Freitag, 19. Dezember 2008

Methodologischer Individualismus

Methodologischer Individualismus bezeichnet innerhalb der Sozialwissenschaften nichts weiter als die Methode, bei der Beschreibung und Erklärung sozialer Vorgänge vom Handeln der einzelnen daran beteiligten Personen auszugehen.


Dieser Begriff wurde von Joseph Schumpeter (Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie. 2. Aufl. Berlin 1970, S. 90f.) genau so eingeführt, und es spricht etliches dafür, es bei seiner Begriffsbestimmung so zu belassen.

Denn diese hat eine klare Zielsetzung: Hiermit wollte Schumpeter die heillosen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kontroversen umgehen, welche nichts direkt mit der Methode einer Beschreibung/Erklärung von wirtschaftlichen Vorgängen zu tun haben. Und somit das Feld frei machen für eine theoretische oder "reine" Ökonomie.

Diese Begriffsbildung ist also ausdrücklich gegen Werturteile in der empirischen Wissenschaft gerichtet sowie gegen Metaphysik/Philosophie in der Erfahrungswissenschaft. Beispiele gibt es zuhauf: Laissez faire Liberalismus, Individualismus, Atomismus, "Kathedersozialismus". Alles mögliche, was sich in dem deutschen "Methodenstreit" und "Werturteilsstreit" an Positionen so herumtrieb.

Wenn man so will, zeigt Schumpeter hiermit sich als Vorkämpfer für reine, exakte Wissenschaft und beweist eine fachspezifisch bornierte, positivistische Tendenz. Wenn man diese Position nicht überzieht und verabsolutiert, kann sie uns über die Präzisierung der Problemstellung durchaus weiter bringen.

Genau das ist aber in der Folge wieder eingetreten, was Schumpeter unbedingt verhütet wissen wollte: MI wurde genau wieder zu einer wissenschaftstheoretischen, gesellschaftspolitischen und (sozial-)philosophischen Position ausgebaut. Ungeachtet des Zusatzes "methdologischer ..." sind die alten Kontroversen auch mit der neuen Begriffsfassung flugs wiederum aufgeflammt. Und man muss sich fragen, was der wissenschaftlichen Frage damit geholfen ist. Denn die alten Unklarheiten sind damit auch wieder aufgetaucht, bzw. werden aufs Neue potenziert. Da es sich ja vordergründig zumindest nur um eine Frage der Methodologie handeln soll, ist gar nicht einzusehen, auf welche Weise diese methodologische Option mit Philosophie oder Politik zusammenhängen soll. Zumindest dürfte dies nicht eine so einfache Beziehung sein, wie das häufig in der hitzig geführten ideologischen Debatte einfach so unterstellt wird. Jedenfalls ist der so leicht gewonnene Vorteil der Einschränkung auf eine unschuldige methodologische Wahlentscheidung schnell wieder verspielt worden.

In Artikel der Stanford Enyzklopädie wird der Begriff "MI" Max Weber (Wirtschaft und Gesellschaft) zugeschrieben. Webers Soziologie geht jedoch vom sozialen Handeln aus; Schumpeter jedoch gründet das System der reinen Ökonomie auf ein Set mathematischer Funktionen, welche eine Art "Güterastronomie" darstellen. Menschliches Handeln kommt hierbei direkt nicht vor (vgl. die Kritik des Modellplatonismus innerhalb der Ökonomie durch Hans Alberts "Marktsoziologie").

Es macht wenig Sinn, Schumpeters Begriff MI mit Webers Position zu identifizieren. Etwa nur weil Max Weber für Soziologen vielleicht die größere Autorität bzw. bekannter wäre?! Einen ähnlichen Trick beschrieb schon Aulus Gellius: "Spätere Schriftsteller und Schwindler bringen zahlreiche unsinnige und anmaßende Erfindungen unter dem Namen eines so edlen Philosophen wie Democritus ans Licht, um Glaubwürdigkeit und hierdurch größeren Respekt zu erlangen." (zit. nach Robert K. Merton: Auf den Schultern von Riesen. Frankfurt/Main 1983, stw 426, S. 16)

Denn hat MI innerhalb Schumpeters Methodologie einen genau umrissene Funktion, so kann man das bei Positionen, die MI mit Max Weber, Hayek, Popper oder Rational Choice identifizieren, nicht behaupten.

So etwa die Kritik Schumpeters an der immer noch beliebten Sitte, einem wissenschaftlichen Werk umfangreiche Erörterungen über Grundbegriffe und Methoden voranzustellen, die aber für die eigentliche Abhandlung genau genommen funktionslos sind, oder sogar in Diskrepanz dazu stehen. Hans Albert sprach hier von der Diskrepanz zwischen deklarierter und praktizierter Methodologie.

