Samstag, 30. Mai 2009

Umstülpung

Im Nachwort zur 2. Auflage des Ersten Bandes des KAPITAL sagt Marx, seine dialektische Methode sei das direkte Gegenteil derjenigen Hegels:

„Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ (I:27)

Allerdings beansprucht Marx, Hegels Dialektik nicht einfach abstrakt negiert, d. h. als widerlegt und erledigt in den Müll geworfen zu haben, sondern er will sie im dialektischen Sinne "aufgehoben" haben.

„Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.“ (I:27)

Obwohl Marx immer wieder auf Hegels Stellenwert für seine Arbeiten deutlich und ausdrücklich hinwiesen hat, ist von Ökonomen wie Joseph A. Schumpeter und Joan Robinson behauptet worden, Marxens explizit dialektische Darstellungsweise berühre die Sache nicht bzw. trage nichts zum Inhalt seiner theoretischen Analysen bei. Schumpeter konzediert immerhin einen Beitrag zur „Vision“ des Gesamten, d.h. vor-analytischen Anschauungsweise. Die Einschätzung der Dialektik als irrelevant für Marxens politische Ökonomie hängt damit zusammen, dass beide Interpreten das Marx-Werk bewusst oder unbewusst "ökonomistisch", d.h.unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen fachökonomischen Tradition lesen und somit in Marx, was das anbetrifft, kaum mehr als einen Schüler und Fortsetzer von Ricardo erblicken können. Dies setzte aber voraus, dass Marx in Problemstellung; Methoden von Forschung, Analyse und Darstellung; Wahl der Basiskategorien und ihrer logischen Verknüpfung von Ricardo nur unwesentlich abweichen würde. Das, darf man sagen, ist mitnichten der Fall (SCHMEE 2001); und sich dieser Diskrepanzen wie Robinson als „Metaphysik“ entledigen zu wollen, ist nicht nur Positivismus reinsten (unkritischen) Wassers, sondern von Grund auf unseriös.

So schrieb bei Gelegenheit des Erscheinens einer kritischen Rezension des KAPITAL durch Eugen Dühring Karl Marx am 6. März 1868 aus London an seinen Freund Kugelmann:

"Der sonderbar verlegene Ton des Herrn Dühring in seiner Kritik ist mir jetzt klar. Dieser ist nämlich ein sonst sehr vorlauter schnoddriger Knabe, der sich als Revolutionär in der politischen Ökonomie aufwirft. Er hatte zweierlei getan. Erstens (von Carey ausgehend) eine "Kritische Grundlegung der Nationalökonomie" (about 500 pages) und eine neue "Natürliche Dialektik" (gegen die Hegelsche) veröffentlicht. Mein Buch hat ihn nach beiden Seiten hin beerdigt. Aus Haß gegen die Roscher etc. hat er es angezeigt. Übrigens begeht er halb aus Absicht, halb aus Mangel an Einsicht Betrügereien. Er weiß sehr wohl, daß meine Entwicklungsmethode nicht die Hegelsche ist, da ich Materialist, Hegel Idealist. Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form, und dies gerade unterscheidet meine Methode. Quant à Ricardo, so hat das den Herrn Dühring grade gekränkt, daß bei meiner Darstellung die schwachen Punkte, die Carey und 100 andere vor ihm gegen Ricardo geltend machen, nicht existieren. Er sucht mir daher mit mauvaise foi die Ricardoschen Borniertheiten aufzubürden. But never mind. Ich muß dem Manne dankbar sein, da er der erste Fachmann ist, der überhaupt gesprochen hat." (Karl Marx: Briefe an Kugelmann. Verlag JHW Dietz Nachf. Berlin)

BECKER (1972) hinwieder sucht Marx beim Wort zu nehmen, dies aber, um über den logischen Nachweis der Irrationalität von Hegels Dialektik auch Marxens Theorie zu destruieren. Wer gemäß der Katastrophentheorie der Kontradiktion ein Theoriegebäude destruieren will, muss eine logisch geschlossene, um nicht mit Kant zu sagen: "dogmatische" Konstruktion voraussetzen. Abgesehen aber davon, dass in den Wissenschaften keinerlei endgültigen Widerlegungen einer Theorie möglich sind - noch weniger einer Problemstellung oder eines Forschungsprogramms (1)-, so setzt Beckers Widerlegungsstrategie voraus, dass ihm der Nachweis der logischen Inkonsistenz der Dialektik gelungen sei. Da ein gelingender Nachweis hinwieder eine überzeugende Rekonstruktion der Dialektik Hegels und Marxens voraussetzt, darf man wohl sagen, dass wir auch heute noch von diesem Ziel meilenweit entfernt sind. So hält HORSTMANN (1990:9) es für geradezu kurios, dass Hegels Philosophie bis heute einerseits als unzugänglich gilt, andererseits als wegweisend gehalten und in Einzelheiten als Zitatenschatz herhalten muss.

