Mittwoch, 10. Juni 2009

Nichterklären als Zielsetzung der Wissenschaft

Die Überschrift ist selbstverständlich als blanke Ironie gemeint. Der kleine Schönheitsfehler dabei ist, dass man in den Sozialwissenschaften (Soziologie, Wirtschaftswissenschaften,…) fast glauben könnte, sie sei ernsthaft gemeint.

Von der „Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft“ hat uns POPPER (1964) gesprochen. Und sogleich in seinem ersten Satz hat er bemerkt, dass es naiv von ihm sei, vom „Ziel der Wissenschaft“ zu sprechen. Wenn, dann können nur Wissenschaftler Ziele haben. Als ein „modifizierter Essentialist“ hält er jedoch Wissenschaft für eine vernünftige Tätigkeit, und wo Vernunft, da sei auch ein Ziel. Zumindest Hegel würde Popper von Herzen zustimmen. Unsereins, der die Wikipedia kennt, ist nicht mehr so überzeugt, dass die Erkenntnis stets voranschreitet und dass die Wahrheit sich mühsam, aber unaufhaltsam ans Tageslicht durcharbeitet. Poppers optimistischer Glaube an den Erkenntnisfortschritt und die stete Annäherung an die absolute Wahrheit scheint nicht besser gegründet als Adam Smiths Glaube an die unsichtbare Hand bzw. an die Selbstheilungskräfte der Märkte: Religion, wenn vielleicht auch ohne Gott.

Immerhin, schon Popper zeigt sich seltsam hin und her gerissen:
1. Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft ist die Erklärung der Wirklichkeit (POPPER 1964).
2. Die Erklärung geschichtlicher Abläufe ist wissenschaftlich unmöglich bzw. „Prophetie“ (POPPER 1965).

Solcher Eiertanz hat Tradition. Einerseits haben sich Sozialwissenschaftler bestrebt gezeigt, den Naturwissenschaften nachzueifern und wissenschaftliche Erklärungen der sie betreffenden Erscheinungen zu liefern. Andererseits wurde dasselbe mit den verschiedensten Argumenten abgelehnt und sogar bekämpft.

Marxisten rochen natürlich den Braten und vermuteten stets, den bürgerlichen Wissenschaftlern sei eine Wissenschaft, die keine Erklärungen liefere, immer noch lieber als eine, die marxistische Erklärungen benötige oder dazu keine Alternativen verfügbar hätte.

„Comparative-historical sociologists are tending to move from arguments against specific theories to arguments against theory in general.” (KISER/HECHTER 1991:2)

Was der Vulgärökonom nicht zu beschönigen weiß, davon schweigt er lieber. Auf die Spitze getrieben heißt das, den Erklärungsanspruch der Wissenschaft gegen das Dunkelmännertum der Religion einzutauschen.

„Die Gesetze aus der Wissenschaft hinauszujagen bedeutet in Wirklichkeit nur, die Gesetze der Religion durchschmuggeln zu wollen.“ (LENIN 20:196)

In dieser Position wussten sich Materialismus und Positivismus von jeher grundsätzlich einig, wobei Materialisten und Positivisten sich höchstens wechselseitig einen überflüssigen Restbestand an Metaphysik und Dogmatismus vorzuwerfen hatten (vgl. dazu LENIN 1947; [1]).

Die Diskussion schleppt sich so fort durch die Jahrhunderte, und wurde auch nicht dadurch besser, dass Fachwissenschaftler wie Max Weber, Schumpeter, Hayek und Eucken zwar immer wieder Methodologie betrieben haben, aber gleichsam wider ihren Willen und geringschätzig und ohne innere Bereitschaft, eine systematische Beziehung zwischen Metatheorie und Theorie herstellen zu wollen. Wahrlich ein merkwürdiges Schauspiel, ganz im Stile des Positivismus, wissenschaftlich Philosophie betreiben zu wollen und dabei die Philosophie loswerden (wovon nicht zuletzt auch Friedrich Engels träumte): der Wunsch, zu baden und sich dabei nicht nass zu machen.

Dass gerade der Ökonomie Reflektion not tut, zeigt Marxens Rede vom „Wertgesetz“. Dass ein „Naturgesetz“ nicht anders als in Form einer „nomologischen Hypothese“ (Hans Albert) zu formulieren sei, dieser „linguistic turn“ war Marx natürlich fremd. Man darf daher ruhig unterstellen, dass er, wenn er von „Wertgesetz“ sprach, damit nicht eine wissenschaftliche Aussage (evtl. gar mit deren spezifizierten Anfangsbedingungen!) im Sinne führte, sondern ganz inhaltlich einen Kausalmechanismus im Schilde führte (den der Verteilung der Arbeitskräfte auf die unterschiedlichen Zweige der Gebrauchsgüterproduktion). Dieses Interpretationsproblem macht sich insbesondere dann vorrangig bemerkbar, sobald man daran geht, das Transformationsproblem von Werten in Preise bzw. von KAPITAL Band I zu KAPITAL Band III zu diskutieren und hierzu gezwungen ist, es überhaupt einmal schlüssig zu formulieren.

