Dienstag, 7. Juni 2011

Historizismus


Im Jahre 1913 notierte W. I. Lenin, dass J. Segond,(1) in einer Rezension eines Werkes von Antonio Aliotta (2) die Philosophen Rickert, Croce, Münsterberg und Royce zur Richtung des „Historizismus“ zusammengefasst hatte.(3) Außerhalb Deutschlands werden „Historismus“ und „Historizismus“ oft nicht unterschieden, in der deutschen Tradition sehr wohl.(4)

Hans Albert zum Beispiel reservierte mit guten geistesgeschichtlichen Gründen den Begriff „Historismus“ für die Richtung, die in Gegensatz zu den sog. „nomothetischen“ (5) Wissenschaften in der Geschichtswissenschaft keinerlei theoretische Erkenntnis suchte. Während „Historismus“ bei Albert also einen Verzicht auf theoretische Erklärung kennzeichnet, so ist der Begriff des „Historizismus“ von Karl Popper gerade im Gegenteil gegen die Zielsetzung nomologischer Erkenntnis über den Geschichtsprozess gerichtet.
„Die Grundsätze des Historizismus – daß es die Aufgabe der Sozialwissenschaften ist, historische Prophetien hervorzubringen, und daß diese historischen Prophetien für jede rationale Theorie erforderlich sind – sind heute aktuell, da sie einen sehr wichtigen Bestandteil jener Philosophie bilden, die sich selbst gern als ‚Wissenschaftlichen Sozialismus‘ oder ‚Marxismus‘ zu bezeichnen beliebt.“ (6)
Karl Popper will demzufolge den Historizismus und dabei gleichzeitig den Marxismus kritisieren, weil sie seiner Auffassung nach Prophezeiungen für nötig hielten und diese auch zu liefern anstrebten. Dabei behauptet Popper, er wolle seriös vorgehen, treibt aber sogleich mit dem Leser ein Verwechslungsspiel in der Art von Shakespeares Sommernachtstraum, indem er sich bei seiner Kritik nicht auf bestimmte Autoren mit sorgfältig belegten Textstellen bezieht, sondern einen Ismus samt dazugehörigen Neologismus konstruiert. Dem Leser bleibt überlassen, für sich selbst herauszufinden, was dieser Ismus eigentlich bedeute und ob das, was Popper über diesen Ismus behauptet, konsistent sei oder vielmehr in sich inkonsistent sowie dann mit dem übereinstimme, was Popper bei anderen Autoren behauptet gefunden zu haben.

Es ist daher im ersten Schritt einmal zu inventarisieren, was uns an Thesen über Poppers Historizismus in seinem Vortrag aus dem Jahre 1949 alles so begegnet, dem Jahre, da die Menschheit wieder einmal in eine „tödliche Gefahr“ „hineingetaumelt“ sei und Popper sich verantwortungsvoll dem „Gebot der Stunde“ stellt, so salbungsvoll wie unheilsschwanger der Original-Orakelton Popper.(7) (Der Redner hat noch selten eine weltpolitische Katastrophe verschmäht, um auf die Aktualität seines eigenen schicksalhaften Kampfes mit dem Marxismus hinzuweisen. Wer selbst keine Werbung für sich macht, wer dann?)

(a) Eine zentrale Idee des Historizismus sei, dass „die Voraussage von Revolutionen ebenso gut möglich sein müsse wie die Voraussage von Sonnenfinsternissen“. (8)
(b) Die Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht ebenso wie der Naturwissenschaften darin, Prognosen aufzustellen; insbesondere Prognosen über die soziale und politische Entwicklung der Menschheit.
(c) „Sobald solche Prognosen einmal aufgestellt sind, kann man die Aufgabe der Politik festlegen.“ (9)
(d) Der Weltgeschichte liege ein göttlicher Plan (Vorsehung) zugrunde; es gebe zur Mitwirkung hierzu ein auserwähltes Volk.
(e) Die enge Verbindung zwischen Astronomie und Historizismus werde in der Astrologie sichtbar. (10)
(f) Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Prognose, die stets bedingt sei, sei eine Prophezeiung (im Sinne des Historizismus) (notwendigerweise) unbedingt.

