Freitag, 22. Mai 2009

Revolutionsprognosen

"Die zentralen Ideen der historizistischen Methode, und besonders des Marxismus, scheinen folgende zu sein:

a) Es ist eine Tatsache, daß wir Sonnenfinsternisse mit großer Genauigkeit und auf lange Zeit voraussagen können. Weshalb sollten wir nicht imstande sein, Revolutionen vorauszusagen? Hätte ein Sozialwissenschaftler im Jahre 1780 nur halb soviel von der Gesellschaft verstanden, wie die alten babylonischen Astrologen von der Astronomie, so hätte er die Französische Revolution voraussagen können.

Diese grundsätzliche Idee, daß die Voraussage von Revolutionen ebensogut möglich sein müsse wie die Voraussage von Sonnenfinsternissen, führt zu folgender Ansicht von der Aufgabe der Sozialwissenschaften:

b) Die Aufgabe der Sozialwissenschaften ist grundsätzlich die gleiche wie die der Naturwissenschaften - Prognosen aufzustellen, und im besonderen historische Prognosen, d.h. Prognosen über die soziale und politische Entwicklung der Menschheit.

c) Sobald solche Prognosen einmal aufgestellt sind, kann man die Aufgabe der Politik festlegen. Diese besteht in der Minderung der 'Geburtswehen' (wie Marx es ausdrückte), die notwendigerweise mit den als unmittelbar bevorstehend vorausgesagten politischen Entwicklungen verknüpft sind.

Diese einfachen Ideen, und besonders den Anspruch, daß die Aufgabe der Sozialwissenschaften in der Aufstellung historischer Prognosen, z. B. Prognosen über soziale Revolutionen besteht, werde ich als historizistische Doktrin der Sozialwissenschaften bezeichnen."

(Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch Köln Berlin 1965. S. 115)

Popper kämpft wie Don Quijote gegen ein Phantom, das wahrhafte Existenz nur in seiner Phantasie zu gewinnen vermag. Weder hat der "Marxismus" jemals ein Buch geschrieben, mit oder ohne Prophetengabe, noch hat der "Marxismus" jemals Politik gemacht. Wir kennen nur einige Individuen, die als Marxisten bezeichnet werden und sich manchmal auch selbst so genannt haben.(1) Nehmen wir Friedrich Engels, den man wohl als Musterexemplar für solche Sorte Mensch nehmen darf. Tatsächlich hat sich der Mann gelegentlich unverhohlen auch der Prognose von Revolutionen schuldig gemacht. Sehen wir einmal zu, wie es dabei zuging:

"Kein Zweifel, Rußland steht am Vorabend einer Revolution. Die Finanzen sind zerrüttet bis aufs äußerste. Die Steuerschraube versagt den Dienst, die Zinsen der alten Staatsschulden werden bezahlt mit neuen Anleihen, und jede neue Anleihe stößt auf größere Schwierigkeiten; kann man sich doch das Geld nur noch verschaffen unter dem Vorwand des Eisenbahnbaues! Die Verwaltung von jeher durch und durch korrumpiert; die Beamten mehr von Diebstahl, Bestechung und Erpressung lebend als vom Gehalt. Die ganze ländliche Produktion - die bei weitem wesentlichste für Rußland - vollständig in Unordnung gebracht durch die Ablösung von 1861; der große Grundbesitz ohne hinreichende Arbeitskräfte, die Bauern ohne hinreichendes Land, von Steuern erdrückt, von Wucherern ausgesogen; der Ackerbauertrag von Jahr zu Jahr abnehmend. Das Ganze mühsam und äußerlich zusammengehalten durch einen orientalischen Despotismus, von dessen Willkürlichkeit wir im Westen uns gar keine Vorstellung zu machen vermögen; einen Despotismus, der nicht nur von Tag zu Tag in schreienderen Widerspruch tritt mit den Anschauungen der aufgeklärten Klassen und namentlich denen der rasch wachsenden hauptstädtischen Bourgeosie, sondern der auch unter seinem jetzigen Träger irre geworden ist an sich selbst, der heute dem Liberalismus Konzessionen macht, um sie morgen erschrocken wieder zurückzunehmen, und der sich damit selbst mehr und mehr um allen Kredit bringt. Dabei unter den in Hauptstadt konzentrierten aufgeklärteren Schichten der Nation eine zunehmende Erkenntnis, daß diese Lage unhaltbar, daß eine Umwälzung bevorstehend ist, und die Illusion, diese Umwälzung in ein ruhiges konstitutionelles Bett leiten zu können. Hier sind alle Bedingungen einer Revolution vereinigt, einer Revolution, die von den höheren Klassen der Hauptstadt, vielleicht gar von der Regierung selbst eingeleitet, durch die Bauern weiter und über die erste konstitutionelle Phase rasch hinausgetrieben werden muß; einer Revolution, die für ganz Europa schon deswegen von der höchsten Wichtigkeit sein wird, weil sie die letzte, bisher intakte Reserve der gesamteuropäischen Reaktion mit einem Schlag vernichtet. Diese Revolution ist im sichern Anzug. Nur zwei Ereignisse könnten sie länger hinausschieben: ein glücklicher Krieg gegen die Türkei oder Österreich, wozu Geld und Alllianzen gehören, oder aber - ein vorzeitiger Aufstandsversuch, der die besitzenden Klassen der Regierung wieder in die Arme jagt."
(Geschrieben im April 1875; erstmalig veröffentlicht in: Der Volksstaat, Leipzig, 16.-21.April 1875)
Friedrich Engels: Soziales aus Rußland. In: Marx/Engels: Ausgewählte Schriften. Bd. II. Berlin 1968.S. 49f

