstrakten Wesenheiten definitorisch zuordnet, die dieses Verhalten als inneres Bewegungsgesetz, als inhärente teleologische Tendenz aufweisen.“ (ESSER 1993:59)

Man konstruiere sich ein essentialistisches Monster (genannt: Essentialismus, Historizismus, Dogmatismus, …) und besiege es in 1-2-3 Zügen!

Statt sich mit den Argumenten und Theorien historisch bestimmter Autoren en détail auseinanderzusetzen, bastelt sich Karl Popper selber, auf welchen Esser hierfür verweist, einen idealtypischen Gegner aus der Retorte, im Wege einer relativ unbestimmten Wesensdefinition, die in rhetorisch bewährter Schwarz-Weiß-Manier (alternativradikalistisch) aufs Kampffeld des „Kriegs der Ideen“ geführt wird.

Hierbei werden keine Probleme mehr aufgestellt und zu lösen versucht, sondern Pseudo-Begriffe klappern in ihren Blechrüstungen aufeinander, ohne dass irgendeine relevante wissenschaftliche Theorie oder gar ein wissenschaftliches Problem dabei ernsthaft zu Schaden käme – zu Schaden kommt lediglich das wissenschaftliche Bewusstsein und das Interesse der Leserschaft, deren Verstand dem ganzen Schlachtenlärm hilflos gegenüber steht und doch bei all diesem Aufwand wissen möchte, worum es denn genau ginge. Beweis: nach so vielen Jahren ist das Publikum immer noch ratlos, was Popper wann und wo mit diesen Begriffen denn genau gemeint hat. Unklare Begriffe so zu verwenden, als ob sie klar werden, ist eine Form auch popperschen Dogmatismus.

Dass die Begriffe unklar bleiben müssen, ist auch durch ihre Entstehung und Handhabung bedingt. Sie markieren fallweise Frontstellungen und Grenzziehungen zwischen Gut und Böse, lassen aber ihren sachlich-theoretischen Gehalt und die Herkunft aus einer wissenschaftlichen oder philosophischen Problemstellung oder Kontroverse nicht mehr erkennen. Statt der Dialektik der wissenschaftlichen Probleme findet eine normativ akzentuierte Dichotomisierung statt, wobei differenziertere Begriffsunterscheidungen, die dem Problem gerecht werden könnten, ignoriert werden (vgl. Poppers Nachbesserung: „modifizierter Essentialismus“).

Dieses popperizistische Erbgut, halb pietätshalber, halb mangels besserer Allgemeinplätze, schwimmt auch noch bei ESSER obenauf mit. Halbheiten in der Darstellung erzielen eine milde Schizophrenie zwischen dem Ziel einer Rundum-Kritik und einer naiv-scholastischen Lehrbuch-Darstellung, die nur den Anschein erweckt, allgemeinverständlich zu sein.
„Was ist Soziologie?“: Esser sagt, dass es keine Wesensdefinition der Soziologie gebe, definiert aber trotzdem, vermutlich weil es in Soziologie-Einführungen schon immer so gewesen ist.
Es gebe keinen Konsens innerhalb der soziologische Theorie; dennoch stellt man „die“ Theorie und „die“ Methode dar!
Popperizismus gibt trivial-billige Allerwelts-Antworten auf ununterdrückbare Fragen und würgt in dieser Weise jedes Problematisieren ab, macht in dieser Weise echtes Verstehen unmöglich. Theorievergleich findet im Konversationsstil ab, indem Theoriealternativen mit Redensarten abgewimmelt werden.

Die natürliche Methode der Kritik: Lesen und kritisch vergleichen

Über Hegels „Arbeiten aus der Gymnasialzeit“ berichtet ROSENKRANZ (1998:15f):
„Allein auch ganze Bücher zu excerpiren hat er, sobald sie ihm wichtig schienen, nie unterlassen und noch sind auch von späteren Zeiten seine Auszüge aus Creuzer’s Symbolik, aus dem ersten Bande von Schleiermacher’s Glaubenslehre, aus Haller’s Restauration der Staatswissenschaften, aus den Schriften des Petersburger Astronomen Schubert u. a. als Denkmale seines eisernen Fleißes vorhanden. Der Bestimmtheit wegen hat er dem Excerpt immer die Quelle hinzugefügt. Durch das Abschreiben drang er bis in die feinsten Fasern des Fremden ein und erreichte es, sich auf jeden, auch den individuellsten Standpunkt zu versetzen und dessen eigene Terminologie reden zu können. In der Kritik verstand er es daher so meisterhaft, ‚sich in den Umkreis des Gegners zu stellen‘ und dessen Ansicht so zu entwickeln, als ob sie seine eigene wäre. Diese Kraft der Entäußerung zog ihm auch mannigfach den Mißverstand zu, daß oberflächliche und flüchtige Leser solche objective Incarnation Hegel’s mit ihm selbst verwechselten und ihn oft dessen beschuldigten, was er gerade bekämpfte.“

„Wie oft ist daher nicht über seine Sprache gesprochen und wer gegen sein System nichts zu sagen wußte, bekrittelte mindestens seinen Vortrag. Hegel gesticulirte viel, aber die körperliche Geberde wie die Bewegung der Stimme fielen mit dem Gehalt nicht harmonisch zusammen. Bei dem, welcher die Darstellung nach Außen beherrschen kann, weil er mit der Sache fertig ist, tritt zwischen dem Innern und der Aeußerung keine Hemmung ein. Sein Empfinden, Vorstellen und Denken geht momentan in sein Sprechen auf. Bei Hegel blieb in diesem Proceß, auch wenn er sich die Rede vorher zu Papier gebracht hatte, immer noch ein Rest. Er producirte den Inhalt immer von Neuem und konnte ihn daher, auch für den Augenblick, stets nur relativ fertig machen. Dieser Kampf mit der Darstellung, den letzten durchbohrenden, nichts zurücklassenden Ausdruck zu finden, dies unaufhörliche Suchen, diese Fülle von Möglichkeit, erschwerten ihm mit den Jahren, je reicher seine Bildung, je vielseitiger sein Denken und je bedingter seine Stellung durch ihre Größe ward, nicht nur das Sprechen überhaupt, sondern auch das Schreiben und man kann namentlich nichts Zerhackteres, nichts Ausgestricheneres, fortwährend Umgeschriebenes sehen, als ein Hegel’sches Briefconcept aus der Berliner Periode.“ (ROSENKRANZ 1998:16f)

Wer Karl Marx aus eigener Lektüre kennt, wird auch seine Excerpte und Manuskripte kennen. Er kann in natura sehen, dass in der wesentlichen Methode Marxens Arbeitsstil kaum von der bewährten Hegelschen Gymnasiastenarbeitsweise abwich. Und wenn er auch Begriffe wie „Vulgärökonomie“ gebrauchte, so hatte er dennoch auch die Vulgärökonomen mit Text und Quelle zitiert und sich mit ihnen textnah argumentativ auseinandergesetzt: Argumentieren im und am Text.

Im Stile des Popperizismus hätte er aber das Wesen der „Vulgärökonomie“ definitorisch bestimmen müssen, um erst dann hernach es rein logisch zu zerfetzen.

== Literaturangaben ==
Hartmut Esser: Soziologie: Allgemeine Grundlagen. Campus Verlag, 1999. ISBN 3593349604, 9783593349602.
Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1998. ISBN 3-534-13917-1.