Montag, 25. Mai 2009

Institutioneller Marxismus

Gesellschaftliche Entwicklung sieht sich Wolfgang Schluchter zufolge 4 Positionen gegenüber; davon die erste:

"1. den aus dem 19. Jahrhundert überkommenen objektivistischen Geschichtsphilosophien, die Entwicklung und Geschichte letztlich aufeinander reduzieren, ihre universalhistorischen Ansprüche mit der Idee einer Notwendigkeitskausalität verbinden und nach einem Geschichtsgesetz suchen, das die Formulierung einer universalen Stufentheorie erlaubt. Sie unterscheiden sich untereinander vor allem danach, ob sie die Stufentheorie mit retrospektiven oder auch mit prospektiven Ansprüchen versehen, wieviele Stufen sie nennen, welche Richtungskriterien sie auszeichnen und welches Subjekt sie wählen, an dem und durch das das Geschichtsgesetz sich vollzieht,.." (Schluchter 1979:1)

Hierzu die Fußnote 2:

"Solche Positionen werden heute vor allem im orthodoxen Marxismus vertreten, der mit dem institutionellen Marxismus und seinem Dogmatismus nicht identisch sein muß. Vgl. dazu unter anderem URS JAEGGI und AXEL HONNETH (Hrsg.), Theorien des Historischen Materialismus, Frankfurt 1977, bes. Teil I. Die 'klassische' Kritik an den verschiedenen Versionen des Geschichtsobjektivismus findet sich in meinen Augen nach wie vor bei KARL S. POPPER, Das Elend des Historizismus, 4 Tübingen 1974, sowie DERS., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I und II, 5 Bern/München 1977, bes. II, 15. Kap. Daß dieser Standpunkt keineswegs evolutionstheoretische Fragen und Antworten ausschließt, zeigen Poppers jüngere Arbeiten. Vgl. insbesondere KARL R. POPPER, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973; bes. Kap. VI." (1, Anm. 2)" (Schluchter 1979:1, Anm. 2)

Nun zuerst die Begriffsklärung. In dieser Theorieklärung müssen erst einmal die Sortieretiketten genauer betrachtet werden. Was ist "institutioneller Marxismus"? Ist denn Prof. Wolfgang Schluchter als Angehöriger der Heidelberger Universität, ist denn überhaupt universitär betriebene Wissenschaft "außer-institutionell"? Auf die "frei schwebende Intelligenz" möchte ich weiter unten noch zurückkommen.

Man hat natürlich zuallererst einmal den Verdacht, dass hier wieder einmal, auch von Wolfgang Schluchter, das gewöhnliche akademische Ritual im Umgang mit dem Marxismus gepflegt wird, funktional äquivalent etwa der Verwendung des Kreuzzeichens oder bio-dynamisch von Knoblauch bei der Annäherung an Vampire oder bei einer Teufelsaustreibung.
In den akademischen Gepflogenheiten drückt sich das gemeinhin darin aus, dass standesgemäße Distanzierungssignale und auch Seitenhiebe, wenn sie sich denn nicht vermeiden lassen, in separate Fußnoten verwiesen werden. Also gewissermaßen am Dienstboteneingang für die Philosophen von der Gosse oder quasi eine Auseinandersetzung en passant, wie es der lästigen Mühe ansteht, so unerquicklich wie das Naserümpfen, wenn man einer Fliege kaum was zuleide tun will. Doch fällt auch dem Bücherverschlinger Schluchter, der sich der Max Weber-Industrie bemächtigt hat, auf, dass Weber sich niemals direkt mit Hegel, Marx oder Dilthey, sondern explizit ausschließlich mit deren Epigonen (Roscher, Knies, Stammler, Wundt, Croce u. a.) abgibt (Schluchter 1979:34). Anscheinend waren auch für Weber nur akademische Standesgenossen satisfaktionsfähig.

Das wäre hier im Falle Wolfgang Schluchter aber übertrieben zu sagen. Wie Hegels Ausspruch über die Vernünftigkeit des Wirklichen zeigt, kann man deutsche Professoren beim Wort nehmen, wenn man nur weiß, wie. (Gemeinhin unterscheidet man die exoterische und von der esoterischen Lehre.) Oder nehmen, wie man will. Entweder man stellt fest, dass das Glas halb leer ist. Oder man sieht mit Erleichterung, dass es halb voll ist. So kann man auch hier "institutioneller Marxismus" so verstehen, wie es Leszek Kolakowski getan hat.

"Der Begriff 'Marxismus' wurde zu einem Begriff mit institutionellem und nicht intellektuellem Inhalt - wie das übrigens mit jeder kirchlichen Doktrin geschieht." (Kolakowski 1976:14)

Für den "institutionellen Marxismus" ist die Sachlage aber die:

"Das Wort 'Marxismus' sollte keinesfalls eine auf ihren Inhalt hin bestimmte Doktrin bedeuten, sondern eine Doktrin, die ausschließlich formal, und zwar durch das jeweilige Dekret einer unfehlbaren Institution, bestimmt wurde, die in einer gewissen Epoche von der Welt 'größtem Sprachforscher', 'größtem Historiker', 'größtem Philosophen', 'größtem Wirtschaftsexperten' verkörpert worden ist." (Kolakowski 1976:14)

