Sonntag, 12. Juli 2009

Was ist "Positivismus"?

Vorstehende Fragestellung ist natürlich. Indes unnatürlich - d.h. unter dem Gesichtspunkt popperscher Essentialismus-Kritik - betrachtet, ist jede "Was-ist-Frage (inkl. Poppers "Was ist Dialektik?", "Was ist empirische Wissenschaft?" als unverbesserlich "naiv" zu bezeichnen.

Wenn wir jedoch entscheiden möchten, ob zum Beispiel Popper ein "Positivist" genannt werden darf (bzw. was wir damit meinen, wenn wir das so tun), so bleibt uns nichts übrig, als zu klären zu versuchen:

Was kann und soll unter "Positivismus" verstanden werden?

Lupenreiner Positivismus ist gewiss der Physikalismus Neuraths (1931a:11). Er propagiert die Einheitswissenschaft auf dem Boden der Physik, welche nur Aussagen über raum-zeitliche Gebilde anerkenne. Metaphysische Aussagen seien im Gegensatz dazu als leer, sinnlos und völlig überflüssig und daher wie gedankliches Unkraut auszurotten.

"Jede Aussage, die sich nicht widerspruchslos der Gesamtheit der Gesetze einfügt, muss verschwinden; jede Aussage, die nicht auf Formulierungen, die sich auf 'Daten' beziehen, rückführbar ist, ist leer, ist Metaphysik." (Neurath 1931a:12)

Sichtlich positivistische Neigungen lässt Feuerbach erkennen, wenn er am 1. Juli 1867 an Bolin schrieb: "Sie sehen noch immer nicht ein, dass ich keine andere Philosophie habe als die unvermeidliche, die Philosophie, die man nicht aufgeben kann, ohne aufzuhören Mensch zu sein, dass aber mit dieser Philosophie die bisherige, Kant mit eingeschlossen, gar nichts gemein hat, dass die Basis derselben die Naturwissenschaft, dass diese allein Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für sich hat, während die Philosophie, wenigstens die allein diesen Namen sich anmassende, nur die Vergangenheit für sich hat und zu den praktischen labores oder vielmehr errores der Menschheit gehört."
(Feuerbach 1874a:191)


 

Es kehrt in der Philosophiegeschichte (zumindest der europäischen Neuzeit stets die Tatsache wieder, dass die philosophischen Neuerer die gegnerische, bekämpfte Philosophie als verschimmelte Metaphysik und nutzlose Scholastik hinstellen, die neue Philosophie jedoch als die Wissenschaft (und nichts als Wissenschaft!).

"Dasjenige, was vor diesem Zeitraum Metaphysik hieß, ist sozusagen mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden und aus der Reihe der Wissenschaften verschwunden." (Hegel, Wissenschaft der Logik:2) –


 

"Die hegelsche Dialektik hat also einerseits eine notwendige Beziehung zur Metaphysik und ist ihr anderseits wesentlich entgegengesetzt." (Sarlemijn 1971a:14)

"Positivism is a (rationalized) distaste for philosophy." (Agassi 1993a:17)

Erklärte Anti-Metaphysik ist sowohl eine Ausgrenzungs- als auch eine Verdrängungsstrategie: sie wird immer dann benötigt, wenn andere, neuere Götter installiert werden sollen.
Ins Auge fällt immer nur die fremde, nicht sowohl die eigene Metaphysik. Und wenn deren philosophischer Charakter endlich einmal bemerkt wird, dann handelt es sich eben nur um die "allerunvermeidlichste" Philosophie.

"In der Dogmengeschichte der Soziologie ist es seit St.-Simon und Comte die Regel, dass im Zeichen der Entzauberung der Welt ein Forscher seinen Vorgänger einen Metaphysiker schilt ..." (Adorno, Rede beim offiziellen Empfang im Heidelberger Schloss, in: Stammer 1965a:101)


 

Dies kann man aber getrost als positivistischen Trend ansehen, von welchem auch Marx und Engels keineswegs frei sind. Ja, die Frontlinien zwischen Metaphysik und Positivismus laufen wie so vieles so richtig quer durch den Marxismus. Marx (ÖPM) formuliert seine Kapitalismuskritik noch mit den begrifflichen Mitteln, die er von Hegel und Feuerbach hergenommen hat, wobei letzterer schon eine Wendung von der Theologie zur naturwissenschaftlich orientierten Anthropologie vollzogen hatte. Dabei ist jedoch eine naturwissenschaftlich aufgezäumte Philosophie so wenig eine Naturwissenschaft, wie eine als Logik aufgezäumte Philosophie oder Psychologie Logik darstellen.