Manche Wissenschaftler kommen vor lauter methodologischen Voruntersuchungen nie zum Anfang ihrer empirisch-theoretischen Analyse. So etwa ist auch die Entstehung von Poppers "Logik der Forschung" zu begreifen. Denn im Grunde hat Popper eine psychologische Lerntheorie, die er aber aus wohl mehr zufälligen Gründen heraus unter einer logischen Darstellung zu maskieren zu müssen glaubte (vgl. John R. Wettersten, The Roots of Critical Rationalism, Amsterdam Atlanta, GA 1992).

Andererseits hat man indes ebenso das kuriose Schauspiel, dass Schumpeter, der gerade selber ein bedeutendes Werk der ökonomischen Methodologie verfasst, noch in demselben Methodologie immer wieder polemisch abwertet und der "eigentlichen" Arbeit an fachökonomischen Problemen durchaus den Vorzug einräumt. Eine Frage der persönlichen Vorliebe, eine Frage des akademischen Prestiges,..?

Montag, 1. Dezember 2008

Ein Hoch auf die Rettungs- und Konjunkturpakete!

"Die Verschuldung des Staats war vielmehr das direkte Interesse der durch die Kammern herrschenden und gesetzgebenden Bourgeoisfraktion. Das Staatsdefizit, es war eben der eigentliche Gegenstand ihrer Spekulation und die Hauptquelle ihrer Bereicherung. Nach jedem Jahr ein neues Defizit. Nach dem Verlaufe von vier bis fünf Jahren eine neue Anleihe. Und jede Anleihe bot der Finanzaristokratie neue Gelegenheit, den künstlich in der Schwebe des Bankerotts gehaltenen Staat zu prellen - er mußte unter den ungünstigsten Bedingungen mit den Bankiers kontrahieren. Jede neue Anleihe gab eine zweite Gelegenheit, das Publikum, das seine Kapitalien in Staatsrenten angelegt, durch Börsenoperationen zu plündern, in deren Geheimnis Regierung und Kammermajorität eingeweiht waren. Überhaupt bot der schwankende Stand des Staatskredits und der Besitz der Staatsgeheimnisse den Bankiers wie ihren Affiliierten in den Kammern und auf dem Throne die Möglichkeit, außerordentliche, plötzliche Schwankungen im Kurse der Staatspapiere hervorzurufen, deren stetes Resultat der Ruin einer Masse kleinerer Kapitalisten sein mußte und die fabelhaft schnelle Bereicherung der großen Spieler."

(Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, Marx/Engels, Ausgewählte Schriften Bd. I, Berlin 1968, S. 129)

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Verhältnissen sind natürlich rein zufällig und völlig unbeabsichtigt.
Wie Friedrich Engels 1895 in seinem Vorwort erklärte, war diese Arbeit Marxens "erster Versuch, ein Stück Zeitgeschichte vermittelst seiner materialistischen Auffassungsweise aus der gegebenen ökonomischen Lage zu erklären". (S. 109)

Wie man sieht, Ökonomie ist zwar nicht alles. Aber man kann damit ziemlich weit in der Erklärung von Geschichte kommen.

Zum Beispiel dies wunderbare Exempel der Finanzsoziologie, dass Staatsschulden nicht nur alle arm machen können - das immerwährende Klagelied des deutschen Finanzministers -, sondern dass es immer auch einige gibt, die dadurch immer noch reicher werden.

Rudolf Goldscheid dann suchte aus der finanziellen Bedingtheit den notwendigen Charakter des Staates erkennen zu können und wollte durch seine "Finanzsoziologie" das "schroffe Mißverhältnis zwischen dem unausgesetzt wachsenden Machtapparat des Staates und der durch seine Besitzlosigkeit verursachten wirtschaftlichen Ohnmacht" näher bestimmen. (S. 41)

(Rudolf Goldscheid/Joseph Schumpeter: Die Finanzkrise des Steuerstaats. Beiträge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen. Hrg. von Rudolf Hickel. (es 698), Frankfurt 1. Aufl. 1976)

Eigentlich sind ja Staatsschulden Schulden, die der Steuerzahler sich selbst gegenüber schuldet.

"Should the government have a permanent policy of running large budget deficits? Of course not. Although public debt isn’t as bad a thing as many people believe — it’s basically money we owe to ourselves — in the long run the government, like private individuals, has to match its spending to its income."
Paul Krugman: Deficits and the Future, New York Times 1.12.2008

Aber gegenwärtig ist genau der richtige Zeitpunkt, von der Sparpolitik Abstand zu nehmen. Sie mag in normalen Zeiten vernünftig sein, ist aber tödlicher Wahnsinn in Krisenzeiten ("Depression Economics").

