Mittwoch, 24. Juni 2009

Das Geheimnis der Kryptonormativität, bei vollem Tageslicht enthüllt

„Meine Interpretation macht aber auch die Gründe deutlich, warum Marx und seine Nachfolger in Vergangenheit und Gegenwart nicht so viel Aufhebens von ihrem zentralen Methodenbegriff - der ja schließlich auch die Basis für die geläufige Rede vom 'Klassengegensatz' und den sogenannten 'gesellschaftlichen Widersprüchen' darstellt - gemacht haben, denn er entspringt einer schlechthin irrationalen Konstruktion, mit deren Hilfe es Marx gelingt, die für ihn offenkundig gewordenen Mängel der Werttheorie in Mangelerscheinungen der kapitalistischen Warenform umzubilden." (BECKER 1972:8)

Werner Beckers Marxkritik ist so wie diejenige von Popper mitnichten originell, da beide Herren ein paar von Marxens Argumente gegen Proudhon (vgl. Marx: Elend der Philosophie) einfach auf Marx selber beziehen.

Gegen Beckers Widerlegungsstrategie lassen sich indessen fundamentale Einwände vorbringen:
1. Es gibt keine definitive Widerlegung einer Theorie.
2. Wie eine Theorie gewonnen worden ist (z. B. bei der Hegel-Lektüre), ist irrelevant im Hinblick auf ihre empirische Geltung.
3. Selbst wenn Inkonsistenzen nachweisbar wären, so ist anstatt einer Katastrophentheorie der Kontradiktion zu folgen und die Theorie pauschal zu verwerfen, es vorzuziehen, die fraglichen Inkonsistenzen zu beheben.
4. Anscheinend unterstellt Becker eine certistische Erkenntnistheorie, wonach eine Ableitung aus "irrationalen" Grundlagen die gesamte Theorie in Bausch und Bogen entwertet.
5. Beckers Rede von "irrational" anstatt von "inkonsistent" deutet daraufhin, dass Becker so ganz nebenbei einer ausgesprochen ideologischen Leidenschaft für Werturteile über missliebige Theorien frönt. Schön für ihn, nicht so schön für die Menschheit.

BECKER (1972:8) will sich nur an „Kapital“, Bd. 1 halten und ignoriert die Grundrisse und die Theorien über den Mehrwert mit dem (lächerlichen) Argument, die Textsituation sei umstritten, und in den ignorierten Texten systematisch unklar (?!). Die ignorierten Schriften würden in der aktuellen Marx-Diskussion einfach überwertet (?!).
"Aber das Wesentliche und Entscheidende liegt in der Tatsache, daß die methodischen Grundlagen der Marxschen politischen Ökonomie in den ersten Kapiteln des ersten Bandes des 'Kapitals' gelegt werden, und um sie geht es in meiner Untersuchung."

Also Becker ignoriert schlicht und einfach den historisch gewordenen Aufbau des marxschen Werkes (der darin besteht, dass er die Bände des "Kapitals" fast in umgekehrter Reihenfolge ihres Erscheinens geschrieben hat) und ignoriert damit systematisch den dialektischen Werdegang bzw. modern ausgedrückt: den Theorievergleich, aus dem heraus insbesondere in den Theorien über den Mehrwert Marx in Kritik der klassischen Nationalökonomie seine Version der Arbeitswerttheorie konstruiert hat. Wer freilich von dem selbstgestellten Problem ausgeht, Marx als irrational abzuqualifizieren, der hat es freilich nicht sonderlich nötig, sich der Mühe zu unterziehen, dessen Theorie einwandfrei zu rekonstruieren.

Schon bei Aristoteles habe das Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert eine "normative bzw. ethische Färbung" (BECKER 1972:12)
„Der aristotelisch-antike Begriff des Gebrauchswerts bemißt sich - jedenfalls ideell - an Verhältnissen wirtschaftlicher Selbstversorgung, an denen ökonomisch autarker Hauswirtschaften. (...) Demgegenüber ist der Gebrauchswertbegriff der neueren Ökonomie von Anfang an auf die Tauschsituation und ein vorhandenes Warenangebot bezogen. Er erklärt den Tauschwert bzw. den Preis der Waren durch Rekurs auf den Nutzen, der sich für den Käufer bei Voraussetzung einer relativen Güterknappheit ergibt.“ (BECKER 1972:13)

