Dienstag, 17. Februar 2009

Historizismus

Beim Historizismus geht es um die Frage: Gibt es in der Geschichte Gesetze?

Diese Fragestellung ist schon recht alt. In dieses Problem wurde schon von John Stuart Mill in seinem VI. Buch in seiner einflussreichen Abhandlung "A System of Logic. Ratiocinative and Inductive. Being a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation" (1843; 9. Aufl. 1875) im Buch VI: "On the Logic of the Moral Sciences" bestens eingeführt.

Mill stellt als Motto ein Zitat voran von Condorcet ("Esquisse d'un Tableau Historique des Progrès de l'Esprit Humain"): Alle Erscheinungen, von denen der Mensch die Gesetze kennt, kann er fast vollständig voraussagen; wenn diese Gesetzeskenntnis ihm fehlt, ist er dennoch zu Wahrscheinlichkeitsaussagen fähig. Auf diesem Prinzip beruht die gesamte Naturwissenschaft. Warum also sollte davon die Entwicklung der geistigen und moralischen Fähigkeiten des Menschen eine Ausnahme bilden?

Die Grundsätze der Erforschung der Wahrheit und die Methodenlehre der Wissenschaften können nicht a priori konstruiert werden, sagt Mill schon zu Beginn seiner Einführung. Die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen können nur studiert werden am "agent at work". Der Mensch erkennt schon, bevor er sich überhaupt dessen bewusst wird und diesen Vorgang der Prüfung unterzieht. Die wissenschaftliche Erkenntnis steigt dabei von den einfachsten Fragen, wo sie sicherer und leichter ist, zu den komplizierteren auf.

Man darf schon zu Beginn den Kontrast zu Popper feststellen. Popper geht von Kants Abgrenzungsproblem zwischen Verstand und Vernunft, empirischem und metaphysischem Erkennen aus, das er verändert zur Frage der Abgrenzung zwischen empirischer Wissenschaft und Nicht Wissenschaft. Während für Mill auch der Prozess wissenschaftlichen Erkennens ein der Erfahrung unterworfener Vorgang ist, muss man Poppers Konstruktion des Begriffs von empirischer Wissenschaft ironischer Weise selber als kaum verhüllten Apriorismus kennzeichnen (ein Erbe des Kantschen Transzendentalismus). So gerne Popper über "empirische Wissenschaft" redet, so selten geht er wie ein empirischer Wissenschaftler vor. Er zieht es im Allgemeinen selbst bei der Behandlung empirischer Fragestellungen vor, diese möglichst mithilfe von Logik bzw. durch Logisierung des Problems in Modellen und Gedankenexperimenten zu beantworten.

So rekonstruiert auch Popper den Historischen Materialismus mit seiner Voraussage einer sozialistischen Revolution nicht anders als deduktiven Beweisgang. Und Historizismus wird von Popper zu widerlegen gesucht durch einen logischen Beweis. Ein solches Unterfangen setzt aber voraus, dass empirische Behauptungen durch A priori-Deduktionen zu widerlegen seien.

Poppers Beweisgang setzt aber mehr voraus als Axiome der Logik. Es gibt keine synthetischen Sätze a priori. Also muss Popper sich entweder darauf beschränken, (mit allein logischen Mitteln!) die Inkonsistenz der historistischen Problemlösung nachzuweisen; oder er muss die empirischen Behauptungen der "Historizisten" durch entgegengesetzte empirische Behauptungen bestreiten. Wer den Theorien der Historizisten jedoch eine eigene empirische Theorie entgegenstellt, begibt sich damit auf eben genau das Terrain, dessen Zutritt er nicht nur den Historizisten, sondern allen vernünftigen Wissenschaftlern verboten hat.

Condorcet und Mill sehen (was mit Hans Alberts Position des "Naturalismus" völlig übereinstimmt) keinen grundsätzlichen methodischen Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. Die Sozialwissenschaften unterscheiden sich nur dadurch von den entwickelteren Naturwissenschaften, dass ihr Erkenntnisgegenstand komplexer und ihr vergleichbar erreichter Erkenntnisfortschritt bislang geringer sei. Mill sieht demnach keinen grundsätzlichen Hinderungsgrund, seine allgemeinen Grundsätze zur Methode wissenschaftlichen Erkennens gleichfalls auf das Feld der "Moralwissenschaft" (heute "Sozialwissenschaften" genannt) anzuwenden.

Gegen diese Auffassung wird häufig der Einwand vorgebracht: Die Handlungen des Menschen sind nicht wie die Naturvorgänge Naturgesetzen unterworfen, sondern durch den freien Willen des Menschen bestimmt.