Engels sieht die Aufgabe des modernen Materialismus darin, in der Geschichte der Menschheit die Bewegungsgesetze der Entwicklung zu entdecken, so wie bereits in der Naturwissenschaft durch Darwin geschehen: "In beiden Fällen ist er wesentlich dialektisch und braucht keine über den andern Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klar zu werden, ist jede besondre Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen - die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte." (Engels, Anti-Dühring:37). Vgl. Heintel (1984a:116) und Negt (1964a:10f) zur analogen Einstellung Comtes über die Rolle, die Philosophie von nun an ausgespielt habe. –


 

Für die Auseinandersetzung mit dem Marxismus muss daher als historische Tatsache berücksichtigt werden, dass die marxsche Theorie von Engels bis zu Kautsky und Lenin (mindestens bis zur Veröffentlichung der "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte") von Marxisten wie von Marxismuskritikern wenn nicht in der hegelschen, dann überwiegend in dieser positivistischen Lesart abgehandelt wurde. Marxens Hegel-Kritik wurde dabei lediglich als eine "Umstülpung" im Sinne der Idealismus / Materialismus - Antinomie angesehen, wie sie Lenin (1947a) als die Grundsatzfrage der Philosophie exponiert hatte, was aber Marx auf Feuerbach reduziert. Diese Interpretation des historischen Materialismus als eine Stellungnahme im Hinblick auf das Verhältnis von "Real- und Idealfaktoren" findet sich im Anschluss an Mannheim noch bei Parsons (1965a:44). Die Fixierung auf diese Antinomie ist aber dem Verständnis der marxschen Gesellschaftsanalyse nicht nur hinderlich, sondern im Grunde sogar irrelevant (Giddens 1971a:xv).


 

Die Tendenz zum Positivismus kommt bei Engels (1970a) sehr deutlich zum Ausdruck und erreicht in Lenin (1947a) ihren erkenntnistheoretischen Höhepunkt, in welcher Formulierung er dann schließlich vom Sowjetmarxismus zur Sprachregelung und Richtlinie benutzt wurde (Giddens 1971a:xiv).

"Auflösung" der Philosophie" ist im Sprachgebrauch der Dialektik bekanntlich nicht dasselbe wie "Vernichtung" oder "Abschaffung". Marx verfuhr "auflösend" in derselben Weise, wie Feyerabend dies bei Galilei zu entdecken meinte.

"Gelehrter Brauch war es, die Autoritäten in Einklang zu bringen; er dagegen wählte Bruchstücke ihrer Argumente und Beschreibungen aus, um eine eigene neue Auffassung aufzubauen. Nennt man die erste Verwendung der Autoritäten bewahrend und die zweite auflösend, so kann man sagen, dass sich im 16. und 17. Jahrhundert die auflösende Verwendung von Autoritäten verbreitete." (Feyerabend 1976a:213, Anm.11)


 

"Abschaffen" will der Junghegelianer Bruno Bauer (Wettersten 1992a) und verlangt auch Popper (1984a:10), der allerdings an dieser Stelle vermutlich eher die Auffassung der Positivisten darstellt. Ähnlich forderte Neurath (1931a:60) kurzweg die Auflösung aller Sozialwissenschaften in die Physik: "Alles, was an Realwissenschaften gegeben ist, kann nur Physik sein." Poppers eigenes Streben ist weniger Vernichtung als vielmehr Abgrenzung. Der Wert des Ausgegrenzten bemisst sich für ihn allerdings an dessen Funktion für das Eingegrenzte. Denn was sich nicht ausgrenzen lässt, geht oft sehr schnell ans Eingemachte.