Das näher zu ergründen, fällt zusammen mit dem Forschungsprogramm vieler Marxisten. FRITSCH (1968:24) oder ZELENY (1968:11) halten wie Becker dafür, dass Marxens Vorgehen ohne seine Hegel-Kritik nicht zu begreifen sei, und bestreben sich, die dadurch gestellte Interpretationsaufgabe zu bewältigen. "Man kann das 'Kapital' von Marx und besonders das erste Kapitel nicht vollkommen begreifen, wenn man nicht die ganze 'Logik' Hegels durchstudiert und begriffen hat. Folglich hat nach einem halben Jahrhundert keiner der Marxisten Marx begriffen."(LENIN 1954:99) Für BACKHAUS (1974:67) ist diese so von Lenin aufgestellte, bislang unerfüllte Anforderung noch keine hinreichende Bedingung. Auch ein Hegel-Kenner müsste erst noch die materialistische "Umstülpung" Hegels verstehend nachvollziehen.

ALTHUSSER (1962) müht sich ab, Marxens Metaphern „Umstülpung“ und „von der Hülle befreien“ zu interpretieren. Die Gefahr liegt nahe, in der methodologischen Reflexion dieser Metaphern allzu lange bei dem gebrauchten Bilde zu verweilen und sich dadurch gefangen nehmen zu lassen.

“We cannot go on reiterating indefinitely approximations such as the difference between system and method, the inversion of philosophy or dialectic, the extraction of the ‘rational kernel’, and so on, without letting these formulae think for us, that is, stop thinking ourselves and trust ourselves to the magic of a number of completely devalued words for our completion of Marx’s work.” (ALTHUSSER 1962)

Man kann Marxens Dialektik als theoretische Forschungsweise am besten als praktizierter Theorievergleich deuten, worauf ja schon der Titel „Kritik der politischen Ökonomie“ explizit hinweist.(2) Das heißt, man muss also den Diskurs-Kontext der von Marx gebrauchten Begriffe aufsuchen und ganz praktisch fragen, mit welchen Alternativtheorien bzw. Theorie-Vorgängern er sich auseinandergesetzt hat. Und man braucht hier auch nicht weit zu suchen, da Marx hieraus ja keine Geheimnisse gemacht hat. So ist die „Umstülpung“ wohl eine Anspielung auf Ludwig Feuerbachs Religionskritik. Bekanntlich läuft diese in ihrem Kern darauf hinaus, dass die Theologie (und damit verbunden die idealistische Philosophie eines Hegel) die irdischen Verhältnisse in den Himmel verlege bzw. auf Gott projiziere. Er macht diesen uralten Anthropomorphismus geltend: Die Menschen machen ihre Götter nach ihrem eigenen Bilde. An ihren jeweiligen Göttern kann man also die spezielle Sorte Mensch (bzw. Gesellschaft) erkennen. Um die schiefe Perspektive der Theologie bzw. der idealistischen Philosophie wieder gerade zu rücken, muss man den Mensch vom (theologischen bzw. spekulativ philosophierenden) Kopf wieder auf die Beine (d.h. auf die – durchaus irdische - Erde) stellen.

Hier setzt Marxens Übernahme der Metapher an, deren Anwendungsbereich er nur noch abzuändern hat.

"Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht." (Kapital, I:649)

Hegels Dialektik stelle nicht nur die realen Verhältnisse auf den Kopf, sondern ist als „falsches Bewusstsein“ ebenso auch reale Widerspiegelung „falscher“ Verhältnisse.

