Sonntag, 12. Juli 2009

Poppers gespanntes Verhältnis zur Philosophie

"... alle Menschen haben eine Philosophie, ob sie es wissen oder nicht." (Popper 1984a:XXV)

Trotz vorstehend zitierter Grundeinsicht - am liebsten paradiert Popper dennoch in dem Kittel des Wissenschaftlers, gerade auch und selbst wenn er philosophiert. So sind denn Positivisten samt und sonders verkappte Philosophen, die sich und der Welt gerne vormachen möchten, wenn sie dem Rest der Zunft die Wissenschaften als leuchtendes Vorbild hinstellen, sie trieben dabei Wissenschaft und nichts weniger als Philosophie. Doch nicht das, worüber man redet, tut man - nach dem eigenen Tun wird man zu recht benannt.

Nur zu häufig gefällt Poppers Philosophieren sich gerade darin, explizite Philosophie absichtsvoll zu umgehen. Nun ist Umgehen der geniale survival-Trick zum Auffinden der passenden ökologischen Nische.

"So it is with all ecological niches. They are potentialities and may be studied as such in an objective way, up to a point independently of the question of whether these potentialities will ever be actualized by any living organism." (Popper 1973a:117)


 

Dennoch stellt sich Umgehen nicht selten als Kurzschlusshandlung heraus. Wir erleben folglich nur zu oft, dass Popper nicht davor zurückschreckt, das Kind mit dem Badewasser auszuschütten. Dieses zeigt aber nicht ein bloß subjektiv bedingtes Fehlverhalten an, sondern wird systematisch hervorgerufen durch die Radikalität des von Popper frei nach Kant gewählten logisch-analytisch rigorosen Dualismus: entweder a oder non-a )! Demgegenüber scheinen kleinere oder größere Produktionsumwege sowie eine Dualismen aufweichende Herangehensweise mitunter doch tauglicher, den Wert des Endprodukts zu steigern.

"Science could not be demarcated by the demarcation of meaningful sentences. A broader theory was needed. But how broad? Popper sought to solve this problem by keeping his modifications and additions to that minimum necessary to solve his problems." (Wettersten 1992a:195)

Gegenüber dem deutschen Idealismus, so weit dieser über Kant hinausgegangen war, hat Popper zeitlebens eine Denkblockade davongetragen.

Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen: seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht: ein Ding kann ebenso wenig zugleich es selbst und ein andres sein. Positiv und negativ schließen einander absolut aus; Ursache und Wirkung stehen ebenso in starrem Gegensatz zueinander." (Engels, Anti-Dühring:31)


 

Dennoch muss er bezüglich der sozialphilosophischen Problemgeschichte in der Linie Kant-Hegel-Marx-Bernstein verortet werden. Dies macht Günther (1984a) deutlich. Leicht übersehen wird dies 1. durch Poppers Selbstinszenierung und 2. dadurch, dass Popper, etwa im Vergleich zur politischen Philosophie Hegels und Marxens, sich nur zu einem sachlich und historisch begrenzten Aspekt desselben Problemkreises äußert.

Poppers prekäres Verhältnis zu philosophischer Erkenntnis sticht unverkennbar hervor, auch wenn biographisch eine Entwicklung verzeichnet werden darf. Er räumt immerhin ein, dass Philosophen manchmal "echte Probleme" haben.

Popper (1984b:102) liefert eine Problemauflistung: Abgrenzung, Induktion, Realismus, Objektivität, Darwins Selektionstheorie, Welt 3 und Leib-Seele-Problem, etc.

Damit glaubt er vielleicht schon genug getan zu haben, um nicht als Positivist verschrien werden zu dürfen. Doch grenzt er "Wissenschaft" auf eine solche Weise ab, dass er sein eigenes Philosophieren bzw. das Geschäft des Methodologen als "unwissenschaftlich" bezeichnen muss.

Es soll jedoch Popper wahrlich nicht der Vorwurf gemacht werden, dass er seine Probleme aus der philosophischen Tradition bzw. aus der Schnittmenge zwischen Philosophie und Psychologie gewonnen habe.