Na und?! Becker mag eine Präferenz für die "neuere Ökonomie" haben; aber was die normative Interpretationsmöglichkeit (bzw. "Kryptonormativität") angeht, so können sich Aristoteles, Scholastiker und "neuere Ökonomen" die Hände reichen (nachzulesen bei MYRDAL 1965 und ALBERT 1954). Becker hängt wahrscheinlich einer veralteten Ideologietheorie des Positivismus an (GEIGER 1968); denn er scheint zu glauben, mit dem normativen Geschmäckle einen entscheidenden Einwand gegen den empirischen Gehalt dieser Theorien vorzubringen. Schief gewickelt; vgl. dazu MYRDAL (1965), ALBERT (1980).
"Der aristotelische bzw. scholastische Gebrauchswertbegriff ist insofern dogmatisch-essenzialistisch ausgerichtet, als er von der Vorstellung einer sozial, ökonomisch und anthropologisch mehr oder weniger festgelegten Konstante lebt, die auf diese Weise definiert, was menschliche Bedürfnisbefriedigung bedeutet. Daher sein ethisch-normatives Implikat. Der Wert der Güter, die auf dem Weg des Tausches und Warenhandels erworben werden, weil sie nicht in Eigenproduktion hergestellt werden können, soll sich dann ebenfalls an jener Konstante bemessen. Der Gebrauchswertbegriff der modernen Ökonomie ist dagegen im Prinzip ein relationaler Begriff, eine Verhältnisbestimmung, welche die Relation zwischen der subjektiven Nutzenerwartung des Warenkäufers und der auf der Angebotsseite zur Verfügung stehenden Warenmenge zu erfassen sucht." (BECKER 1972:14)

Also wenn der aristotelische Gebrauchswert in Relation steht zu einer "Konstante der menschlicher Bedürfnisbefriedigung", so ist das "essenzialistisch"; wenn die Nutzenerwartung in Verhältnis gesetzt wird zur angebotenen Warenmenge, so ist das eine "Relation". Das sieht nach Logik aus, ist es aber zweifellos nicht. Nebenbei bemerkt: Wenn Marx im Anschluss an Montesquieu und Hegel von "Verhältnissen" spricht, so meint er damit ebenfalls "Relationen" - so "modern" kann Logik sein!

Und wenn auch Aristoteles noch so ein Essentialist sei, wie er bei Popper im Buche steht, so kann deswegen doch nicht alles, was von ihm gelehrt und gelernt worden ist, deswegen falsch sein. Becker zeigt indes, wie es einem professionellen Marxtöter zusteht, ein Faible für fallbeilartige Pauschalurteile.

Nach einem Ausflug zu Thomas von Aquin, der so primitiv war, Zinswucher abzulehnen findet Becker schließlich die "Anfänge der sogenannten objektiven Wertlehre, der Arbeitswerttheorie, in der scholastischen Philosophie" (BECKER 1972:17f).

Schließlich angelangt bei John Locke und William Petty: „Die ökonomischen Theoretiker der bürgerlichen Emanzipation argumentieren denn auch vorzugsweise gegen die Theorie, die zur gleichen Zeit von der Produktivität und vorher den gesellschaftlichen Reichtum in Abhängigkeit von der Produktivität der Landwirtschaft, d. h. der Fruchtbarkeit der bebaubaren Böden, sahen.“ (BECKER 1972:19)

Nachdem Becker so die altbekannte (vgl. etwa Marx: Theorien über den Mehrwert; HOFMANN 1964) Weisheiten über die befleckte Empfängnis der Arbeitswertlehre aufgetischt hat, fragt man sich, welche Argumente er denn aus dem Entstehungszusammenhang der Theorie gegen deren Geltung ziehen möchte. Wenn er jedoch mit dieser Darstellung wirklich in die marxsche Arbeitswerttheorie einführen wollte, so müsste er erst einmal diese darlegen - und dabei ggf. zeigen, inwieweit diese die oben erwähnten Theoreme (wenn es denn welche sein sollten) übernommen habe - oder ist etwa Aristoteles, Thomas von Aquin, Locke, Petty, ... - alles eines?!
„Gleichwohl enthält auch die neue Arbeitswertlehre ein normatives Element, in welchem man so etwas wie eine Wiederkehr der aristotelisch-scholastischen Bindung des Tauschwerts an den Gebrauchswert erblicken kann.“ (BECKER 1972:20)

Die alte Leier! Eine jede Theorie lässt sich (auch) normativ interpretieren! Beckers These hört sich jedoch an wie die Theorie von der Erbsünde (einmal Sünder, immer Sünder!). Und noch mehr: Diese Erbsündtheorie ist zutiefst Essentialismus reinsten Wassers; denn ihr zufolge ist eine Theorie, die einmal in ihrem Kerngehalt normativ war, immer normativ, trotz ihrer Fortentwicklung über die Jahrhunderte hinweg: ein Makel, der sich nicht auslöschen lässt, der immer in ihr steckt und immer wieder zum Vorschein kommt. O jemine!

