Montag, 6. Juli 2009

Begriff und Gesetz bei Max Weber – ein milder methodologischer Historismus?

Die allgemeinsten Gesetze seien für den Historiker auch die wertlosesten. So sagt Max Weber. Für Hans Albert kommt darin ein abgemilderter methodologischer Historismus zum Ausdruck - der in diesem Punkte in diametralem Gegensatz zu Poppers Einsicht steht, dass die allgemeinsten Gesetzesaussagen auch die informativsten und empirisch gehaltvollsten sind. Er sei vermutlich darauf zurückzuführen, dass Max Webers Wissenschaftslogik unvermittelt von der Begriffslogik zur deduktiven Theorie der Aussagenlogik springe.
„Weber wollte hier offenbar darauf hinaus, daß uns unter gewissen Gesichtspunkten vielfach nicht allgemeine Gesetzmäßigkeiten, sondern individuelle historische Tatbestände interessieren, die allerdings dann Gegenstand kausaler Erklärung werden, wobei nomologisches Wissen vorausgesetzt werden müsse. Hinsichtlich der Beschaffenheit dieses nomologischen Wissens machte er dabei einen Unterschied zwischen den beiden Bereichen, der heute kaum mehr akzeptabel sein dürfte.
Anm. 15: A. a. O. S. 178 ff. Charakteristisch ist die These, daß zwar für die exakte Naturwissenschaft die Gesetze je allgemeingültiger, um so wichtiger seien, für die Erkenntnis historischer Erscheinungen aber die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltsleersten, regelmäßig auch die wertlosesten. In dieser These kommt wohl ein, wenn auch sehr abgemilderter methodologischer Historismus zum Ausdruck, der im Gesamtkontext der Weberschen Wissenschaftslehre plausibel erscheinen mag, aber nach dem heutigen Stand der wissenschaftstheoretischen Diskussion problematisch ist. Vgl. dazu z. B. die relevanten Passagen in Karl Poppers: Logik der Forschung. Wien 1935, 2. Aufl., Tübingen 1966, und seinem Buch: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965; vgl. auch meinen Einleitungsaufsatz zu: Theorie und Realität, Tübingen 1964, a. a. O., S. 22 ff. und 38 ff. Der folgende Satz Max Webers (a. a. O., S. 180 oben) gibt mit seinem für die ältere geisteswissenschaftliche Methodologie charakteristischen unvermittelten Übergang von der Allgemeinheit von Gesetzen zum Umfang von Begriffen einen Anhaltspunkt für die Lokalisierung des Weberschen Mißverständnisses.“ (ALBERT 1971: 206)

In der Tat geht die überkommene Auffassung der Syllogistik mit ihrer Subjekt-Prädikat-Struktur des Urteils und ihrer Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem an der deduktiven Struktur der Aussagenlogik völlig vorbei.
„Auf aussagenlogische Schlüsse sind die Charakteristika 'Allgemeines' und 'Besonderes' überhaupt nicht anwendbar. Die Aussagen werden hier nur unter dem Aspekt ihres Wahrheitswertes betrachtet, d.h. unter dem Aspekt, ob sie wahr oder falsch sind. Alle ihre übrigen Eigenschaften (ihr konkreter Inhalt, ihr Allgemeinheitsgrad etc.) haben im Rahmen dieser Theorie keinerlei Bedeutung. Gleichzeitig bildet gerade dieser logische Kalkül (zuweilen wird er Deduktionstheorie genannt) die Grundlage der von der mathematischen Logik geschaffenen Theorie des Schließens, und mit seiner Hilfe kann insbesondere die Aristotelische Syllogistik aufgebaut werden.
...
Die Beweise und Schlüsse, deren man sich in jenen wissenschaftlichen Theorien bedient, die seit jeher als deduktive gelten (mathematische, physikalische u. a.), sind längst nicht immer Schlüsse vom Allgemeinen auf Besonderes.“ (SADOVSKIJ 1967: 199)