Ein kurzer Blick über die Thesen (a) bis (f) zeigt, dass sie zwar vielerlei Berührungspunkte untereinander aufzuweisen scheinen, dass sie sich aber dennoch auf grundsätzlich verschiedene Dinge oder Sachgebiete beziehen, nämlich auf Astronomie, auf Sozialgeschichte, auf politische Gestaltungsaufgaben, auf Heilslehren sowie auf Astrologie. Schließlich soll u. a. hier auch noch (außer dem Alten Testament mit seinen Propheten) die Theorien von Platon, Hegel, Comte, Marx und John Stuart Mill im Bunde sein. Popper mag mit seinem Begriff von „Historizismus“ vielleicht Plan und Absicht verfolgen, selbst eine allumfassende Geschichtsphilosophie zu liefern; den zwischen den genannten Aspekten existenten gemeinsamen Begriffsinhalt aufzuzeigen ist ihm aber mit einer solchen Aufreihung noch keinesfalls gelungen. Wie denn auch, da er sich nur auf Unterstellungen angibt, nicht aber Nachweise der Sache bei den genannten Autoren. Es reicht insbesondere nicht aus, rhetorisch eine Äquivokation zu benutzen und etwa beim Marxismus wie im Alten Testament von „Prophezeiung“ oder von „Astrologie“ zu reden.

Popper bezieht sich hilfsweise dann noch auf die anderen zwei von ihm bekannten „sozialphilosophischen“ Schriften. Folgende Fragestellungen werden aber von Popper in der „Problemexposition“ seines Vortrags ziemlich wirr durcheinander geworfen:
1. eine philosophische Deutung von Geschichte
2. Annahme von Gesetzmäßigkeit in der Geschichte (11)
3. der Begriff der "Entwicklung" (Organismus-Analogie; bei Aristoteles „Entelechie“)
4. die Zielsetzung der Voraussage
5. die Ableitung politischer Handlungsanleitungen.

Schon bei der begrifflichen Bestimmung der Standpunkte, die Popper zu widerlegen unter-nimmt, fällt auf, dass sein Begriff für seine Erkenntnisabsichten nicht trennscharf genug ist, sondern eher eine Äquivokation darstellt, d. h. ein und dasselbe Wort wird mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Dies erlaubt es auf unmerkliche Weise, zwischen verschiedenen Fragen hin- und herzuwechseln, und dabei das, was an einer Stelle bewiesen zu sein scheint, auf andere Stellen zu beziehen, wo dies alles andere als bewiesen ist. Ein solches Begriffsragout mag agitatorisch äußerst zweckmäßig sein, aber nicht dazu, uns auf dem sichersten Weg in der Erkenntnis voranzubringen. Popper ist natürlich listig genug, diesen grundlegenden Einwand gegen seine rhetorische Methode vorauszusehen, und wehrt ihn ab. Das heißt aber nicht, dass sein wirkliches Vorgehen genau darauf aufbaut – was selbst einige Popper-Schüler später, meist nach dem Ende Schülerschaft, nicht anstanden zu beanstanden.

Poppers Abhandlung von „Prognose“ und „Prophezeiung“ erfüllt eine Doppelfunktion: 1. geht es ihm um wissenschaftliche Methodologie,(12) 2. um Ideologiekritik im Sinne von „Aufklärung“.(13) Diese doppelte Art von Zielsetzung ist jedoch alles andere als frei von einem Zielkonflikt.