Während Popper und Albert, vom Positivismus ausgehend, Philosophie wiederentdeckt haben, gingen Feuerbach, Marx und Engels den nämlichen Weg, aber in der entgegengesetzten Richtung. Es lässt sich somit nicht übersehen, dass es sich beim Positivismus, wenn man seinen Begriff weiter fasst als eine fest umrissene Doktrin, um eine Tendenz handelt, die in wechselnden Gestalten aufzutreten vermag. In der universellen Form der Reduktion auf das Präzise und Nachprüfbare und der Minimierung von Zugeständnissen an Metaphysik und Philosophie überhaupt ist die positivistische Neigung in jegweder Wissenschaft in vielfachen Formen präsent.

"By 'metaphysics' he meant syntactically specifiable statements like 'all-some' statements and purely existential statements. No basic statements could conflict with them because of their logical forms." (Lakatos 1970a:183)

Diesen Wortgebrauch findet Kneale (1974a:206f) recht sonderbar. Denn etwa schon der Glaube an Hexen (Marwick 1970a) fiele dann unter "Metaphysik", was weder einen besonderen Sinn macht noch mit der herkömmlichen Begriffsgeschichte übereinkommt.

Der Titel "Metaphysik" findet sich nicht schon bei Aristoteles, obwohl dieser dafür als der Stammvater gilt, sondern zum 1. Male bei Nikolas v. Damaskus (2. Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr.), ist aber vermutlich etliches älter (Aubenque 1961a:325, Anm.10).


 

Es geht also hier eigentlich nicht um den historisch bestimmbaren Positivismusbegriff (Auguste Comte oder Wiener Kreis, logischer Positivismus), sondern um jenen allgemeineren: "Positivismus" als ein Programm der Reduktion auf möglichst formallogische Rekonstruktion, verbunden mit minimalen explizit metaphysischen Annahmen.

"Dass wir Reflexion verleugnen, ist der Positivismus." (Habermas 1975a:9)

== Literaturverzeichnis ==

Otto Neurath, Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und Nationalökonomie, Wien 1931

Ludwig Feuerbach's Briefwechsel und Nachlaß. 1850-1872, dargestellt von Karl Grün, Leipzig Heidelberg 1874

Andries Sarlemijn: Hegelsche Dialektik. 1971. ISBN 978-3-11-001839-4

Joseph Agassi, A Philosopher's Apprentice. In Karl Popper's Workshop, Amsterdam Atlanta, GA 1993

Otto Stammer, (Hrg.), Max Weber und die Soziologie heute, Tübingen 1965

Marx ÖPM: Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), Ergänzungsband. Schriften. Manuskripte. Briefe bis 1844, Erster Teil, Berlin 1974 (1968)

Erich Heintel, Grundriß der Dialektik. Ein Beitrag zu fundamentalphilosophischen Bedeutung. Bd. 1: Zwischen Wissenschaftstheorie und Theologie, Darmstadt 1984

Oskar Negt, Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels, Frankfurt 1964

W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie, Moskau 1947

Talcott Parsons, Wertgebundenheit und Objektivität, in: Otto Stammer, (Hrg.), Max Weber und die Soziologie heute, Tübingen 1965, S. 39-64

Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft ("Anti-Dühring"), Berlin 15. Aufl. 1970

Anthony Giddens, Capitalism and modern social theory. An analysis of the writings of Marx, Durkheim and Max Weber, Cambridge 1971

Paul K. Feyerabend, Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt 1976 (zuerst: 1975)

John R. Wettersten, The Roots of Critical Rationalism, Amsterdam Atlanta, GA 1992

Karl R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 8. verb. u. verm. Aufl. 1984

Imre Lakatos, Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes, in: Imre Lakatos, Alan Musgrave, Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970, S. 91-196

William C. Kneale, The Demarcation of Science, in: Paul Arthur Schilpp, (ed.),The Philosophy of Karl Popper. Book I, La Salle, Ill. 1974

Max Marwick, (ed.), Witchcraft and Sorcery, 1970

Pierre Aubenque, Aristoteles und das Problem der Metaphysik, Zeitschrift für philosophische Forschung, 15, 3, 1961, S 321-333

Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt 3. Aufl. 1975

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