Sonntag, 27. März 2011

Historizismus, wie ihn deutsche Soziologen 1991 begriffen haben

„Es geht nicht nur um die Überprüfung der Anwendungsbedingungen eines bestimmten Modells (z. B. die Erklärung der Organisation einer Revolution als Kollektivgutproblem), sondern – meist – um die Kombination ganz unterschiedlicher Situationstypen (und deren aggregierter Folgen), wobei diese Kombination ‚historisch‘ eher auf ‚Zufall‘ als auf einen ‚ gesetzmäßigen‘ Verlauf insgesamt zurückzuführen ist. Es war wohl der zentrale Irrtum des Historizismus (und analoger makroskopischer Theorien sozialen Wandels), die konkreten Abläufe insgesamt aus einem Modell erklären zu wollen und als eine Art von gigantischem, komplett endogenisierbaren Ablauf zu verstehen, wobei es sich tatsächlich lediglich um die zufällige Kombination ganz verschiedener Abläufe handelt. Einzelne Teil-Prozesse und –Konstellationen lassen sich dann – möglicherweise – im o. a. Sinne modellieren; die gesamte Kombination des empirischen Einzelfalls indessen (in aller Regel) nicht.“

Hartmut Esser, Klaus G. Troitzsch: Einleitung: Probleme der Modellierung sozialer Prozesse. In: Hartmut Esser, Klaus G. Troitzsch: Modellierung sozialer Prozesse. Informationszentrum Sozialwissenschaften, Bonn 1991. ISBN 3-8206-0075-2. ISSN 0934-5469. S. 9-12.

1.) Im Jahre 1991 sind sich demnach geschworene Popperianer anscheinend immer noch nicht sicher, was „Historizismus“ eigentlich genau meint. Es liegt demnach der Verdacht sehr nahe, dass es sich hierbei eher um einen Gummibegriff und polemischen Kampfbegriff handelt als um eine methodologisch taugliche Kategorie.

2.) Die Historizismus-Begriff hatte sich zuvor insbesondere gegen die Erklärung gesamtgesellschaftlicher Entwicklung („Entwicklungsgesetze“; Paul Weisengrün: Die Entwicklungsgesetze der Menschheit. Eine socialphilosophische Studie. Verlag von Otto Wigand, Leipzig 1888.) gerichtet. Nun dürfen und können gesamtgesellschaftliche Prozesse anscheinend wissenschaftlich erklärt werden. Das ist ja gewissermaßen schon ein Fortschritt; wenn man dabei jedoch auch anmerken muss, dass dieser Gummibegriff sich scheinbar dazu eignet, bewegliche Ziele anzugreifen.

3.) Die Unklarheit des Begriffs hängt wohl auch damit zusammen, dass Popper nicht klar seine diesbezügliche Problemstellung umrissen hat, bzw. dabei offensichtlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte: 1. Eine methodologische Frage erörtern; 2. Den Marxismus wissenschaftlich erledigen, indem er ihm eine methodologische Todsünde nachweisen will. Nun ist eine Untersuchung, die beide Zielsetzungen von vornherein kombiniert, nicht mehr unbedingt ergebnisoffen. Argumente und Begriffe müssen sich also notfalls nach der Decke strecken. Dass dennoch Poppers Texte bis heute als „Klassiker“ gelten, beweist nichts weiter, als dass sie bis heute in der wissenschaftlichen Gemeinde einen Bedarf abdecken, und zwar nicht nach einer wissenschaftlich-kritischen Diskussion marxistischer Thesen, sondern nach deren Abhalfterung, d.h. nach dem Ersparnis eines dergleichen kritischen Bemühens. Erkennen lässt sich dies daran, dass Wissenschaftler, die Poppers Texte zitieren, in der Regel dessen Thesen nicht mehr weiter hinterfragen, sondern ihn lediglich dazu benutzen, um scheinbar wissenschaftlich legitimiert die betreffenden Fragen als schon erledigt abzuhaken. Helmut F. Spinner (Helmut F. Spinner, Popper und die Politik. Rekonstruktion und Kritik der Sozial-, Polit- und Geschichtsphilosophie des kritischen Rationalismus. I. Geschlossenheitsprobleme, Bonn 1978 ) hat in diesem Sinne von einem „Jedermanns-Popper“ gesprochen, welcher gerade in der Bundesrepublik eine ideologische Funktion erfüllt hat, zu gewissen Zeiten etwa gegenüber der Studentenbewegung oder innerhalb der SPD gegen aufmüpfige Jungsozialisten.

Poppers Sozialphilosophie, die man in ihrer Vulgärform „Popperizismus“ nennen könnte, bildet nicht nur keine Einheit mit Poppers methodologischer Konzeption (Fallibilismus, Theorienpluralismus, Aussagen sind empirisch, wenn sie durch Beobachtungen falsifiziert werden können), sondern stehen in ihrer populären Anwendungsweise in direktem Gegensatz dazu. Denn der Fallibilismus schließt keinerlei Problemstellungen oder theoretische Lösungsversuche a priori aus, sondern beurteilt sie erst hinterher, d.h. nach der kritischen Prüfung. Der Popperizismus geht jedoch von der Überzeugung aus, dass er präzise Kriterien vorzuweisen habe, wonach bestimmte Ansätze, Theoreme oder methodologische Verfahren von vornherein aus der Wissenschaft auszuschließen seien. Poppers „Demarkationsproblem“ wird im Popperizismus zu einer Ausgrenzungsmetawissenschaft. Daher dessen Beliebtheit beim Publikum. Wie der Popperizismus praktisch zu handhaben ist, hat Popper in seiner Polemik zu Marx und insbesondere Hegel selbst vorgeführt. Popperizismus ist also Poppers „Schattenmethodologie“, und es nimmt wenig wunder, dass Popperizisten Poppers Methodologie nicht zu kennen brauchen, um den Popperizismus einigermaßen getreu und rhetorisch geschickt zu handhaben.