Denn die Ideologiekritik erfolgt keineswegs ergebnisoffen, sondern ist von vornherein darauf festgelegt, den Marxismus zu desavouieren. Nur so ist es zu verstehen, dass Popper nicht den gewöhnlichen Gang einschlägt, zuerst die Theorie mit ihrer Problemstellung zu rekonstruieren und sodann zu prüfen, was haltbar und nicht haltbar ist. Er geht vielmehr anders vor: Er konstatiert, dass der rationale Kern des Marxismus in seiner Irrationalität liege; wenn jedoch der historizistische Kern des Marxismus zerstört sei, sei auch der wissenschaftliche Anspruch des Marxismus vernichtet.(14) Poppers Ausgangspunkt hierbei ist damit aber selbst höchst irrational, denn der rationale Kern einer Theorie kann nicht in deren Irrationalität liegen. Hier hat sich Popper selbst in den Holzwegen des von ihm verdammten absoluten Idealismus vergaloppiert: wo die Vernunft aufhört, wird als Grenzbegriff das Absolute als das Irrationale postuliert und zur Grundlage des Rationalen gemacht.

Die Exposition der Methodologie von „Prognose“ ist keinesfalls unabhängig vom Ziel der Ideologiekritik. Denn mit seiner Definition von „Wissenschaft“ grenzt Popper alternative Wissenschaftskonzeptionen per fiat aus (etwa eine „Revolutionswissenschaft“). So ist auch die Gegenüberstellung von „Prognose“ und „Prophezeiung“ nicht aus reiner Methodologie heraus zu rechtfertigen. Aus Poppers Methodologie ergibt sich lediglich eine rationale Rekonstruktion der logischen Grundlage des Verfahrens einer wissenschaftlichen Prognose und darin negativ impliziert der Ausschluss von Verfahren, die diese Kriterien gar nicht oder nur unvollständig erfüllen. Keineswegs ist die Residualkategorie „Nicht-Prognose“ begriffslogisch damit identisch, was Popper oder andere bislang (mit Sicherheit unabhängig davon) unter „Prophezeiung“ verstanden haben. „Prophezeiung“ ist ein religionsgeschichtlicher Begriff, der gemeinhin auf das Alte Testament zurückgeführt wird. Später wurde es üblich, diesen Begriff in polemisch abwertender Weise und in ideologiekritischer Absicht zu verwenden, was jedoch keineswegs die Ableitung hergibt, dass dieser polemisch-ideologiekritische Begriff der „Prophezeiung“ von Umfang und Bedeutungsinhalt identisch sei mit dem logischen Gegenteil des popperschen Begriffs von „Prognose“. Da diese ideologisch instrumentalisierte Ideologiekritik Poppers methodologische Analyse unnötig einschränkt, aber zudem mit dem positiven Bekenntnis zu einem historischen Individuum, nämlich zur „offenen Gesellschaft des Westens“,(15) verbunden auftritt, muss bei Popper auf eine „Gegenideologie“ geschlossen werden. Methodologie wird so bei Popper zu einer Identität von geglaubter und praktisch angewandter Ideologie, welche sich in der Tat vor allem gegen alternative Positionen in Politik und Wissenschaftstheorie kehrt.

Auf Grundlage einer derart popperschen Dämonologie des Historizismus erscheint es indes psychologisch nachvollziehbar, dass Poppers Leitfaden nicht die Theoriekritik und Theoriekonstruktion ist, sondern dass er der Reihe nach die unterschiedlichsten, wenn auch disparaten Argumente zu finden sucht, um den Feind einzukreisen und möglichst wissenschaftlich und/oder ideologisch zu treffen. Nachdem er anfänglich geglaubt hatte, ihm sei dies zur Zufriedenheit gelungen, hat er schließlich im Vorwort zu seiner eigenen „wissenschaftlichen“ Schrift „Das Elend des Historizismus“ noch einen „definitiven Beweis“ nachgeschoben. Wenn dieser Beweis gelungen wäre, so könnten wir uns also viel Mühe und Zeit sparen und bräuchten Poppers andere Argumente nicht mehr so genau zur Kenntnis zu nehmen. Es sei daher mit diesem Beweis zuerst begonnen. Die anderen mit Poppers Argumenten angeschnittenen Themenkomplexe folgen daran im Anschluss.