Allein schon wegen des marxschen Begriffs "Ausbeutung" werden der AWT gerne normative bzw. "kryptonormative" Tendenzen vorgeworfen. Was auch immer hiermit genau gemeint sei, welche Konsequenzen ergäben sich daraus?
"Daß ein Ausdruck ein Werturteil enthält, rechtfertigt für sich allein, auch wenn er in der wissenschaftlichen Forschung verwandt wird, noch keinen Einwand." (MYRDAL 1965:43).

Wer (wie GEIGER 1968) Werturteile als "ideologisch" abqualifiziert und deswegen aus der Wissenschaft auszuschließen unternimmt, fällt damit selber unter den eigenen Ideologie-Begriff (ALBERT 1980:82).

Unter dem Gesichtspunkt der empirischen Wissenschaft interessiert lediglich, inwieweit (selbst wenn einige Autoren normative Konnotationen beabsichtigt haben bzw. ungewollt dergleichen mitschwingen) Theoreme, die Begriffe wie etwa "Ausbeutung" enthalten, sich empirisch gehaltvoll interpretieren lassen, bzw. welche prüfbare Aussagen über empirisch vorkommende Wirkungszusammenhänge darin enthalten sind.
"Meines Erachtens läßt sich das philosophische Gewand auch immer von der Wirtschaftswissenschaft abstreifen; die Wirtschaftsanalyse ist zu keiner Zeit von den philosophischen Anschauungen der Wirtschaftswissenschaftler geprägt worden, obgleich sie häufig genug durch deren politische Einstellung entstellt wurde. (...)
Der Beweis als solcher wird in den folgenden Teilen erbracht, in denen wir auch aufzeigen werden, daß sogar Wirtschaftswissenschaftler, die sehr stark ausgeprägte philosophische Anschauungen vertraten, wie Locke, Hume, Quesnay und vor allem Marx, sich tatsächlich in ihrer analytischen Arbeit nicht von ihnen beeinflussen ließen.

Der Grund, warum ich die These mit so viel Nachdruck vertrete, daß die Philosophie im technischen Sinne des Wortes schon ihrer Beschaffenheit nach die Wirtschaftsanalyse gar nicht beeinflussen kann und praktisch auch nicht beeinflußt hat, liegt darin, daß die Gegenthese zu einer der Hauptquellen von Scheinerklärungen über die Entwicklungsgeschichte der Wirtschaftsanalyse geworden ist. Diese Scheinerklärungen sprechen besonders solche Historiker der Wirtschaftswissenschaft an, die sich in erster Linie für philosophische Gesichtspunkte interessieren und daher übermäßigen Wert auf Hinweise auf solche Zusammenhänge legen, von denen es ja in der Fachliteratur mehr als genug gibt, und die oft nicht als das erkannt werden, was sie sind - nämlich Verbrämungen, die trotz ihrer Fadenscheinigkeit die Filiation wissenschaftlicher Ideen verschleiern." (SCHUMPETER 1965:64f)


Schließlich ist zum Beispiel der Begriff "Ausbeutung von Naturschätzen" genauso ökonomisch sinnvoll und auch möglicherweise gehaltvoll wie etwa "Ausbeutung der Arbeitskraft". Dass der eine Sachverhalt evtl. andersartige normative Assoziationen weckt als der andere kann nichts an ihrer Bedeutung für die ökonomische Theorie ändern. Wer für Wertfreiheit eintritt, der sollte sich an den empirischen Gehalt von Theorien halten, und sie nicht wegen ihrer normativen Interpretationsmöglichkeiten aus der wissenschaftlichen Debatte hinauswerfen – was sich aber sowieso nur die wenigsten gefallen lassen.

== Literaturangaben ==
Werner Becker: Kritik der Marxschen Wertlehre. Die methodische Irrationalität der ökonomischen Basistheorien des "Kapitals". Hamburg 1972. ISBN 3-455-09071-0.
Wert- und Preislehre. hrg. v. Werner Hofmann, Sozialökonomische Studientexte, Bd. 1, Berlin 1964
Hans Albert: Ökonomische Ideologie und politische Theorie. Das ökonomische Argument in der ordnungspolitischen Debatte. Göttingen 1954
Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. 4. Aufl. Tübingen 1980.
Gunnar Myrdal: Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft. Hannover 1965.
Theodor Geiger: Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens. Luchterhand : Neuwied und Berlin 2. Aufl. 1968.
Joseph A. Schumpeter, (Elizabeth B. Schumpeter, Hg.): Geschichte der ökonomischen Analyse. Erster Teilband. Vandenhoeck Ruprecht Göttingen 1965.

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