4.) Da für den Popperizismus Popper als Vorbild und Autorität gilt, stellen sich Popperizisten auch nicht die Frage, ob Popper in seiner Marx- oder Hegel-Kritik überhaupt wissenschaftlich sauber gearbeitet hat. Also ob die wenigen Zitate oder Belegstellen, die er dabei beibringt, auch wirklich ordentlich nachweisbar sind und eine ausreichende Rekonstruktion der Problemstellungen und Lösungsansätze der kritisierten Autoren darstellen. Wenn Poppers „Historizismus-Kritik“ tatsächlich eine Marx-Widerlegung darstellen soll, ist nichts weniger gefragt; sogar mehr, sondern nicht nur Marx, sondern auch den Marxismus insgesamt will Popper widerlegt haben. Es genügt demnach nicht, die Widerlegung zu behaupten und von ihrem Erfolg persönlich überzeugt zu sein, sondern dieses Verfahren und sein Ergebnis auch einsichtig zu machen. Freilich gibt es recht viele Leute, die nur an dem Ergebnis interessiert sind, egal wie wissenschaftlich fragwürdig es zustande gekommen sei. Nur der polemische Erfolg eines Beststellers zählt hier; freilich entspricht dies nicht Poppers eigenem Kriterium von Wissenschaft.

Der Popperizismus übersieht auch, dass es sich bei „Dogmatismus“ oder „Pseudowissenschaft“ nicht um (logische) Eigenschaften von Aussagen handelt, sondern um die (pragmatische) Art und Weise, wie bestimmte Personen mit Aussagen (methodologisch) verfahren, also etwa ob sie dieselben mit kritischen Argumenten und Alternativen konfrontieren. Freilich mag es viele Hegelianer oder Marxisten geben, die häufig unkritisch verfahren. Dasselbe darf man freilich auch von den Popperizisten behaupten; denn genau damit sind sie hier definiert, was ihnen als unkritisch angekreidet wird.

5.) Essert/Troitzsch identifizieren also „Historizismus“ mit der Voraussage von Geschichte durch ein einziges Modell. Dies kommt wohl dem Verständnis Poppers von „Prophezeiung“ nahe oder der herkömmlichen Auffassung von Astrologie (vgl. Pierre bayle [Johann Christoph Gottsched (Übers.), Johann Christoph Faber (Hrsg.)]: Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist (= Reclams Universal-Bibliothek, Band 592). Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1975). Es gibt wohl kaum ein Politiker oder Leitartikler, der nicht diesem methodischen Fehler wenn nicht verfallen, so doch nahe gekommen ist. Zweifellos lassen sich auch beim politischen Journalisten und Leitartikler Marx derartige Belegstellen finden. Die Frage im Zusammenhang mit Poppers Marx-Widerlegung ist jedoch, ob Marxens wissenschaftliche Problemstellung, etwa im „Kapital“, sich auf eine derartige futurologische Problemstellung reduzieren lasse. Ist es nicht vielmehr so, dass Marx in der Fortführung von Ricardos Modellierungen, diese indes angereichert um eine dialektische sowie historisch-materialistische (politisch-ökonomische bzw. soziologische) Dimensionen, ein dynamisches Gesellschaftsmodell entwickelt hat, das explizit sich beruft auf eine Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten.

Mit anderen Worten: Marxens Darstellung beginnt eingestandenermaßen mit den Abstraktionsergebnissen (denen unverstandenerweise von Böhm-Bawerk etwa Apriorismus vorgeworfen wurde oder von Joan Robinson funktionsloser Dogmatismus bzw. „hegelian stuff and nonsense“) und bedarf einer zunehmenden Konkretisierung, um empirisch-historische Prozesse annähernd zu erfassen (man vgl. zur methodischen Herangehensweise sinnigerweise Siegwart Lindenberg: Die Methode der abnehmenden Abstraktion: Theoriegesteuerte Analyse und empirischer Gehalt. In: Hartmut Esser, Klaus G. Troitzsch: Modellierung sozialer Prozesse. Informationszentrum Sozialwissenschaften, Bonn 1991. ISBN 3-8206-0075-2. ISSN 0934-5469. S. 29-78. Anscheinend haben sich einige moderne Wissenschaftler dazu entschlossen, selbst von Marx zu lernen; wenn auch nicht immer Marx dabei als Quelle zitiert wird.)

Es ist damit aber zumindest dies offenkundig, dass hier von Prophezeiung nicht die Rede sein kann bzw. nur derjenige eine solche hier erblicken kann, der sich nicht davon befreien kann, in aus Modellen abgeleiteten Aussagen per se historische Voraussagen zu erblicken.

1 Kommentar:

  1. Why Experts Get the Future Wrong
    By KATHRYN SCHULZ
    Published: The New York Times, March 25, 2011

    http://www.nytimes.com/2011/03/27/books/review/book-review-future-babble-by-dan-gardner.html?_r=1

    AntwortenLöschen