(1) Wir wissen nicht, was wir noch wissen werden

(2) Prognose

(3) Utopismus

(3) Vorsehungsglaube und Teleologie

(4) self-fulfilling prophecy

(5) Revolutionsprognosen

Anmerkungen

(1) J. Segond: Review in Revue Philosophique, Ribot, Paris 1912, Nr. 12, S. 644-646.
(2) Antonio Aliotta: La reazione idealistica contro la sicenzia. Casa editrice Optima, Palermo 1912.
(3) W. I. Lenin, Werke, Bd. 38. Philosophical Notebooks. Foreign Languages Publishing House, Moskau 1961. S. 401.
(4) Manfred Riedel: Historizismus und Kritizismus. Kants Streit mit Georg Forster und Johann Gottfried Herder. http://www.deepdyve.com/lp/de-gruyter/historizismus-und-kritizismus-kants-streit-mit-g-forster-und-j-g-f8mOh502rN
(5) Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. Straßburg: Heitz, 3. Auflage 1904. / Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 7. Aufl. 1988 (zuerst: 1922). S. 3ff.
(6) Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln Berlin 1965. S. 113ff. (Prediction and prophecy in the social sciences. Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy, Bd. I, Amsterdam 1949, S. 82ff. Wiederabgedruckt in Karl R. Popper: Conjecture and Refutations. Routledge and Kegan Paul, London 1963; übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel). S. 113.
(7) Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln Berlin 1965. S. 113ff. (Prediction and prophecy in the social sciences. Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy, Bd. I, Amsterdam 1949, S. 82ff. Wiederabgedruckt in Karl R. Popper: Conjecture and Refutations. Routledge and Kegan Paul, London 1963; übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel). S. 114.
(8) Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln Berlin 1965. S. 113ff. (Prediction and prophecy in the social sciences. Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy, Bd. I, Amsterdam 1949, S. 82ff. Wiederabgedruckt in Karl R. Popper: Conjecture and Refutations. Routledge and Kegan Paul, London 1963; übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel). S. 115.
(9) „Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist - und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen -, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern." (Karl Marx: MEW 23:15f.)
(10) Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln Berlin 1965. S. 113ff. (Prediction and prophecy in the social sciences. Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy, Bd. I, Amsterdam 1949, S. 82ff. Wiederabgedruckt in Karl R. Popper: Conjecture and Refutations. Routledge and Kegan Paul, London 1963; übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel). S. 116.
(11) „Für die holistische Sozialplanung der Utopie müßten Voraussetzungen historischer Gesetzmäßigkeit erfüllt sein, die einer rationalen Kritik nicht standzuhalten vermögen. Die Antizipation einer offenen Zukunft ist durch keine vernünftige Methode zu leisten.“ (Eberhard Döring: Karl R. Popper: ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘. UTB 1920. Paderborn 1996. ISBN 3-8252-1920-8. S. 87.)
(12) „Fragen der Methodologie richten sich darauf, wie solche Sprachspiele beschaffen sein müssen, um für ihren Zweck brauchbar zu sein.“ (Hans Albert: Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften (zuerst: 1957). In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln Berlin 4. Aufl.1967. S. 126.)
(13) „Die Funktion der Ideologien besteht nicht in der Erklärung bestimmter Vorgänge, sondern in ihrer Rechtfertigung, nicht in der Vorhersage bestimmter Handlungskonsequenzen, sondern in der Vorentscheidung von Handlungen, nicht in der Beschreibung von Ereignissen, sondern in ihrer Bewertung.“ (Hans Albert: Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften (zuerst: 1957). In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln Berlin 4. Aufl.1967. S. 127.)
(14) „Die Aufgabe der historizistischen Doktrin zerstört den Marxismus vollständig, soweit es um seine wissenschaftlichen Ansprüche geht.“ (Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch, (Hrg.): Logik der Sozialwissenschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln Berlin 1965. S. 113ff. (Prediction and prophecy in the social sciences. Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy, Bd. I, Amsterdam 1949, S. 82ff. Wiederabgedruckt in Karl R. Popper: Conjecture and Refutations. Routledge and Kegan Paul, London 1963; übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel). S. 121.)
(15) Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1: Der Zauber Platons. München 6. Aufl. 1980 (zuerst: 1944). S. XIV.

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