Irgendwoher muss dem nüchternen Verstand das "Bedürfnis der Philosophie" (Hegel 1962a) ja kommen. Gewiss nicht - aber die antimetaphysische Maskerade, unter welcher er solches aufführt, provoziert den Ruf nach Demaskierung. Steht hinter Poppers (1973a:32f) polemischer Attitüde letztlich nur die Befürchtung, dass die akademische Philosophie die Berührung mit der Realität verlöre, wenn sie losgelöst von empirischer Wissenschaft arbeite. Gleichsam wie eine hinweisende oder operationale Definition für eine empirisch-wissenschaftliche Terminologie ein Entscheidungsverfahren für semantische Streitfragen gewährleiste, so stelle der Bezug auf Probleme der empirischen Wissenschaft den Sinn philosophischen Redens sicher - dies ist wohl unausgesprochen der empiristische Gedankengang hinter der Ablehnung eigenständig philosophischer Probleme. Dass dies kein zwingendes Argument darstellt, dürfte auf der Hand liegen.

So verschlägt es nicht, wenn Popper etwa, wie Albert dies im Folgenden formulierte, Philosophie eher für nicht sinnlos, sondern als ab und an heuristisch fruchtbar einschätzt:

"Die Wissenschaft schreitet weder durch Ableitung sicherer Wahrheiten aus evidenten Intuitionen mit Hilfe deduktiver Verfahren, noch durch Ableitung solcher Erkenntnisse aus evidenten Wahrnehmungen unter Verwendung induktiver Verfahren fort, sondern durch Spekulation und rationale Argumentation, durch Konstruktion und Kritik, und in beiden Hinsichten können metaphysische Konzeptionen Bedeutung gewinnen: durch Lieferung kontra-intuitiver und kontra-induktiver Ideen, um unsere Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten zu brechen und alternative Erklärungsmöglichkeiten für die realen Zusammenhänge zu skizzieren, von denen aus eine kritische Beleuchtung bisheriger Überzeugungen möglich ist." (Albert 1980a:47)

Dem Neoliberalen (Hayek) nutzt die Religion. Einem deutschen Genießer aber nützet zur Abendstund ein Glas Moselwein. Gibt es aber auch nur irgendetwas, was nicht irgendwann, irgendwo irgendjemand als heuristisch brauchbar erfunden hat?! Ja, nach dieser Argumentation ist gar nicht mehr einzusehen, was Popper und Albert überhaupt gegen G.W.F.'s Dialektik einzuwenden hatten. Gerade Widersprüche sind äußerst produktiv, meinte das nicht einstens auch ein verschmitzter (Beyer 1967a:72) Schwabe in Berlin?

"Dass Ich in Berlin bin, diese meine unmittelbare Gegenwart, ist vermittelt durch die gemachte Reise hierher, u. s. f." (Hegel 1930b:95)


 

Ist nicht jedes Wissen hervorgegangen aus einer Tradition des Unwissens, jede Wahrheit ein Produkt der Unwahrheit? Kann nicht auch eine Theorie dem nützen, der sie zwar nicht verstanden hat, jedoch fest daran glaubt? Sind nicht Glauben und Wissen so untrennbar miteinander verbunden, dass Placebos von Medikamenten zu unterscheiden nicht nur aussichtslos, sondern sogar sinnlos erscheinen muss?

Es geht Popper wie Albert um die Frage, wie wir Wahrheit erlangen können. Kann es da ausreichen, Philosophieren mit dem (heuristischen) Nutzen zu rechtfertigen? Wenn Albert (1969a:193) von einer "Einbruchstelle" der Philosophie in die Wissenschaft spricht, so verrät diese Redewendung aus der Schimmelreiter-Perspektive

Frei nach der gleichnamigen Novelle von Theodor Storm, die von einem dämonisch- preußisch pflichtbewussten Deichgrafen handelt, der das Volk gegen dessen eigenen Willen und Einsicht vor den Fluten der Nordsee zu retten suchte.


 

eine positivistische Reminiszenz an die vorgebliche Eigenständigkeit empirisch-wissenschaftlicher Erkenntnis. Wenn Wissenschaft keine geschlossene Anstalt ist, muss die Grenze zur Philosophie nach beiden Seiten osmotische Eigenschaften aufweisen. An dieser Grenze darf es keine gate-keeper geben, auch wenn diese sich mit dem Logo "kritisch-rational" schmücken sollten. Wenn Demokratie und Wissenschaft Wächter benötigen, dann im Sinne eines internen Kritikmechanismus, wie Agassi ihn vielleicht zu optimistisch in den underground leaders beschworen hat.

