Dienstag, 19. Mai 2009

Zweierlei Interpretationsweisen sind möglich

Ökonomische Schriften, Theorien oder Modelle bedürfen der Interpretation.

Sie müssen dem heutigen Leser erst als sinnvolles Ganzes rekonstruiert werden, weil sie unvollständig, unübersichtlich oder dem heutigen Sprachgebrauch oder der heutigen Problemperspektive nicht (mehr) angemessen sind.

Die Anzahl möglicher Interpretationen ist prinzipiell unendlich; denn eine Interpretation ist bedingt nicht nur durch das evtl. einmal gegebene gegebene Textmaterial, sondern auch von den denkbaren Sichtweisen aller möglichen Leser.

Nun gibt es logisch gesehen zweierlei Möglichkeiten, eine solche Interpretation zu gestalten:

(a) Die historische Betrachtungsweise strebt danach, die ursprüngliche Problemstellung des betreffenden Autors aufzudecken und die von ihm angebotene Lösung darzustellen; ggf. werden alternative Lösungsmöglichkeiten von Vorgängern und Nachfolgern mitherangezogen. Schließlich ergibt sich eine Art Problemgeschichte bzw. Geschichte der Problemstellungen der Ökonomie als Fachdisziplin.

(b) Man kann jedoch umgekehrt von aktuellen theoretischen Fragen der heutigen Ökonomie ausgehen und danach fragen, was die Vorgänger in diesem Fache oder anderswo schon vorgeleistet haben. Zielsetzung ist hierbei nicht eigentlich eine Geschichte der ökonomischen Problemstellungen und/oder Lehrmeinungen, sondern den historisch überlieferten Theoriebestand auszubeuten als Steinbruch für die Konstruktion eigener Theorien.

Nun sind beide Möglichkeiten mit Sicherheit legitim. Die Gefahr liegt einfach in dem Missverständnis, wenn beiderlei miteinander vermischt wird: Problemgeschichte und Theoriekonstruktion.(1) Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn um der eigenen Theorieproduktion einen höheren Status zu verleihen, deren Theoreme schon in die Texte der Klassiker des Faches nachträglich hineininterpretiert werden.(2) Es ist hier allerhöchste Vorsicht geboten; denn wer von seiner eigenen Theorie überzeugt ist, wird überall Indizien für diese entdecken. Jedenfalls muss derjenige, der das beliebte Spiel spielen will, Adam Smith oder Marx oder … zu widerlegen, sich zuvor der Mühe unterziehen, herauszufinden, was der entsprechende Autor überhaupt behauptet hat; d.h. er muss sich der Mühe unterziehen, eine Rekonstruktionsarbeit nach Fall (a) zu leisten, falls andere das nicht schon zuvor für ihn getan haben. (Rein logisch gesehen, widerlegt er dann nicht den Autor, sondern genau genommen die ausgewählte Interpretation desselben; wobei laut Popper definitive Widerlegungen auf dem Gebiet der empirischen Wissenschaften grundsätzlich unmöglich zu führen sind.)

Für Fall (a) können folgende Paradebeispiele angeführt werden:

Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse. Bd. 1, Göttingen 1965 (zuerst: 1952)
John Kennedy Galbraith: A history of economics. The past and the present. London 1987
Ernesto Screpanti, Stefano Zamagni: An Outline of the History of Economic Thought. Oxford 1993
Edgar Salin: Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Platon bis zur Gegenwart. 5. erw. Aufl. 1985
Joachim Starbatty: Die englischen Klassiker der Nationalökonomie. Lehre und Wirkung. Darmstadt 1985

Für Fall (b) können folgende Paradebeispiele angeführt werden:

Mark Blaug: Economic theory in retrospect. 5. Aufl. Cambridge 1997
Takuo Dome: History of Economic Thought. A Critical Introduction. Aldershot/Vermont 1994
Samuel Hollander: The economics of Adam Smith. Toronto 1973
Samuel Hollander: The economics of Thomas Robert Malthus. Toronto 1996
Samuel Hollander: The economics of David Ricardo. Toronto Buffalo 1979
Samuel Hollander: The economics of John Stuart Mill. Toronto Oxford 1985

---
Nachtrag
Wenn man die Analyse von Morishima betreffend Ricardo, Marx, Walras und Keynes betrachtet, so muss man den Eindruck gewinnen (insbesondere wenn man bedenkt, dass derlei Analysen stets auch unter anderen interpretatorischen Blickwinkeln möglich sind!), dass nicht nur zwei alternative Arten der Betrachtung der Theoriengeschichte möglich sind, sondern unendlich viele.

Insofern ist auch das "neo-hegelianische" Schema von POPPER (in seinem Artikel "Was ist Dialektik?") mit dem Übergang von P1 zu P2 zu simpel, weil uni-linear. Wenn Poppers Historizismuskritik sich gegen Unilinearität von Entwicklung richtet, warum dann lediglich P1-P2-P3... annehmen?!

Wir haben in den Sozialwissenschaften nicht nur Multiparadigmität, sondern auch eine komplexe Evolutionsmöglichkeit aus den Bausteinen dieser Paradigmata heraus (ähnlich der Kombinatorik der Gene in der natürlichen Evolution). SCHUMPETER (1965:35) erkennt in seiner Geschichte der ökonomischen Analyse auf eine Filiation der wissenschaftlichen Ideen - die verbunden sind mit entsprechenden Problemstellungen.

Das soll jedoch bitte nicht legitimieren, den Unterschied zu leugnen oder zu ignorieren zwischen der historischen Wahrheit (dessen, was ein historischer Autor gesagt und gewollt hat) und dem, was man aus dessen Theoriebausteinen logisch und theoretisch machen, d.h. herauskonstruieren bzw. reinterpretieren kann).

== Anmerkungen ==

(1) "The attractive but fatal confusion of utilizable sociological theory with the history of sociological theory - who said what by way of speculation or hypothesis? - should long since have been dispelled by recognizing their very different functions." (Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure. The Free Press, Glencoe, Ill. 1957. S. 4)

(2) „The attempt to claim a privileged position vis-a-vis a scholarly competitor through the creation of a myth of scientific legitimacy is an old tactic. Those who call themselves Sociologists of Science, and those who study the social contours of the scientific enterprise, will be well acquainted with such attempts to creatively write history. And let there be NO DOUBT that attempts such as these are attempts to write for oneself a privileged position in the documentary record. No less than a ploy to gain immediate legitimacy at the expense of a competitor, it is a maneuver to ensure history is written in a specific way and from a specific position with a specific champion of science, objectivity, neutrality, and rigour on top."

(To the Editors of Sociological Research Online (SRO), EJS COLLECTIVE)

Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse. (hrg. Elizabeth B. Schumpeter). Erster Teilband. Göttingen Vandenhoeck Ruprecht 1965.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen