Dienstag, 2. Juni 2009

Territorialverhalten, Wissenschaft und Ontologie

(1) Es gibt unterschiedliche Auffassungen von „Ontologie“.
Mit „Hegels Ontologie“ verweist HORSTMANN (1990:12) auf Hegels Theorie dessen, was eigentlich wirklich ist, was eigentlich Realität hat. Dabei soll sich herausstellen, dass diese Ontologie die Grundlage abgibt für Hegels System und identisch ist mit seiner monistischer Theorie des Begriffs.
Dazu muss zuvor betrachtet werden, was „Ontologie“ bzw. „Lehre vom Sein“ sei.
(a) Nach Aristoteles und auch Kant hat Ontologie die Aufgabe, anzugeben, was die allgemeinste Begriffe (Kategorien) sind, durch die das, was ist, bestimmt ist.
(b) Ontologie kann im Unterschiede davon die Frage sein, ob und in welchem Sinne es Begriffe gibt (nach dem ontologischen Status der Begriffe). Ontologie will damit die Frage klären, was es denn gibt.

Nach Horstmanns Interpretationsthese fällt für Hegel (a) und (b) zusammen (HORSTMANN 1990:12).

(2) Die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen unterscheiden sich nicht durch ihre Ontologie , d.h. durch ihren jeweils anderen Untersuchungsgegenstand oder Forschungsgebiet, sondern sie stellen soziale Systeme dar, die über einen gemeinsamen Fundus an Problemen und Lösungsversuchen kommunizieren. „Soziologie“ ist demnach schlicht und ergreifend einfach das, was Soziologen so treiben bzw. jeweils für Soziologie halten.

(3) Wissenschaftler neigen wie alle Lebewesen zu Territorialverhalten. Sie sind bestrebt, ihr eigenes Revier abzugrenzen und gegen Eindringlinge zu verteidigen. Die dabei produzierten Revierdefinitionen und –abgrenzungen sind ontologisch nicht vertretbar(IRLE 1975:13).
Der Begriff Territorialverhalten wird daher auch benutzt, um Verhaltensmuster beim Menschen zu beschreiben, teilweise in sarkastischer Weise: Die Vögel singen, um ihr Revier zu markieren und einen Partner zu finden. Wissenschaftler verteidigen ihre Wissenschaftsdisziplin durch Abgrenzungsrituale wie Definitionen ihres "autonomen Untersuchungsbereichs". Hingegen Martin Irle weigert sich in seinem Lehrbuch explizit, "Sozialpsychologie" auch nur definieren zu wollen.

Der Kampf um die Behauptung des eigenen Status als Angehöriger einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin wird oft verbunden mit der impliziten oder expliziten Anerkennung einer Statushierarchie von Wissenschaftsdisziplinen, deren Rangdimensionen oft legitimiert wird durch Beschwörung eines höheren Grades an wissenschaftlicher Objektivität (positivistisch: härtere Fakten; formal-logisch: mathematische Eleganz/Stringenz, Esoterik).

(4) Ungeachtet dessen, dass Wissenschaften nicht ontologisch bestimmt und abgegrenzt werden können, so gilt doch die These: Jede Theorie unterstellt eine ihr eigentümliche Ontologie (Metaphysik). Denn sie trifft Annahmen über die Dinge, Vorgänge und Ereignisse, die für sie logisch zulässig und faktisch möglich sind. Es ist untunlich, diese ontologischen Annahmen (etwa als „unbeweisbare metaphysische Spekulation“) nicht explizieren zu wollen. Denn nur in expliziter Form sind sie überhaupt kritisch diskutierbar.

(5) Nur worüber man sprechen kann, ist für uns existent. Also ist die Erweiterung sprachlicher Möglichkeiten Voraussetzung dafür, Neues zu erfahren.

(6) Es gibt einen Unterschied zwischen der Einheit der theoretischen Analyse und derjenigen der Beobachtung.

Gerade die These (7) lädt ein zu Reflektionen über die oft erörterte, aber nie ausdiskutierte Differenz von methodologischem Individualismus und Kollektivismus (Holismus, …). Wenn ELSTER (1990:3) innerhalb der Sozialwissenschaften für „explanation by mechanism“ einsetzt, so kennt er als grundlegende Analyseeinheiten „events“ und „facts“. Dabei ist Ereignis für ihn logisch grundlegender als Tatsache, denn letztere stellt für ihn ein Strom von Ereignissen dar. Und die fundamentalen Ereignisse der Sozialwissenschaften seien Handlungen menschlicher Individuen, inkl. mentaler Handlungen.
Das heißt recht unverblümt eine Ontologie aufgestellt. Wogegen nichts zu sagen wäre, wäre sie nicht implizit als eine Ontologie für Kausalerklärungen privilegiert hingestellt: Kausalerklärungen sind nur durch menschliche Handlungen möglich. Ja freilich – wenn man dieselbige Ontologien als wahr und richtig unterstellt. Was man als unwirklich behauptet, damit kann man keine reale Erklärung liefern. Alternative Ontologien werden einfach unterschlagen oder polemisch delegitimiert.

Die logische Willkür dieses Vorgehens wird sichtbar, wenn nicht nur Handlungen und mentale Akte zusammengeworfen werden bzw. kausal gleiche Dignität genießen sollen, sondern individuelle wie „kollektive“ Aktoren von derselben Theorie gleich behandelt werden. Festzustellen ist also eine eklatante Diskrepanz zwischen dem Schlachtruf „methodologischen Individualismus“ und dem tatsächlich praktizierten Vorgehen der Vorkämpfer dieser doch sehr unklaren Positionierung, wo man eigentlich weder „Methodologie“ noch „Individualismus“ in dem erwarteten Maße anzutreffen vermag. Gewiss mag hier auch die mangelnde Unterscheidung zwischen Einheit von theoretischer Analyse und Beobachtung eine Rolle spielen. Und neben der Frage der oft wenig explizierten Ontologie mag auch die der psychologischen und ideologischen Präferenz eine Rolle spielen. Handelnde Menschen und Mechanismen sind eben einfach anschaulicher, als zum Beispiel das Hempel-Oppenheim-Schema oder – Hegels Begriff.

== Literaturverzeichnis ==
Jon Elster: Nuts and Bolts for the Social Sciences. Cambridge University Press. Cambridge, New York, Port Chester, Melbourne, Sydney repr. 1990. ISBN 0-521-37606-8.
Martin Irle: Lehrbuch der Sozialpsychologie. Verlag für Psychologie Dr. C. J. Hogrefe : Göttingen Toronto Zürich 1975. ISBN 3-8017-0096-8.
Rolf-Peter Horstmann: Wahrheit aus dem Begriff. Eine Einführung in Hegel. Anton Hain : Frankfurt am Main 1990. ISBN 3-445-06006-1.

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