Vermutlich hat Engels hier übersehen, dass er als Marxist zur Abgabe einer "historistizistischen Prophetie" verpflichtet ist; d.h., laut Popper, mit einem Schlage, mit Datum und Uhrzeit, die Geschichte der Menschheit vorherzusagen. Er hätte sich, so wie Popper es für einen Historizisten zünftig hält, wie ein Wetterprophet im Fernsehen hinstellen sollen und sagen: In 30 Tagen geht in Rußland die Sonne der Revolution auf. Dann hätte Popper behaglich mit berechtigtem "Unbehagen auf soziale Pseudowissenschaften" (S. 114) herabsehen können.

Engels zeigt sich auch überhaupt nicht bewusst, dass er als vorgeblicher Historizist dazu verpflichtet ist, eine unbedingte Prognose zu machen. Popper: "Ich stelle zwei Behauptungen auf. Die erste besteht darin, daß der Historizist seine historischen Prophetien in der Tat nicht aus bedingten wissenschaftlichen Prognosen ableitet." (S. 117). Stattdessen spricht er langatmig über "Bedingungen für eine Revolution", ja hält es sogar für möglich, dass diese nicht ausreichen könnten und/oder andere Bedingungen entgegenwirken könnten. Das soll "Prophetie" sein?! Wie konnte Engels aber auch Popper so enttäuschen! Gottseidank ist Popper gestorben, bevor er diese Engels-Prognose je zu Gesicht bekommen konnte.

Leider hat Popper mit seinem Anti-Prophetentum (das indessen selbst ein alter Hut ist; vgl. Marx gegen Proudhon) die Sozialwissenschaftler noch bis heute dermaßen eingeschüchtert, dass sie sich noch nicht mal wagen, eine "Rezession", geschweige denn eine "Wirtschaftskrise" vorherzusehen. Sie warten lieber erst ab, nicht nur bis die Wahlen vorbei sein werden, sondern bis zu dem Tage, da es einige wagemutige Historiker in ihren Büchern verzeichnet haben werden.

Popper: "Die zweite (aus der die erste folgt) lautet: Der Historizist kann dies auch gar nicht, da langfristige Prophetien aus bedingten wissenschaftlichen Prognosen nur dann abgeleitet werden können, wenn sie sich auf Systeme beziehen, die als isoliert, stationär und zyklisch beschrieben werden können. Solche Systeme sind jedoch in der Natur sehr selten; und die moderne Gesellschaft gehört sicherlich nicht dazu." (S. 117)

Während andernorts Popper behauptet, den Historizismus allein per logischen Beweis besiegt zu haben, muss uns hier lediglich seine empirische Intuition bzw. seine persönliche Versicherung darüber aus der Patsche helfen: "Solche Systeme sind jedoch in der Natur sehr selten; und die moderne Gesellschaft gehört sicherlich nicht dazu." Das müssen wir unbesehen glauben; denn Popper ist ja nunmal kein empirischer Sozialforscher oder Historiker, der die Quellen studieren muss. Wie ein Don Quijote kämpft er sehenden Auges gegen ein Phantom, das seinem Wesen gemäß nur unbestimmbar sein kann, und sich öfters als einmal eine Tarnkappe überzieht. Keine beneidenswerte Aufgabe!

Marx hat seine politische Ökonomie bekanntlich auf das Tableau économique von Quesnay aufgebaut; dessen Reproduktionsschema war auch für Schumpeter oder die Input-Output-Tabellen von Leontjew ein Musterbeispiel für ein stationäres zyklisches System in der Wirtschaft, die man ja wohl auch zur menschlichen Gesellschaft zählen darf. Soweit sich solche Kreislaufmodelle in der Geschichte der Menschheit anwenden lassen, soweit lassen sich also langfristige Vorhersagen bzw. Erklärungen im Prinzip machen. Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ist offenbar keine exakte Wissenschaft.

Ich indes schaue mit Unbehagen auf Propheten, deren Defätismus gegenüber sozialwissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen darauf gründet, dass sie mit Unbehagen auf Prognoseversuche von Revolutionen oder Krisen sehen. Mit piecemeal engineering zu hoffen, dass sich alles von selbst einrenken und zumindest die Lage sich nicht verschlimmern werde, ist auch nur eine Prophezeiung, aber die man als solche kenntlich zu machen vergisst.

== Anmerkungen ==

(1) "Einige Namen sind Eigennamen und gehören allein einem einzigen Ding zu, wie Peter, Johannes, dieser Mensch, dieser Baum. Manche sind vielen Dingen gemeinsam, wie Mensch, Pferd, Baum. Obwohl nur ein Name, ist jeder von ihnen dennoch der Name verschiedener Einzeldinge, der, betrachtet man sie alle zusammen, allgemein genannt wird. Es ist nämlich auf der Welt nichts allgemein außer den Namen, denn jedes Ding ist individuell und einzeln." (Thomas Hobbes: Leviathan. S. 26)

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