Kurioserweise scheint nach einer gewissen Periode der Dominanz des „linguistic turn“ in der Wissenschaftstheorie die Soziologie gewissermaßen wieder auf Marxens Sichtweise der Dinge, bzw. der Erklärungsziele von empirischer Wissenschaft, zurückgekommen zu sein.

„A complete explanation also must specify a mechanism that describes the process by which one variable influences the other, in other words, how it is hat X produces Y. Mechanisms are vital to causal explanations, for they indicate which variable should be controlled in order to highlight existing causal relations.” (KISER/HECHTER 1991:5)

Schon PARSONS (1951) hatte hoffnungsvoll von sozialen Mechanismen gesprochen. ELSTER (1990) sieht darin gar in der Hauptsache die Erklärungsabsicht des Soziologen.
BOUDON (1983:17) hingegen erscheint „realistisch“ genug, diese Ziele der Erfahrungswissenschaft aufgeben zu wollen:

„the ultimate reality sociologists deal with are individual actions and systems of action. This excludes the naturalistic view of social change (…) The strategic and innovative dimension of human action makes all empirical lawlike statements on social change mere conjectures.”

Doch auch die Aussagen der Naturwissenschaften sind keine absolute Wahrheiten, sondern (geprüfte und bestätigte) Vermutungen.

Mit der Erkenntnisabsicht der empirischen Wissenschaften ist es so wie mit der Vernunft: Ohne allgemeine Prinzipien bzw. Regelhaftigkeit ist nichts Vernünftiges auszusagen. Dies richtet sich grundsätzlich gegen SPINNERs (1994) Doppelvernunft, die eine „okkasionelle Vernunft“ ins Spiel bringen möchte. Ähnlich ist es um die Erklärungsabsicht der empirischen Wissenschaften bestellt. Entweder man will eine Sache wissenschaftlich erklären; dann muss man dazu eine Regelhaftigkeit voraussetzen (wenn diese die Realität nicht liefert, dann muss diese andersweitig hergezaubert werden, durch transzendentale Bedingungen der Erkenntnis oder durch den Heiligen Geist; uns Deutschen steht hier mit Kant, Hegel bis hin zu Max Weber und so weiter ein fast vollständiges Spektrum zur Verfügung).

So muss der Verzicht des Historismus auf Theorie nicht nur zum Verzicht auf die theoretische Analyse von Gesellschaft führen, sondern auch jedweden Vergleich von Gesellschaften unmöglich machen.

„Ironically, the historicist’s emphasis on the complexity of history, and their rejection of the analytical separation of parts from wholes, is inimical not only to general theory but also to the very enterprise of comparing different societies …” (KISER/HECHTER 1991:11)

[1] « Il y a vingt ans, alors que je commençais l'étude systématique de l'épistémologie de Popper, j'étais encore marxiste. Au fur et à mesure que j'avançais dans la lecture, se découvraient des affinités avec l'oeuvre de Lénine. L'attaque sur le fond contre la ligne Berkeley-Mach. La revendication de la valeur objective de la science, c'est-à-dire de sa portée cognitive. L'idée que la réalité peut être sondée à l'infini (un point sur lequel Lénine insiste beaucoup) et, de là, que les théories scientifiques ne sont jamais conclusives. Et encore : la commune aversion pour le phénoménisme, tellement marquée chez Popper qu'elle le conduit à accepter pour sa propre philosophie la dénomination "d'essentialisme modifié". Non seulement la profession réalisme toujours plus appuyée. Enfin la forte revendication de la théorie de la "vérité comme correspondance" après le célèbre essai de Tarski et l'interprétation (discutable) que Popper en a donnée. »
Lucio Colletti: Lénine et Popper

== Literaturverzeichnis==
Edgar Kiser, Michael Hechter: The Role of General Theory in Comparative historical sociology. American Journal of Sociology, 97(1), 1991
W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. Moskau 1947
Jon Elster: Nuts and Bolts for the Social Sciences. Cambridge University Press. Cambridge, New York, Port Chester, Melbourne, Sydney repr. 1990. ISBN 0-521-37606-8.
Raymond Boudon: Individual Action and Social Change. A No-theory of Social Change. British Journal of Sociology, 34, 1983, S. 1-18
Karl R. Popper: Die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft. In: Hans Albert, (Hg.): Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1964.
Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch Köln Berlin 1965.
Helmut F. Spinner: Der ganze Rationalismus einer Welt von Gegensätzen. Fallstudien zur Doppelvernunft., Frankfurt 1. Aufl. 1994

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