"Es besteht kein Konflikt zwischen der Haushaltssanierung und einer aktiven Konjunkturpolitik. Wenn die Regierung nichts tut und die Konjunktur wegbricht, ist die Haushaltssanierung auch erledigt. Der Finanzminister kann wählen:
Entweder er nimmt den Konjunktureinbruch hin und bekommt am Ende eine hohe Arbeitslosigkeit und hohe Defizite. Oder er nimmt Geld in die Hand und versucht, den Konjunktureinbruch so kurz wie möglich zu halten, um dann im Konjunkturhoch - wie geschehen - den Haushalt zu sanieren." (Gustav Horn)


"Auch die Regierungen haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Sie wissen, dass es falsch und gefährlich wäre, in einem starken wirtschaftlichen Abschwung eine restriktive Finanzpolitik zu betreiben." (Sachverständigen Gutachten 2008)

Wer wie die deutschen Wirtschaftsweisen gewohnt ist, Soll-Erwartungen in Ist-Sätzen zu formulieren, darf so seine Hoffnungen - oder insgeheimes Wunschdenken - öffentlich preisgeben.

Wie dem auch sei, eines ist gewiss: Ohne Hoffnung geht die Welt(wirtschaft) zu Grunde!

Risikogesellschaft

"Die globale Rezession, die derzeit im Gange ist, ist nicht allein das Ergebnis einer Finanzpanik, sondern auch einer grundlegenderen Verunsicherung über die zukünftige Richtung der Weltwirtschaft. Die Verbraucher sehen nicht nur deshalb von Eigenheim- und Autokäufen ab, weil ihnen fallende Aktienkurse und Häuserpreise Vermögensverluste beschert haben, sondern weil sie nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen."
(Eine nachhaltige Erholung, by Jeffrey D. Sachs)

Keiner weiß mehr, wo es lang geht. Weil der Staat versäumt, die Richtung anzugeben. Also hält sich jeder damit zurück, sich mit längerfristigen Investitionenan eine bestimmte Zukunft zu binden. Vollkommen rational, natürlich, diese Aversion gegenüber dem Risiko.

Unsicherheit über die Konjunkturentwicklung oder über technologische Trends in Zusammenhang mit der Frage, welche Innovationen sich am Markt durchsetzen werden, sind altbekannte Fragen der Planbarkeit der Zukunft, die auf das Problem der Kapital- (und Investitions)rechnung und der nach Max Weber hinreichend bekannten "Rationalität" des abendländischen Kapitalismus und seines berüchtigten kapitalistischen Geistes verweisen, der ja angeblich letztes Endprodukt und Weltexportschlager des Protestantismus sein soll.

Doch schon Galbraith hatte darauf hingewiesen, dass Risiken etwas sind, mit denen Unternehmer zwar gerne prahlen, aber mit Vorliebe andere tragen lassen. Neuestes publikes Beispiel dürfte hier wieder die Deutsche Bank sein, die es wunderbar verstanden hat, ihre Risiken anderen Marktteilnehmern unterzujubeln.

Die modernen Risiken liegen nicht mehr in der Unbeherrschbarkeit der Natur, sondern in den von Menschen selbst geschaffenen Risiken, durch Technik, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur.
(Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. (es 1365) Frankfurt 1. Auflage 1986, S. 300)

Während in der Industriegesellschaft die Produktion des Reichtums die Risikoproduktion dominierte, dominiert in der Risikogesellschaft die Logik der Risikoproduktion die Logik der Reichtumsproduktion. (Beck, S. 17)

Gehe es um die Produktion von Sicherheit oder um die Vergesellschaftung von Risikovor- und nachsorgekosten, kein Weg dürfte daran vorbeiführen, dass der Staat hierbei eine entscheidende Rolle zu übernehmen hat - sei er nun demokratisch kontrolliert oder ein durch eine Minderheit ("Machtelite") kontrollierter Faschismusverschnitt.

Und mögen neoliberale Ökonomen noch so oft ihren modellplatonischen Nachweis führen, dass eine zentrale Planwirtschaft undenkbar ist - in der politischen Praxis haben sich Wirtschaft und Politik - trotz Scheitern des Sowjetkommunismus - eher in eine Richtung entwickelt, die auch Schumpeter schon als unvermeidlich bezeichnet hatte. Die "Kommandohöhen der Wirtschaft" kann nur der Staat besetzen.

Oder zum Schaden aller verwaisen lassen. Dann könnte man wohl die unheilbar zerrüttete Ehe von multinationalen Konzernen und entmachteten Nationalstaaten noch als einen Anarchismus großen Stils ansehen.