Dienstag, 7. Juni 2011

Wir wissen nicht, was wir noch wissen werden


Ob praktisch brauchbare Prognosen faktisch möglich sind, ist eine Frage, die zusammen von empirischer Wissenschaft und technischer Praxis beantwortet werden muss. Methodologische Betrachtungen allein reichen zur Beantwortung dieser Frage nicht aus. Vor allem existiert kein gültiger logischer Beweis, dass bestimmte zukünftige Ereignisse, z.B. das Eintreten prognostizierter Resultate, nicht eintreten können. Genau dies hatte Karl Popper aber zu beweisen unternommen.
Otto Neurath hat die folgende grundlegende Grenze für Prognose darin gesehen:
"Prognostizieren, was Einstein für Berechnungen machen werde, hieße selbst Einstein sein. (...) Hier ist eine wesentliche Grenze aller soziologischen Prognosen gegeben. Es ist die Grenze der persönlichen Erfindungskraft gegenüber der Erfindungschance der jeweils beschriebenen Gruppe." (1)
Unter anderem dienten Max Horkheimer diese Ausführungen Neuraths als Angriffsfläche für seine Positivismuskritik.(2) Eben dasselbe Argument hat später Popper neuerdings systematisch ausgebaut:
„Mittlerweile ist es mir gelungen, eine strenge Widerlegung des Historizismus anzugeben: Ich habe gezeigt, dass es uns aus streng logischen Gründen unmöglich ist, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorherzusagen. (...) Mein Gedankengang lässt sich in den folgenden fünf Sätzen zusammenfassen:

(1) Der Ablauf der menschlichen Geschichte wird durch das Anwachsen des menschlichen Wissens stark beeinflusst. (...)

(2) Wir kön¬nen mit rational-wissenschaftlichen Methoden das zukünftige Anwachsen unse¬rer wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht vorhersagen. (...)

(3) Daher können wir den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte nicht vorhersagen.

(4) Das heißt, dass wir die Möglichkeit einer theoretischen Geschichts¬wissen-schaft verneinen müssen, also die Möglichkeit einer historischen Sozialwissenschaft, die der theoretischen Physik oder der Astronomie des Sonnensystems entsprechen würde. Eine wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Entwicklung als Grundlage historischer Prognosen ist unmöglich.

(5) Das Hauptziel der historizistischen Methoden (...) ist daher falsch gewählt und damit ist der Historizismus widerlegt." (3)
Hiermit vertritt Popper die These, dass die Zukunft neues menschliches Wissen bringen wird, das die bisher bekannten Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung hinfällig machen wird. Unseren zukünftigen Wissensstand können aber heute nicht voraussagen, weil er dann schon heute zu unserem Wissensbestand rechnen würde. Dabei überschreitet Popper jedoch das Gebiet logischen Analysierens und Beweisens und sucht, eine empirische Frage durch den ausschließlichen Einsatz logischer Mittel zu lösen bzw. als empirisch beantwortbare zu beseitigen.

Dieses Argument setzt nämlich voraus, dass Wissen von Wissen immer total, 100%-ig identisch sein muss.(3) Nur in dieser trivialisierenden Interpretation (4) ist Prämisse (2) logischerweise wahr. Doch kein Historizist hat je behauptet, dass wir heute schon wissen, was wir erst morgen wissen werden, noch ist es denknotwendig, über dieses Wissen insgesamt zu verfügen, um brauchbare Prognosen über wissensmäßig beeinflusste zukünftige Entwicklungen abgeben zu können. Unser Wissen über das zukünftige Wissen der Menschheit muss keinesfalls total sein, um Prognosen zu ermöglichen. Eine Prognose muss nicht die logische Identität oder Informationsgleichheit von Aussagenmengen voraussetzen, um partielle Beschreibungen zukünftig möglicher Erkenntnisleistungen zu erlauben. Auch hier gilt, dass nicht die konkret-reale Totalität der Weltgeschichte prognostiziert, sondern nur theoretisch selektierte Trends wissenschaftlicher Analyse zugänglich gemacht werden sollen.

Wie bei Problemstellung (c) liegt hier ebenfalls ein Fehlschluss der misplaced concreteness (6) vor; denn Wissens¬be¬stände werden behandelt, als ob sie durch eine einzige abstrakte Beschreibung hinreichend gekennzeichnet seien und keine andere Aussagen darüber hinaus mehr möglich seien. Dies ist jedoch mit Sicherheit abwegig. Wenn sich über zukünftige Leistungen der Wissenschaft keine praktisch brauchbaren Voraussagen treffen ließen, so wäre bereits ein jeder Forschungsantrag nur vertane Liebesmüh. Es ist hier grundsätzlich zwischen "Wissen" als einem kognitiv-psychischen Tatbestand einerseits und andererseits den verschiedenen Möglichkeiten zu unterscheiden, derlei Wissensbestände zu beschreiben. Was im Hinblick auf eine bestimmte Art, Wissen zu beschreiben, bewiesen werden kann, gilt nicht für alle Wissens-Tatbestände schlechthin. Popper ist bei seinem "Beweis" unmerklich von Logik zu Psychologie hinüber- und herübergewechselt, was die Schlüssigkeit seiner Argumentation zerstört.