Nun zur "frei schwebenden Intelligenz". Diese Berufsideologie von Ideologen, die von Karl Mannheim herrührt, ist so verführerisch, wie eine Ideologie nur sein kann. Heute sollte man besser von in McDonalds-Jobs der Workflows der Informationsökonomie beschäftigten oder unbeschäftigten "Wissensproletariern" sprechen. Denn die Freiheit, Frechheiten zu äußern, muss in unserer rauen ökonomischen Wirklichkeit ihre Belohnung in sich selbst darstellen. So viel über "Wissensökonomie" und dem "Weg nach Lissabon"! Die Bildung starb in Bologna. Die 68er Bewegung sprach hier noch von "intrinsischer Motivation", also Studieren, ohne auf Klausurnoten und Karriere zu schielen. Es heißt aber die Frechheit zu verdoppeln, wenn Intellektuelle für die Ausübung ihrer gesetzlich streng abgemessenen Gedankenfreiheit auch noch Barzahlung verlangen.

Wissen ist Macht. Der unverbesserliche Optimismus eines Roger Bacon wurde von Besitz- und Bildungsbürgertum fast seit jeher unterschiedlich aufgefasst. Und selbst das Bildungsbürgertum hat sich differenziert 1. in eine scheinbar "frei schwebende Intelligenz", wo der Geist weht, wo er will, und 2. eine bürokratische Elite, wo die Bildungspatente die Karriere eröffnen. Hier dreht sich dann der Satz um in seine bürokratisch passende Version: Macht macht dumm. Denn wer die Macht hat, glaubt 1. ohne besseres Wissen auskommen zu können. 2. sehen diejenigen, die es besser wissen, keine große Aussicht darin, ihr Wissen demjenigen mitzuteilen, der mit seiner Entscheidungsmacht davon Gebrauch machen könnte. Mit dem Amt kommt der Verstand. Mit anderen Worten: Wer seine Amtsmacht einsetzen kann, hat damit Zugang zu Herrschaftswissen, sofern er die betreffenden Wissensträger, die ihm zuarbeiten sollten, zur Kooperation zu bewegen weiß. Die Ausübung von Macht verführt indes zu dem Irrglauben (und das ist die spezifische Arroganz, die sie erzeugt), man könne sich über entgegenstehende Information hinwegsetzen oder brauche nicht die Leute zu fragen, die es besser wissen, und zwar allein aus dem Grunde, weil man mächtiger ist. Spektakulärer aktueller Musterfall für diese moderne Hybris ist G. W. Bush und sein erzrepublikanischer Freundeskreis. Doch bleiben wir in Deutschland!

"Crozier kommt auf Grund seines Ansatzes zu einer Zweiphasentheorie der Bürokratisierung zwischen bürokratischer Verhärtung einerseits und sozialen oder politischen Umschmelzungsprozessen mehr oder weniger großer Reichweite andererseits. Das ist aber nur ein erster Schritt. Darin liegt auch beschlossen, daß die Kulturen, die - wie etwa dies Erlebnis des Widerstandes als einer kollektiven sozialen Bewegung niemals gehabt haben, heute Schwierigkeiten haben, ihren 'restaurativen Besitzstand' zu retten angesichts einer anbrandenden neuen Wirklichkeit. So war auch am Kriegsende 1945 Deutschland zwar sicher zerstört, aber die deutsche Bürokratie war völlig unangetastet und ging kontinuierlich und ohne Unterbruch über in die Nachkriegsperiode, was in bekannter Weise zu vielen Problemen geführt hat, während das Ausland staunte über die Widerstandsfähigkeit der deutschen Bürokratie." (König 1979:360)

König liefert implizit eine Erklärung für das große Reservoir an Popperizisten in der Bundesrepublik und warum die kontra-faktische Theorie des piecemeal engineering gerade in Deutschland nicht nur so großen Anklang gefunden hat, sondern gerade innerhalb der herrschenden Elite bei CDU-Sozialdemokraten wie bei SPD-Christdemokraten und deren zuarbeitenden ideologischen Vertretern in den Medien einen so seelenverwandten Nerv gestreichelt hat. Popper geriet fast außer sich, dass Aristoteles als Berater am Hofe Alexanders des Großen von demselben Herrscher literarisch keinerlei Notiz genommen hat. René König saß in Köln und hat vom Klüngel vor seiner Haustür zumindest in einer "spekulativen Überlegung" im Stammtischgespräch unter Fachkollegen Notiz genommen und sich Luft gemacht. Wie groß ist heute doch Köln gegenüber dem damaligen Athen!

Da wir gerade das Jubiläum des Bonner Grundgesetzes feiern, sei hier exemplarisch lediglich auf den Fall Theodor Maunz hingewiesen.

== Literaturverzeichnis ==

René König: Gesellschaftliches Bewusstsein und Soziologie. Eine spekulative Überlegung. In: Günther Lüschen, (Hg.): Deutsche Soziologie seit 1945. Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug. Westdeutscher Verlag Opladen 1979. ISBN 3-531-11479-4.

Leszek Kolakowski: Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein. K. Piper & Co. Verlag, München Zürich Neuausgabe 1976. ISBN 3-492-00440-7. S. 14

Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) :Tübingen 1979. ISBN 3-16-541532-3

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