Mill sieht hier eine unheilvolle Begriffskonfusion am Werke, hervorgerufen durch das Wort "Notwendigkeit" (necessity). Während wie in den Naturwissenschaften die Kausalbeziehung nichts weiter als eine gleichförmige Beziehung zwischen Ursache und Wirkungen bezeichnet, wird in der "Doctrine of Necessity" behauptet, dass menschliche Handlungsmotive "necessary and inevitable" sind.*) Damit werden häufig Thesen assoziiert, wonach der Mensch (außerhalb der Kausalgesetze) zu etwas gezwungen werde oder dass ein Ereignis unvermeidlich sei, und zwar in dem Sinne, dass der Mensch durch sein Handeln nicht eingreifen könne. Verbunden ist damit der Fatalismus, als die die Einstellung, der Widerstand des Menschen gegen ein voraussehbares Geschehen sei zwecklos. Demgegenüber hält Mill fest, dass das Gefühl der Entscheidungsfreiheit durch die Kausalgesetzlichkeit keineswegs tangiert werde. [Auch Wolfgang Schluchter 1979:1 spricht von "Notwendigkeitskausalität". Das ist bestenfalls ein "weißer Schimmel" oder Mystifikation. Entweder man will etwas erklären, dann benötigt man Regelmäßigkeiten bzw. Kausalität. Oder man leugnet Erklärbarkeit; dann muss man sagen, was man in der Wissenschaft noch glaubt erreichen zu können.)

*) But the doctrine of causation, when considered as obtaining between our volitions and their antecedents, is almost universally conceived as involving more than this. Many do not believe, and very few practically feel, that there is nothing in causation but invariable, certain, and unconditional sequence. There a few to whom mere constancy of succession appears a sufficient stringent bond of union for so peculiar a relation as that of cause and effect.
(Mill, London 1959, S. 548)

Mit der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung wird ein mystischer Zusammenhang mitgefühlt, welcher über die Konstatierung der Konstanz der Kausalrelation hinausgeht. Das Gefühl dieser magischen Beziehung wird bei der introspektiven Betrachtung des eigenen Handelns jedoch gerade vermisst - aus welchem subjektiven Erleben heraus die Kausalrelation für menschliches Handeln überhaupt in Frage gestellt bzw. intuitiv abgelehnt wird.

Auch Popper beutet diese Begriffskonfusion um die "Unvermeidlichkeit" weidlich aus. Auch er rückt Determinismus in die Nähe von Fatalismus.

Popperizisten (das sind Popper-Nachschwätzer, die in Popper die Fleisch gewordene Logik anbeten) dann zeigen selbst in der Anwendung von Logik wenig Konsequenz.
Denn einerseits klagen sie Marx wie auch andere Denker des Historizismus an.
Andererseits behaupten sie selbst fast noch im selben Atemzuge, dass die Ideen von Platon, Hegel und Marx unvermeidlich und geschichtlich geradewegs auf Hitler und Stalin hinausliefen. Was ist eine solche Behauptung indes anderes als eine reformulierte historizistische These?!

Wenn Popper Determinismus ablehnt, so stellt sich als die nächste Frage, was von seiner Methodologie empirischer Wissenschaft übrigbleibt. Welche Möglichkeiten verbleiben einem Wissenschaftler denn für sein Erklärungsprogramm, wenn er konstante Strukturen sowie etwa Gesetzmäßigkeiten in der Welt leugnet?

Hans Albert sprach dem Historismus gegenüber, der ebenfalls die Möglichkeit von Gesetzeserkenntnis in der menschlichen Geschichte bestreitet, von einem a priori-Erkenntnisverzicht bzw. von der "Ontologisierung einer Erkenntnislücke".
Wer die Gesetze in menschlichem Handeln, in Gesellschaft und Geschichte leugnet, wird auch keine suchen. Welcher Art soll dann die Wissenschaft derselben sein?!

Man kann suchen, wissenschaftliche Gesetze, die einem missfallen, dadurch den Boden zu entziehen, indem man die logische Unmöglichkeit von Gesetzeserkenntnis überhaupt behauptet. Damit stellt man jedoch die Arbeitsgrundlage von empirischer Wissenschaft grundsätzlich in Frage und zieht sich aus dem Spiel Wissenschaft zurück.

Wie im Schach: Ein schlechter Verlierer wirft das Spielbrett um!

== Literaturverzeichnis ==
Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) :Tübingen 1979. ISBN 3-16-541532-3.

1 Kommentar:

  1. Folgendes Beispiel zeigt, wie leicht Apologeten des Kapitalismus historizistische Prophezeiungen über die Lippen gehen:

    "Es wird nicht einfach, dem nächsten Kapitalismus Gestalt zu verleihen. Aber die Geschichte ist auf unserer Seite: Die rettende Eigenschaft des Kapitalismus ist seine beinahe unendliche Formbarkeit."

    In Kürze: Kapitalismus 3.0.
    Dani Rodrik
    http://www.project-syndicate.org/commentary/rodrik28/German

    "Kapitalismus" kann man freilich allein schon dadurch retten, dass man den Begriff als unendliche Leerformel gebraucht.

    Wenn man den Begriff allerdings geschichtlich gebraucht, so ist Kapitalismus historisch vergänglich, was man schon daraus ersehen kann, dass es ein Ende der Geschichte geben wird, wie dieses zum Beispiel durch einen atomaren Weltkrieg oder eine Klimakatastrophe vorgestellt werden kann. Danach wird sich uns freilich die Frage der Überlebensfähigkeit des Kapitalismus nicht mehr stellen.

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