Es ist somit nicht ohne Weiteres möglich, die wissenschaftslogischen Gedankengänge Max Webers in logisch eindeutiger Weise zu übersetzen in die heutige übliche wissenschaftslogische Struktur, etwa die von Popper. Hinzu kommen noch viele weitere metatheoretische Differenzen, indem etwa Popper in Gegensatz zu Weber erkenntnistheoretisch den Realismus vertritt samt der Korrespondenztheorie der Wahrheit.
Dennoch kann man nicht einfach Webers Insistieren auf das andersgeartete Erkenntnisinteresse des Historikers zur Seite schieben. Es ist, selbst bei Wegräumen aller logischen und erkenntnistheoretischen Differenzen, immer noch möglich, dass das spezifische Interesse an konkreter Verursachung eine unterschiedliche Methodologie geschichtswissenschaftlicher Erklärung und Begriffsbildung verlangt.
„Was folgt nun aus alledem?
Natürlich nicht etwa, daß auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften die Erkenntnis des Generellen, die Bildung abstrakter Gattungsbegriffe, die Erkenntnis von Regelmäßigkeiten und der Versuch der Formulierung von ‚gesetzlichen‘ Zusammenhängen keine wissenschaftliche Berechtigung hätte. Im geraden Gegenteil: wenn die kausale Erkenntnis des Historikers Zurechnung konkreter Erfolge zu konkreten Ursachen ist, so ist eine gültige Zurechnung irgend eines individuellen Erfolges ohne die Verwendung ‚nomologischer‘ Kenntnis – Kenntnis der Regelmäßigkeiten der kausalen Zusammenhänge – überhaupt nicht möglich.

Nur ist eben die Aufstellung solcher Regelmäßigkeiten nicht Ziel, sondern Mittel der Erkenntnis, und ob es Sinn hat, eine aus der Alltagserfahrung bekannte Regelmäßigkeit ursächlicher Verknüpfung als ‚Gesetz‘ in eine Formel zu bringen, ist in jedem einzelnen Fall eine Zweckmäßigkeitsfrage. Für die exakte Naturwissenschaft sind die ‚Gesetze‘ um so wichtiger und wertvoller, je allgemeingültiger sie sind; für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung sind die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltleersten, regelmäßig auch die wertlosesten. Denn je umfassender die Geltung eines Gattungsbegriffes – sein Umfang – ist, desto mehr führt er uns von der Fülle der Wirklichkeit ab, da er ja, um das Gemeinsame möglichst vieler Erscheinungen zu enthalten, möglichst abstrakt, also inhaltsarm sein muß. Die Erkenntnis des Generellen ist uns in den Kulturwissenschaften nie um ihrer selbst willen wertvoll.“ (WEBER 1988:178ff.)

Man kann wie heutige Soziologen (PRZEWORSKI/TEUNE 1970) Gesellschaften vergleichen, um möglichst generelle Aussagen über sie zu machen (auch über deren Entwicklungstendenzen, selbst wenn Popper dies dagegen wissenschaftlich verdächtig erscheint).
Man kann aber auch als Historiker sich hauptsächlich (wie ein Detektiv um den Tathergang) in erster Linie um die Ursachenerforschung bemühen. Dann kommt es nicht darauf an, warum Äpfel von Bäumen fallen, sondern darum, welcher Apfel auf wessen Kopf fallen konnte, und mit welchen Nachwirkungen.
Wenn sich aus diesen unterschiedlichen Zielen auch andere Methoden, d.h. Wege zum Ziele ergeben, dann auch unterschiedliche Methodologien bzw. Strategien.

== Literaturangaben ==
Hans Albert: THEORIE UND PRAXIS. Max Weber und das Problem der Wertfreiheit und der Rationalität. In: Hans Albert, Ernst Topitsch, (Hg.): Werturteilsstreit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1971. ISBN 3-534-04161-5. S. 200-236 (Aus: Die Philosophie und die Wissenschaften. Simon Moser zum 65. Geburtstag. Anton Hain : Meisenheim 1966. S. 246-272)
V. N. Sadovskij: Die deduktive Methode als Problem der Wissenschaftslogik. In: Studien zur Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis. Akademie Verlag Berlin 1967. (Moskau 1964). S. 191-247.
Adam Przeworski, Henry Teune: The Logic of Comparative Social Inquiry. New York, London, Toronto, Sydney 1970
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 7. Aufl. 1988 (zuerst:1922). ISBN 3-16-845369-2.

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