„Wenn Marx jedoch gegen die dialektischen Ableitungen Hegels einwendet, sie gingen nicht aus der Sache selbst hervor, sondern aus der vorausgesetzten Logik des Geistes, und wenn er die schon in der Dissertation anklingende Forderung wiederholt, die Logik, die Idee einer Sache aus ihr selbst zu entwickeln, dann bergen diese Bemerkungen ebensowohl eine gewisse Distanzierung von der Feuerbachschen Anthropologie des Menschengeschlechts wie den Keim zur späteren, durch die Kritik der politischen Ökonomie vermittelten Rückkehr zu Hegels ‚übergreifendem Subjekt‘. Marx wird einmal als falschen Schein einer falschen Wirklichkeit entlarven, was er hier noch als bloß philosophischen Schein denunziert; und bereits in der Dialektik der entfremdeten Arbeit, wie sie in den Pariser Manuskripten entworfen wird, erkennt Marx jenes abstrakt-allgemeine Subjekt wieder, das er in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts als Mystifikation verwirft.“ (SCHÄFER 1968:939)

Der der von Hegel gepflegte Wertplatonismus ist womöglich eine unreelle Philosophie, aber in den Augen von Marx eine ausgezeichnet geeignete soziologische Theorie, die verdinglichte Strukturen der arbeitsteilig prozessierenden Tauschwirtschaft darzustellen und zu erklären. (Hans Albert lernte so etwas Ähnliches von Ernest Gellner.)

(1) "... die ganze Auffassungsweise von Marx ist nicht eine Doktrin, sondern eine Methode. Sie gibt keine fertigen Dogmen, sondern Anhaltspunkte zu weiterer Untersuchung und die Methode für diese Untersuchung." [Engels an Werner Sombart, 11. März 1895 (MEW 39:428)]

(2) "Was derselbe Lange über Hegelsche Methode und meine Anwendung derselben sagt, ist wahrhaft kindisch. Erstens versteht er rien von Hegels Methode und darum zweitens noch viel weniger von meiner kritischen Weise, sie anzuwenden. In einer Hinsicht erinnert er mich an Moses Mendelssohn. Dieser Urytp eines Seichbeutels schrieb nämlich an Lessing, wie es ihm einfallen könne, 'den toten Hund Spinoza' au sérieux zu nehmen! Ebenso wundert sich Herr Lange, daß Engels, ich usw. den toten Hund Hegel au sérieux nehmen, nachdem ja doch Büchner, Lange, Dr. Dühring, Fechner usw. längst begraben haben. Lange ist so naiv, zu sagen, daß ich mich in dem empirischen Stoff "mit seltener Freiheit bewege". Er hat keine Ahnung davon, daß diese 'freie Bewegung im Stoff' durchaus nichts andres als Paraphrase ist für die Methode, den Stoff zu behandeln - nämlich die dialektische Methode." (London, 27. Juni 1870)[Karl Marx: Briefe an Kugelmann. Verlag JHW Dietz Nachf. Berlin]

== Literatur ==
Hans-Georg Backhaus: Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 1. es695 Frankfurt 1. Aufl. 1974. S. 52-77
W. I. Lenin: Aus dem philosophischen Nachlaß. Berlin 1954.
Louis Althusser: Contradiction and Overdetermination. Notes for an Investigation. Aus: For Marx. 1962
Werner Becker: Kritik der Marxschen Wertlehre – Die methodische Irrationalität der ökonomischen Basistheorien des 'Kapital‘. Hoffmann und Campe : Hamburg 1972
Bruno Fritsch: Die Geld- und Kredittheorie von Karl Marx. Frankfurt Berlin 1968
Rolf-Peter Horstmann: Wahrheit aus dem Begriff. Eine Einführung in Hegel. Anton Hain : Frankfurt am Main 1990. ISBN 3-445-06006-1.
Joan Robinson: An Essay on Marxian Economics. London 1942
Gert Schäfer: Zum Problem der Dialektik bei Karl Marx und W. I. Lenin. Studium Generale, 21, 1968, S. 934-962
Josef Schmee: Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur marxschen Ökonomiekritik. Aus: Die Arbeit. Das Monatsmagazin des GLB (Gewerkschaftlicher Linksblock im ÖGB, N° 9 / September 2001
Joseph A. Schumpeter: Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte. In: Grundriß der Sozialökonomik. Bd. I, Tübingen 1941
Jindrich Zeleny: Die Wissenschaftslogik bei Marx und ‚Das Kapital‘. Frankfurt Wien 1968

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