Über die Frage der mehr oder weniger vollständigen oder konkreten Beschreibung eines Wissensbestandes hinaus stellt sich insbesondere für den Fallibilisten Popper die Frage, inwieweit ein derart substanzieller Wissensbegriff (7) in Übereinstimmung gebracht werden könne mit demjenigen seiner Wissenschaftslogik, handele es sich nun um „Wissen" als ein System falsifizierbarer oder empirisch bewährter Aussagen. Es ist noch nicht einmal völlig ausgeschlossen, dass es sich hierbei auch um kontradiktorische Aussagensysteme handelt. Wie dem auch sei, Popper vermochte kein praktikables Verfahren angeben, wie ein so verstandenes Wissen in seinem Informationsgehalt exakt zu messen, kaum wie es zu vergleichen sei:
„... although the measure functions of content, truth content and falsity content are in principle comparable (because probabilities are in principle comparable) we have in general no means to com¬pare them other than by way of comparing the unmeasured contents of competing theories, possibly just intuitively." (8)
Hinzu kommt, dass Popper im Lichte seiner 3-Welten-Theorie auch noch zwischen subjektivem und objektivem Wissen unterscheidet. So ergibt sich, dass die geradezu triviale Überzeugungskraft seiner Argumentation nur oberflächlich bestechen kann, da sie letztlich auf einer Konfusion zwischen logischer und empirischer Analyse sowie zwischen subjektivem und objektivem Wissen beruht:
„If there is growth of knowledge in this sense, then it cannot be predictable by scientific means. For he who could so predict today by scientific means our discoveries of tomorrow could make them today; which would mean that there would be an end to the growth of knowledge." (9)
Es ist frappierend, wie Popper alle die wichtigen Begriffsunterscheidungen im Hinblick auf „Wissen", die er selbst so gewinnbringend geltend gemacht hat, bei seinem „Beweis" einfach über Bord wirft oder zumindest ignoriert.(10) Die Frage, inwieweit Popper in seinen persönlichen Ansichten über Wissen konsistent ist, ist hier allerdings uninteressant. Wichtiger ist, dass dieses ein fundamentaleres Problem zu signalisieren scheint: Es ist eines, „Wissen" so zu fassen, dass es für einen logischen Beweis adäquat ist; etwas anderes, mit demselben Begriff vollständig alle möglichen Begriffsvarianten von „Wissen" abzudecken, die in relevanten empirischen Prognosen vorkommen mögen. Wie soll der Beweislogiker im Voraus wissen, welche empirisch relevanten „Wissen"-Begriffe noch alle erfunden werden mögen? M. a. W.: Der Versuch, eine empirische Fragestellung durch einen logischen Beweis abzuschneiden, scheitert schon daran, dass dem Logiker nicht a priori alle denkbaren Bedeutungen empirischer Begriffe zur Verfügung stehen.
Vielleicht sind über bestimmte Aspekte der zukünftigen Entwicklung eines so verstandenen Wissens falsifizierbare Prognosen möglich, die sich evtl. sogar bewähren. Logisch unmöglich erscheint vielmehr der Beweis seiner Nichtprognistizierbarkeit, weil es sich hier grundsätzlich um empirisch kontingente Zusammenhänge handelt. Vielmehr ist Poppers These der „unpredictability in principle" (11) sogar selbstwidersprüchlich, weil diese eine Prognose darstellt, die ihre eigene Nichtprognostizierbarkeit behauptet. Im Grunde hat sich Popper mit diesem Beweis in dieselbe Grube manövriert, in die Bacon saß:(12) Eine Entdeckung muss zufällig sein, sonst kann sie keine Entdeckung sein, ging des letzteren Argument. Und ebenso nun Popper: Neues Wissen kann nicht vorausgesagt werden, sonst ist es nicht neu. Man kann aber nur etwas finden, was man (zumindest so ungefähr) gesucht hat. Einem völlig unvorbereiteten Geiste wird überhaupt niemals was Neues zustoßen, schon weil dieser den Unterschied zwischen Alt und Neu nicht kennt.