"guardians who are motivated by the love of freedom; they must be serious and sincere and honest. (...) The Cabalist tradition calls them the thirty-six righteous; they are anonymous and they keep the world going round." (Agassi 1993a:232)

Anti-Metaphysik ist bei Lichte besehen nichts anderes als Dogmatismus in der Philosophie.

"Hier gilt es nicht darum, die Idee der Philosophie emporzuheben, sondern die Winkelzüge aufzudecken, welche die Subjektivität, um der Philosophie zu entgehen, anwendet, sowie die Schwäche, für welche eine Beschränktheit ein sicherer Halt ist, teils für sich, teils in Rücksicht auf die Idee der Philosophie, die mit einer Subjektivität vergesellschaftet wird, anschaulich zu machen; denn wahre Energie jener Idee und Subjektivität sind unverträglich." (Hegel, Aufsätze:9)


 

Denn mit der Leugnung von Philosophie wird auch der Pluralismus an Alternativ-Philosophien ignoriert. Es regiert daher in diesem Falle stets unangefochten die eigentümliche implizite Philosophie des jeweiligen Anti-Metaphysikers. Ein kritischer Vergleich wird durch das Deklarieren der Sinnlosigkeit der Debatte eo ipso aus derselben ausgegrenzt. Das kritische Potential indessen des Positivismus liegt in der Zurückführung auf ganz bestimmte Arten von Prüfinstanzen (empirische Datenbasis, formale Logik und common sense), und zwar "gegen den Strich" der jeweiligen Vertreter theoretischer Spekulation. Dies kommt vor allem dann zum Tragen, wenn sich letztere die Hose mit der Zange anziehen, wie z. B. der Idealist, dem das "Ding an sich" zum unlösbaren Problem wird, oder beispielsweise Parsons, dessen Integrationsmodell von Gesellschaft keine Konflikte mehr zulässt (Mills 1963a:84ff). Stattdessen erlaubt sich der Positivist, umstandslos zur Sache zu kommen. Leider übersieht er in seiner Faktenverliebtheit darüber oft, dass sein eigentliches Geschäft genau darin zu bestehen hat, dieselben Fakten theoretisch zu erklären. Während der eine über lauter Spekulation nicht mehr auf den Boden der Fakten zurückfindet, gelingt es dem anderen nicht oder wagt er es nicht, sich in den Himmel des universellen Denkens aufzuschwingen.

Die dem Positivismus immanente Arroganz, jedwede Tradition erst einmal zu entwerten bzw. mit dem Verdacht zu belegen, nichts weiter als entarteter höherer metaphysischer Unsinn zu sein, läuft de facto darauf hinaus, Tradition nur noch ungewusst zu ertragen..

"... the impact of our philosophies upon our actions and our lives is often devastating. This makes it necessary to improve our philosophies by criticism." (Popper 1973a:33)

Das Problem ist jedoch, dass in solchen Fragen durch ein auch nur minimales Zugeständnis die Problemsituation überhaupt sich schlagartig qualitativ ändert. Hier gilt die Null-Promille-Grenze: Wenn ich auch nur eine metaphysische These zulasse, lasse ich Metaphysik überhaupt zu. In diesem Falle stellt sich dann die berechtigte Frage, warum ich bei einem Minimum stehen bleiben soll, oder ob es nicht sinnvoll im Sinne einer Zielsetzung maximaler Kritisierbarkeit ist, Metaphysik in Form von Systemen nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern. Metaphysik ist dann sogar aus systematischen Gründen gefordert! Wir brauchen Philosophie, um die Probleme zu lösen, die wir ohne sie überhaupt nicht hätten.

== Literaturverzeichnis==

Karl R. Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford 1973 (zuerst: 1972)

Ullrich L. Günther, Kritischer Rationalismus, Sozialdemokratie und politisches Handeln. Logische und psychologische Defizite einer kritizistischen Philosophie, Weinheim Basel 1984

Hans Albert, Der Mythos der totalen Vernunft, in: Theodor W. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald Pilot, Karl R. Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied Berlin 1969 , S, 193-234

Joseph Agassi, A Philosopher's Apprentice. In Karl Popper's Workshop, Amsterdam Atlanta, GA 1993

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