Mittwoch, 17. Juni 2009

Dogmatismus

„Der Dogmatismus einer Lehre kann darin bestehen, (‘ungeschütztes Dogma’) dass Sätze ohne hinreichende Begründung und als wahr behauptet werden. (...) Aber es gibt auch eine Form des Dogmatismus (‘geschütztes Dogma’), deren dogmatischer Charakter viel stärker ausgeprägt ist: Dogmen können durch Dogmen in einer Weise gesichert werden, dass sie unter allen Umständen unberührbar bleiben müssen.“ (Popper 1994:295f)

Wie man aber sogleich bemerkt: Für Popper indes stellt es keinerlei Mühe dar, ein "unkritisierbares" System zu kritisieren. Wenn das nicht Dialektik ist! Sein eigentliches Verdikt jedoch, hier an die Adresse von Hegel gerichtet, lautet: „Immunisierung“.

Zuerst einmal müssen wir uns aber hier mit dem Begriff „Dogmatisierung“ befassen. Denn auch die Behauptung, dass eine These „dogmatisch“ sei, kommt nicht selten sehr dogmatisch daher.

Dogmatismus ist vielleicht übel, aber mitnichten eine erkenntnistheoretische Kategorie. Auch wenn sie Kant an prominenter Stelle oft in seiner Erkenntnistheorie verwendet, um eine Darstellungsweise oder um die Philosophie vor der „kritischen“ Erneuerung durch ihn zu kennzeichnen. SPINNER (1977) stellt Fallibilismus in Gegensatz zu Certismus (Rechtfertigungsstrategie, Letztbegründung).

Eine Theorie ist nicht an sich dogmatisch oder kritisch. Dogmatisch oder kritisch ist sie durch und für uns. Das heißt: Es geht uns nicht um eine besondere Eigenschaft von Aussagen oder Aussagensystemen wie Theorien, sondern um die pragmatische Dimension derselben: es geht um die Verhaltensweisen der Theoriebenutzer. Dogmatisch sind nicht die Theorien, sondern ist, wie man mit diesen umgeht. Wie man am eingangs zitierten Beispiel sieht: Selbst ein so widerspenstiges Aussagensystem wie Hegels Dialektik kann einem Popper nicht widerstehen; es sind ja letztlich nur Buchstaben in einem Buch. Widerstehen kann einem Popper nur ein Hegel-Gläubiger, der alles, was ihm nicht in den Kram oder ins Weltbild passt, als sinnlosen Quatsch erklärt (bzw. als wissenschaftlich oder philosophisch uninteressant).

Und es geht hier für uns in der Hauptsache auch nicht um Dogmatismus im Sinne einer Persönlichkeitseigenschaft, sondern um eine Kommunikationsbeziehung, ggf. zwischen Wissenschaftlern, die man in diesem Falle wohl als „gestört“ bezeichnen darf, weil sie bestimmte Behauptungen gegen wechselseitige Kritik abschirmt. Diese Kommunikationsstörung wird durch sozialen Konflikt, der verbunden ist mit Eskalation durch selbsterfüllende Prophezeiung, zu einem Schulenstreit bis hin zum Abbruch jedweder Kommunikation verstärkt.

„Nicht das Credo oder das Parteiprogramm, sondern die Praxis im Umgang mit Ketzern und Opponenten zeigt den Grad von Dogmatismus und Toleranz, zeigt, inwieweit ein Bekenntnis zur Kritik ernst zu nehmen ist.“ (Spinner 1967:184)

Wenn Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden ist, so muss das Bekenntnis zur Kritik immer mit dem Appell zur Toleranz gegenüber Kritikern einhergehen. „Ideologie“ und „Dogmatismus“ werden nun aber von den Kritischen Rationalisten selbst oft in „essentialistischer“ Manier zugeschrieben, d.h. gebraucht, als ob es eine fraglos feststehende Bedeutung dieser Begriffe und ein entsprechend fest umrissenes reales Objekt gäbe. Und es gibt immer noch genug Leute, die sich von dieser in der Regel nicht näher erläuterten Verbalinvektive beeindrucken lassen.
Dahinter steckt oft ein recht romantisches Bild von „Dogmatismus“: Er sei aus emotionalen oder kognitiven Beschränkungen heraus Argumenten nicht zugänglich. Der moderne Dogmatiker verfügt hingegen immer über gute Gründe. Die Voraussetzungen dieser „guten Gründe“ gelangen aber selten zur Einsicht, sondern verbleiben nicht zur Diskussion gestellt. Wenn der Dogmatiker stets als Eiferer hingestellt wird, der unbelehrbar sei, so muss zudem beachtet werden, dass erfolgreiche Belehrungen immer auch gewisse Mindestanforderungen an kommunikative Bedingungen (z.B. den pädagogischen Eros des Lehrkörpers!) stellen. Politische wie ideologische Spannungen korrelieren mit dem Ausmaß an Kommunikationen zwischen den beteiligten Parteien.

