Donnerstag, 21. April 2011

Asylum ignorantiae

“Die Scholastiker haben ein Axiom: Ein Philosoph darf sich nicht auf Gott berufen, ‘Non est philosophi recurrere ad Deum’; sie nennen einen solchen Rückgriff ‘das Asyl der Unwissenheit’. In der Tat, was kann absurder sein, als in einem naturwissenschaftlichen Werk zu sagen, ‘Die Steine sind hart, das Feuer heiß, die Kälte läßt die Flüsse zufrieren, weil Gott es so gewollt hat.’”

Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Zweiter Teil der Auswahl. Übersetzt und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Felix Meiner Verlag Hamburg 2006. ISBN 13-978-3-7873-1786-8. S. 98.

Die Situationslogik ist ähnlich wie im Theater, wo schlechten Schauspieldichtern nichts Besseres einfällt, als die dramatischen Verwirrungen durch die Erscheinungen eines Gottes von hoch dadroben (deus ex machina) zu einem Happy End aufzulösen. Dieses Faible für einen Deus ex machina gibt es auch bei obrigkeitsgläubigen Wählern.

Methodologisch gesehen handelt es sich beim asylum ignorantiae um eine Pseudo-Erklärung. Abstrakt genommen wird hier zu Erklärungszwecken ein undefiniertes Konzept eingesetzt ("Gott"), und zwar "ad hoc". Wir bekommen also in diesem untauglichen Erklärungsversuch nichts weiter geliefert als ein bloßes Wort (das man genauso gut durch ein anderes Wort ersetzen könnte, zum Beispiel: "Teufel", "die Welt", "Wallstreet", die "Juden", die Bolschewisten", das "Finanzkapital", "der "Weltmarkt", ...). Der Hauptfehler besteht darin, dass mit diesem Wort eher eine erklärende Theorie angedeutet wird, die aber nicht ausgeführt wird, so dass man den Wahrheitsgehalt von deren Behauptungen unabhängig vom fraglichen Anwendungsfall auch in anderen Fällen nachprüfen könnte. Der Begriff des "asylum ignorantiae" beweist, dass die Kritik an Wortemacherei nicht erst seit logischem Positivismus und Popper in der Welt ist, sondern dass auch Scholastiker kritisch genug waren. Freilich durffte man nicht offen die religiöse Hegemonie der Kirche in Frage stellen, wenn man nicht seine Bücher oder sich selbst verbrannt sehen wollte.(1)

Dieser allgemein wissenschaftstheoretische Hintergrund ist allerdings nicht das ganze Spiel. Mit dem Begriff "asylum ignorantiae" wurde geistesgeschichtlich gesehen als Kritikargument die Trennung zwischen Philosophie und Theologie ins Spiel gebracht. Gemäß Hans Alberts Kritik am Territorialverhalten von Wissenschaftlern geht es beim wissenschaftlichen Erklären aber um die betreffenden Problemstellungen, nicht jedoch um die Fachgrenzen, die sich wissenschaftsgeschichtlich gesehen herausgebildet haben, oder die angebliche Autonomie von Fachwissenschaften. Disziplingrenzen sollten per se nicht als Gegenargument zuzulassen sein; es sei denn, es handele sich dabei um einen Nachweisversuch, dass es sich in der jeweils vorliegenden Frage um Unterschiede in der Problemauffassung selbst handele, d.h. mit anderen Worten, um sachlich verschiedene Probleme (Etwa in der Theologie und in der Naturwissenschaft. Offensichtlich differieren diese beiden "Wissenszweige" zumindest in den von ihnen üblicherweise angewandten Methoden. Während die Naturwissenschaften stark auf Experimente vertrauen, so setzen die Theologen, wenn sie nicht ausgesprochene Magier sind, die Geister beschwören, eher auf die geheiligte Routine von Ritualen.).

(1) „Was die gelegentlich recht weit getriebenen philosophischen Reflexionen betrifft, so glaube ich nicht, daß eine Entschuldigung für sie erforderlich ist. Denn da sie nur die Absicht haben, den Menschen davon zu überzeugen, daß der beste Gebrauch, den er von seiner Vernunft machen kann, darin besteht, seinen Verstand unter den Gehorsam des Glaubens gefangen zu nehmen, dürften sie eine Danksagung der theologischen Fakultäten verdienen.“ (Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Zweiter Teil der Auswahl. Übersetzt und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Felix Meiner Verlag Hamburg 2006. ISBN 13-978-3-7873-1786-8. S. 45.)

Bayles Formulierungen liefern insofern auch interessante Belege für die Sklavensprache, der sich zu allen Zeiten auch kritische Geister befleißigen mussten, um nicht unter die Räder der Zensur zu kommen. (Nur) die Gedanken (des Lesers) sind frei!

Heute ist das die "öffentliche Meinung" in Form von Gatekeepern und Verlegern, die insbesondere unter der Aufsicht der Werbeindustrie agieren. Die scheinbare Freiheit im Internet hängt ökonomisch stark von den Einnahmen aus Werbung ab. Eine Gegenkultur wurde kommerzialisiert.

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