Wie es sich für einen echten Fallibilisten gehört, liefert Popper auch selbst noch ein Gegenargument:
„Widerlegt ist nur die Möglichkeit der Vorhersage geschichtlicher Entwicklungen, insofern diese durch das Anwachsen unseres Wissens beeinflusst werden können." (13)
Wie auch Werner Habermehl feststellt, ist schon damit die Beweiskette von der Prognose des Wissensfortschritts hin zum gesamten Geschichtsablauf abgerissen:
„... um die Unmöglichkeit einer theoretischen Geschichtswissenschaft beweisen zu können, genügt es nicht, wenn wir zu zeigen vermögen, dass wir den zukünftigen Verlauf der Geschichte, soweit er durch das Wachstum unseres Wissens beeinflusst wird, nicht vorhersagen können. Wir müssten vielmehr entweder dartun können, dass es unmöglich ist, den zukünftigen Verlauf der Geschichte vorherzusagen, unabhängig davon, ob er vom Wachstum unseres Wissens beeinflusst wird oder nicht, oder, dass alle geschichtlichen Abläufe dem Einfluss unseres Wissens unterliegen." (14)

Anmerkungen

(1) Otto Neurath: Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und Nationalökonomie, Wien 1931. S. 129f.
(2) Hans-Joachim Dahms: Positivismusstreit. Die Auseinandersetzung der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus. Frankfurt 1994 . S. 101.
(3) Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 6. Aufl. 1987 (zuerst: 1957). S. XIf.
(4) „Als ich ihn dann fragte, woher es komme, daß auf diese Weise doch oft Künftiges richtig vorausgesagt werde, antwortete er, so gut er konnte, das bringe wohl das Ahnungsvermögen so mit sich, das überall in der Natur anzutreffen sei. Geschehe es doch oft, daß jemand, der Rat suche, das Buch eines Dichters aufschlage, der ganz etwas anderes singe und sage, und ihm dann doch ein Vers in die Augenspringe, der wunderbar zu seinem Anliegen stimme.“ (Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme. Editions Rencontre, Lausanne Köln 1970. S. 92.)
(5) Werner Habermehl: Historizismus und Kritischer Rationalismus. Einwände gegen Poppers Kritik an Comte, Marx und Platon. Freiburg München 1980. S. 56ff.
(6) The Whiteheadian fallacy of misplaced concreteness: „the fallacy of assuming that the particular concepts we employ to examine the flow of events capture their entire content." (Robert K. Merton, (ed. and with an Introduction by Norman W. Storer): The Sociology of Science. Theoretical and Empirical Investigations. Chicago London 1973. S. 131.)
(7) Popper (Objective Knowledge. An Evolutionary Approach. Oxford 1973 (zuerst: 1972) S. 62.) kennzeichnet damit gerade eine der Grundthesen der irreführenden common sense theory of knowledge (Locke, Berkeley, Hume): „Knowledge is conceived of as consisting of things, or thing-like entities in our bucket ..." Dieser empiristische Wissensbegriff spielt auch im Zusammenhang von Hume Induktivismuskritik eine maßgebliche Rolle: "Der unendliche Regress ('Induktionsregress') präzisiert Humes Argument gegen die Zulässigkeit der Induktion. Er besagt, dass der reine Induktionsschluss sich logisch nicht rechtfertigen lässt, dass aus besonderen Beobachtungen niemals allgemeine Sätze abgeleitet werden können, kurz, er besagt etwas (mindestens für jeden Empiristen) ganz Selbstverständliches: dass man nicht mehr wissen kann, als man weiß." "Klarer formuliert: dass man nicht mehr weiß, als man weiß." (Karl R. Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930-1933. Tübingen 2. verbess. Auflage 1994. S. 39. Anm.*11) Aber wir wissen ständig mehr, als wir wissen, d.h. als uns bewusst ist. Schon dadurch, dass unsere Wissenselemente untereinander verknüpft sind und immer schon auf andere verweisen, die nicht aktuell in unserem Kurzzeitgedächtnis verfügbar sind, ist unser Wissen potentiell unendlich (was von Allwissenheit zu unterscheiden ist).
(8) Karl R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Approach. Oxford 1973 (zuerst: 1972). S. 52, Anm. 29.
(9) Karl R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Approach. Oxford 1973 (zuerst: 1972). S. 298.
(10) Was gewissermaßen auch verständlich ist: einmal diese Begriffskomplikationen zugegeben, sinkt die Plausibilität des Beweises bzw. schon eines Beweisversuchs rasch gegen Null.
(11) Karl R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Approach. Oxford 1973 (zuerst: 1972). S. 298.
(12) Joseph Agassi: Science in Flux, Dordrecht Boston 1975. S. 76.
(13) Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 6. Aufl. 1987 (zuerst: 1957). S. XII.
(14) Werner Habermehl: Historizismus und Kritischer Rationalismus. Einwände gegen Poppers Kritik an Comte, Marx und Platon. Freiburg München 1980. S. 25.

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