Dogmatismus stellt kein aussagenlogisches Problem dar, sondern ist ein Verstoß gegen Diskursregeln. „Dogmatismus“ lässt sich demzufolge nicht logisch oder sprachanalytisch dingfest machen an bestimmten Typen oder Inhalten von Aussagen, sondern nur an der Verwendungsweise von Aussagen. Ihre Verwendung hängt aber nicht nur von ihrem Autor ab, sondern auch von den jeweiligen Adressaten, bzw. der Zielgruppe, also überhaupt von der normativen Regelung der gesamten Kommunikationssituation innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses.

„Dogmatismus“ betrifft demnach vor allem die Frage, wie man mit wissenschaftlichen Aussagen umgeht. Es kann also hierbei nicht um die Demarkation von Wissenschaft und Pseudo-Wissenschaft gehen, d.h. nämlich: Ausgrenzung von Theorien, sondern um die Institutionalisierung einer Methodologie kritischer Diskussion, nämlich von Fallibilismus und Theorienpluralismus. Wenn Immunisierung eine Strategie darstellen soll, die den Erfolg garantiert, dann liegt es an uns, ob wir uns an diesem Spiel dessen ungeachtet beteiligen oder die Regeln hin zur kritischen Offenheit abändern wollen.

Was „Demarkation“ im Bereich der Methodologie, ist „Exklusion in sozialer Hinsicht: eine Ausgrenzung, die dem offiziellen Akademiker-Selbstverständnis zutiefst zuwider sein soll, nichtsdestoweniger aber eine oft und gern praktizierte Strategie darstellt.

„... items of scholarship are often used shamelessly as a mere means of intimidation for the sake of keeping the academy a closed guild.” (Agassi 1993:16)

Über Konformität zu Normen (hier: methodologische Normen) werden Mitgliedschaftsrollen sowie über die Zugehörigkeit zu einer Paradigma-Gemeinschaft das soziale System Wissenschaft definiert. Für Ransom erfolgt die evolutionstheoretische Selektion des dominierenden Paradigma durch den Mechanismus der membership selection ), wobei subjektive und objektive Attraktivität eines Paradigma so¬wie unterschiedliche individuelle methodologische Präferenzen den Ausschlag geben. Dies ist natürlich eine Perspektive, die politische und ökonomische constraints noch weitgehend außen vor lässt und das System Wissenschaft als ein sich autonom entwickelndes Gebilde behandelt.
„Dogmatisierung“ kennzeichnen Abschirmungs- und Immunisierungsstrategien mit der sprachpragmatischen Funktion der Durchsetzung eigener Wahrheitsansprüche. Wer dies bedenkt, muss erkennen, dass jede Abgrenzung von Wissenschaft selbst dem Ideologieverdacht, nämlich einem impliziten Dogmatismus gegenüber den ausgegrenzten Positionen preisgegeben ist.

“... what determines a universe of discourse? Who decides what is a good question? How?” (Agassi 1975:8)

Was eine gute Frage ist, kann sich nur erweisen relativ zur jeweils historisch gegebenen Problemsituation einer Wissenschaftsdisziplin. Es gibt offensichtlich Veränderungen, die von strategischer Bedeutung sind. Kurz gesagt: Auch Problemstellungen können (in einem relativen Sinne) und sollten evaluiert werden. Solche Evaluationen müssen selbstverständlich ebenfalls durch kritische Vergleiche kontrolliert werden. Denn es ist leicht, die eigene Lieblingstheorie zu bevorzugen, indem man einfach die zu ihr passende Problemstellung favorisiert.

Nur zu oft jedoch präsentieren Vertreter des Kritischen Rationalismus unbesehen ihre eigentümlichen Vorstellungen von Pluralismus als alleinseligmachend und grenzen Opponenten per bloßes Etikettieren aus dem Diskurs aus. So wie zum Beispiel Popper in Bezug auf Hegel: Ein Popperianer wird aus Poppers Vorbild leicht ableiten, dass man Hegel nicht zu studieren brauche, um ihn zu widerlegen. Auf derlei Weise lässt sich dann freilich der Verdacht der Betroffenen, dass die vorgeblichen Vertreter eines Theorienpluralismus unter der Flagge desselben nur einem exklusiven „Monopolpluralismus“ (Brentano 1971) frönen, kaum entkräften.

Popper spricht in diesem Zusammenhang gerne von einer „kritischen Tradition“. Dies impliziert zumindest, dass nicht eine jede Tradition „kritisch“ genannt werden kann. Doch was heißt „kritisch“? Marx gab seinem Hauptwerk ebenfalls den Namen einer „Kritik“. Gemäß der vorgebrachten Popperizistenkritik an Marx sollte man annehmen, dass Popper diese Kritik, zumindest nicht in der vorliegenden Form, in die ihm genehme Tradition einzuschließen wünschte. Nach welchen Kriterien will Popper dies aber bestimmen?!

"Mit dem im allgemeinen impliziten, hier explizit gemachten Verdikt gegen Dogmatismus aller Art werden lediglich unkritische, irrationale, unaufgeklärte Ansätze ausgeschlossen, die das certistische Programm der Erkenntnissicherung als Absicherung wirklicher oder vermeintlicher Erkenntnis gegen Kritik verstehen. Von der erkenntnistheoretischen Problemstellung her bleibt also der Weg für rechtfertigungsorientierte Formen des Kritizismus grundsätzlich ebenso offen wie für rechtfertigungsfreie Ansätze, für das Aristotelische, Kantsche, Hegelsche oder Hilbertsche Begründungsprogramm wie für Popperschen Fallibilismus und Dinglerschen Certismus. Deshalb - sowie aus anderen Gründen, die noch zur Sprache kommen werden; kurz gesagt: weil "Dogmatismus" meiner Ansicht nach ein Übel, aber keine philosophische Kategorie ist, durch die irgendeine bestimmte, im hier angesprochenen Problemkontext relevante Position adäquat charakterisiert werden könnte - wird die Hauptalternative, um die es in diesem Buch geht, nicht Kritizismus-versus-Dogmatismus, sondern Fallibilismus-versus-Certismus heißen. Dabei ist die Möglchkeit rechtfertigungsorientierter Kritik ebenso ins Auge zu fassen wie die Möglichkeit fallibilistischer Dogmatik, zum Beispiel in Gestalt von hypothetischen Begründungsansätzen, die nicht um jeden Preis durchgehalten und im (als Möglichkeit einkalkulierten) Scheitern zur Kritik der sich als unbegründbar erweisenden Position werden, einerseits, und von certistischen Widerlegungsansätzen, dei um jeden Preis durchgehalten werden, dabei die Möglichkeit der Widerlegung von Widerlegungen aus dem Auge verlieren und so die Idee der Kritik dogmatisieren, andererseits." (SPINNER 1977:5)

Fallibilismus ist aber eine Methode, die erst hinterher, d.h. nach erfolgter Prüfung festzustellen vermag, ob etwas als „bewährt“ vorläufig akzeptiert werden soll. Eine Demarkation von Wissenschaft, die auf eine a priori-Unterscheidung von Wissen und Pseudowissen hinausliefe, auf gut Deutsch: auf ein Vor-Urteil, d.h. Urteil, bevor man die Sache kennt; Kritik, bevor man weiß, was man kritisiert, ist grundsätzlich mit Fallibilismus unvereinbar. Ignoratio non est argumentum. (Spinoza)

== Literaturverzeichnis ==

Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen 7. Aufl. 1992 (zuerst: 1944)
Helmut F. Spinner: Wo warst du, Platon? Ein kleiner Protest gegen eine 'große Philosophie'. Soziale Welt, 18, 1967, S. 144ff
Joseph Agassi: Science in Flux, Dordrecht Boston 1975
Joseph Agassi: A Philosopher's Apprentice. In Karl Popper's Workshop, Amsterdam Atlanta, GA 1993
Margherita v. Brentano: Wissenschaftspluralismus - Zur Funktion, Genese und Kritik eines Kampfbegriffs, Das Argument,13, 6/7, 1971, S. 476-493
Helmut F. Spinner: Begründung, Kritik und Rationalität. Bd. I. Vieweg Braunschweig 1977. ISBN 3-528-08376-X

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